San Salvador. Die Verhaftungswelle in dem seit Ende März andauernden Ausnahmezustand in El Salvador geht weiter. Mittlerweile sind nach offiziellen Angaben fast 30.000 Menschen verhaftet worden, was die bereits stark überbelegten Gefängnisse des Landes an die Belastungsgrenze bringt. Die Zahl der landesweiten Insassen stieg während der Zeit des Ausnahmezustandes um über 70 Prozent an.
Das Sicherheitsministerium bestätigte vergangene Woche in diesem Zusammenhang bereits elf Todesfälle in Haft. Zu den Todesursachen machte es keine näheren Angaben. Eine Mitarbeiterin der Generalstaatsanwaltschaft offenbarte gegenüber einem unabhängigen Medienkollektiv, dass es im Rahmen der "Sicherheitskampagne" bisweilen zu Massenanhörungen mit mehr als 100 Gefangenen vor Gericht käme.
Berichte über mutmaßlich ungerechtfertigte Verhaftungen, Misshandlungen und andere Menschenrechtsverletzungen häufen sich. Organisationen wie Cristosal und Human Rights Watch belegen verschiedene Übergriffe von Polizei und Militär wie willkürliche Festnahmen, kurzzeitiges Verschwindenlassen und ungeklärte Todesfälle in Haft. Besondere Aufmerksamkeit zog ein Fall auf sich, bei dem eine junge Frau verhaftet wurde, als sich ihr Baby im Krankenhaus befand. Es verstarb zwei Wochen später, ohne dass der Mutter Zugang zu ihrem Kind gewährt wurde. Selbst die Teilnahme an der Beerdigung wurde ihr untersagt.
Auch kritische Organisationen der Zivilgesellschaft geraten zunehmend unter Druck. Die Gewerkschaft der Gemeinde Cuscatancinco, SITRAMUC, zeigte die Festnahme ihrer Generalsekretärin an. Zudem wurde ein Mitglied der Vereinigung der Veteraninnen des salvadorianischen Bürgerkriegs (Asociación de Mujeres Veteranas de la Guerra Civil de El Salvador) in der Stadt Nejapa verhaftet.
Die Menschenrechtsorganisationen Cristosal, FESPAD, SSPAS, AZO und Idhuca berichten von 338 Anzeigen wegen Menschenrechtsverletzungen während der ersten Phase des Ausnahmezustandes im Monat April.
Derweil ist die Zahl der salvadorianischen Asylsuchenden in den USA in den letzten sechs Monaten um 70 Prozent gestiegen. Mit einer Eilaktion forderte Amnesty International die Regierung El Salvadors vergangene Woche auf, "alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Menschenrechtsverletzungen, die im Rahmen des Notstandsregimes stattfinden, sofort zu beenden und Strategien für die öffentliche Sicherheit zu entwickeln, die die Grundrechte garantieren." Die Antwort von Präsident Nayib Bukele lautete: "Wir machen weiter". Amnesty kündigte daraufhin ein formales Gesprächsangebot an die Regierung an.
Attacken auf Medienvertreter:innen nehmen ebenfalls zu. Sicherheitsminister Gustavo Villatoro nahm öffentlich die etablierten Tageszeitungen El Diario de Hoy und La Prensa Gráfica ins Visier. Auf Twitter schrieb er: "Es gibt Medien, die behaupten zu informieren, aber was sie in Wirklichkeit machen ist, die Interessen von kriminellen Strukturen zu schützen." Kritisch berichtende Medien würden "Informationen verfälschen" und befänden sich "auf Seiten der Terroristen und ihrer Verbündeten von der Opposition".
Am Samstag rief Kardinal Gregorio Rosa Chávez in einer Messe zu Dialog und Toleranz auf. "Wir leben in einem Land mit viel Hass, Rachgier und Ressentiments." Beobachter:innen ziehen Vergleiche zwischen dem kritischen Kirchenvertreter und dem ehemaligen Erzbischof Óscar Romero. Als einer von wenigen Geistlichen stellte er sich Ende der 1970er-Jahre gegen die Militärdiktatur. 1980 wurde Romero vom salvadorianischen Geheimdienst ermordet.
Der regierungsnahe Parlamentsabgeordnete Carlos Hermann Bruch kommentierte den Satz von Kardinal Rosa Chávez so: "Er und der Rest der Religionssöldner haben viel Schaden angerichtet. [El Salvador] braucht sie nicht mehr". Vergangene Woche wurde bereits mit dem Laienpriester und Missionar der anglikanischen Episkopalkirche, Nelson Ruíz Hernández, ein Geistlicher ohne Angabe von Gründen im Departamento Santa Ana von der Polizei verhaftet.
Am Sonntag begingen die Menschen in den umliegenden Gemeinden gemeinsam den 42. Jahrestag des Massakers vom Río Sumpul, bei dem Streitkräfte circa 600 wehrlose Menschen ermordet haben. Sie fordern von der Regierung Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung, wozu auch die Öffnung der Militärarchive zur Ermittlung der Verantwortlichen für das Massaker gehört. Zudem verlangen sie, dass die Regierung damit aufhört, die Täter für dieses Verbrechen zu schützen.