Streit um Agrarreform und Zugang zu Land in Kolumbien

Kleinbäuerliche Organisationen besetzen Ländereien in mehreren Departamentos. Regierung verweist auf Reformpläne und bittet um Geduld. Unternehmer fordern Wahrung ihrer "Eigentumsrechte"

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Eines der besetzten Grundstücke im Departamento Huila, von den Besetzer:innen in "Gustavo Petro-Siedlung" umbenannt
Eines der besetzten Grundstücke im Departamento Huila, von den Besetzer:innen in "Gustavo Petro-Siedlung" umbenannt

Bogotá. Die Regierung von Präsident Gustavo Petro will offenbar vorerst davon absehen, die in acht kolumbianischen Departamentos besetzten Ländereien zu räumen, obwohl die von ihr gesetzte Frist von 48 Stunden bereits verstrichen ist.

Organisationen wie die Nationale Koordination für den Agrarsektor (CNA) hatten die Regierung davor gewarnt, dass dabei das Risiko von Menschenrechtsverletzungen bestehe. Zuvor war es bei der Räumung eines Grundstücks in der Gemeinde Carloto im Departamento Cauca durch die Sondereinheit der Polizei, Esmad, zu Zusammenstößen mit den anwesenden indigenen Familien gekommen. Die Esmad soll dabei Tränengas und Schusswaffen eingesetzt haben.

Nach den ersten Landnahmen hatte Vizepräsidentin Francía Márquez am 30. August erklärt, die Regierung lehne diese ab und akzeptiere sie nicht. Die Besetzer:innen, "die heute gewaltsam oder unangemessen in Privatgrundstücke im ganzen Land eindringen" forderte sie auf, "diese Praxis zu unterlassen". Sie verwies auf die bereits ausgearbeitete Landreform, die dem Kongress vorgelegt werde sowie auf die zugesagten Landzuteilungen. Zugleich setzte sie eine Frist von 48 Stunden, um die Grundstücke zu verlassen.

Die Nationale Kleinbauernvereinigung José A. Galán Zorro forderte daraufhin die Regierung auf, "eine Agrarreform voranzutreiben, um die strukturellen Probleme des ländlichen Raums zu lösen". Zugleich betonte die Organisation, die Rückgewinnung von Land durch indigene, afro- und kleinbäuerliche Gemeinschaften sei Teil eines historischen Kampfes für eine Landreform und dürfe nicht kriminalisiert werden.

Vertreter:innen der Handels- und Geschäftskammer fordern indes die Regierung auf, ihre Eigentumsrechte und die Rechtsstaatlichkeit zu wahren.

An den Besetzungen beteiligen sich vor allem indigene Gemeinschaften, die im Norden des Cauca angestammtes Gebiet zurückfordern und mehr Ländereien für die landwirtschaftliche Nutzung verlangen, um ihre Ernährung zu sichern. Außerdem afrokolumbianische und kleinbäuerliche Gruppen. Diese Basisorganisationen haben sich stark bei den Streiks der vergangenen Jahre engagiert und zum Wahlsieg des "Pacto Histórico" beigetragen.

Die Situation ist schwierig für die Regierung Petro, da sie eine Land- und Agrarreform zu einem zentralen Thema des Wahlkampfes gemacht hatte. Verschiedene Expert:innen gehen davon aus, dass die Erwartungen an die seit etwa einem Monat amtierende Regierung eine Zunahme der Besetzungen ausgelöst haben. Diese verweist jedoch auf ihre geplante Reform und bittet die Besetzer:innen um Geduld.

Die Strategie der Regierung soll an mehreren Punkten ansetzen: Benachteiligten Gruppen soll Zugang zu Landtiteln ermöglicht, konfisziertes Land aus dem Drogenhandel verteilt und die Grundsteuer für Grundbesitzer:innen mit einer hohen Hektarzahl erhöht werden. Letzteres soll vor allem dann der Fall sein, wenn das Land nicht produktiv genutzt wird, so Landwirtschaftsministerin Cecilia López.

Während Enteignungen von der Regierung mit Verweis auf die Verfassung abgelehnt werden, spricht López auch die Möglichkeit eines Verkaufs von solchem Land an den Staat an. Sie zielt damit vor allem auf die Viehwirtschaft ab, wo teilweise weniger als eine Kuh pro Hektar gehalten wird. Dem widersprach der Präsident des kolumbianischen Viehzüchterverbandes, José Félix Lafaurie. Er behauptete, dass dieses Land häufig so unfruchtbar sei, dass eine höhere Produktivität nicht möglich wäre.

Teil der Strategie der Regierung ist auch ein neues Kataster, da für knapp über die Hälfte des Landes nur veraltete Informationen vorliegen.

Außerdem sollen die zahlreichen Importe im Agrarbereich durch eine erhöhte heimische Produktion ersetzt werden. Im Moment importiert Kolumbien rund 13,8 Millionen Tonnen Agrarprodukte, vor allem Soja und Futtermittel, bei 73 Millionen Tonnen inländischer Produktion.

Schließlich ist eine Förderung der ländlichen Entwicklung geplant, wo es oftmals keine Schulen gibt, die gesamte Infrastruktur marode oder kaum existent ist und Landwirt:innen in vielen Fällen keinen Zugang zu Krediten oder Maschinen haben.

Der Landkonflikt spielt eine zentrale Rolle in Kolumbiens Gegenwart und Vergangenheit. Weniger als ein halbes Prozent der Bevölkerung besitzt fast die Hälfte der ländlichen Flächen.

Die ungleiche Landverteilung geht auf die Zeit der Eroberung Kolumbiens zurück, als gewaltige Mengen an Land in den Händen einiger oligarchischer Familien konzentriert wurden. Spätestens im 19. Jahrhundert entwickelte dieses soziale Problem eine enorme Sprengkraft. Der Landkonflikt war Auslöser von neun Bürgerkriegen im vorletzten Jahrhundert und blieb seitdem ein ständiger Krisenherd.

Er führte auch zu dem 60 Jahre andauernden bewaffneten Konflikt zwischen den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens - Volksarmee (Farc-EP) und dem Staat. Der Konflikt ist so entscheidend, dass im Friedensabkommen, das die damalige Regierung von Präsident Juan Manuel Santos 2016 mit den Farc schloss, unter Punkt 1 eine "integrale, umfassende Landreform" festgeschrieben wurde.

Der nachfolgende Präsident Iván Duque, ein erklärter Gegner des Friedensabkommens, setzte sie jedoch nicht um und überließ das Problem damit der neuen Regierung von Petro.