Der Krieg geht weiter

Ein Bericht der Vereinten Nationen bestätigt, dass Kolumbien weiterhin eine Kriegsregion ist. Trotz der Friedensverhandlungen sterben täglich Menschen. Die Zahl der Vertreibungen und Kriegverbrechen bleibt hoch

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Operation der kolumbianischen Streitkräfte
Operation der kolumbianischen Streitkräfte

“Kolumbien wählt den Frieden“. So titelten Medien auf der ganzen Welt zur Wiederwahl des kolumbianischen Präsidenten Santos im Juni 2014. Aber eine Mehrheit der kolumbianischen Bauern und Bewohner vor allem der ländlichen Regionen berichtet bereits seit Beginn der Friedensverhandlungen im November 2012, dass sich die Situation für sie nicht verbessert. Sie behaupten, die in den Verhandlungen getroffenen Abkommen bedeuten keine Veränderung für sie. Weder die FARC noch die Regierung würden ihre Interessen vertreten. Der jüngst veröffentlichte Bericht der Vereinten Nationen spricht eine ähnliche Sprache und gibt den Kritikern Recht.

In dem vorliegenden Bericht untersuchte die UN die illegalen Aktionen von verschiedenen bewaffneten Gruppen, einschließlich der Guerilla. Das Dokument belegt, dass zwischen November 2012 und Juni 2014 mehr als 300.000 Personen Opfer von Vertreibungen wurden. Jeden Monat werden rund mehr als 15.000 Personen gezwungen, ihre Wohnungen und Siedlungen zu verlassen. In einem Vergleichszeitraum von 2010 bis 2012, also vor dem Beginn der Verhandlungen, waren laut offiziellen Zahlen fast 750.000 Menschen betroffen. Daraus lässt sich ableiten, dass die Zahl der intern Vertriebenen zwar deutlich zurückging, aber auch weiterhin sehr hoch bleibt.

Zwischen November 2012 und Juni 2013 betrafen die Vertreibungen vor allem die umkämpften Städte Buenaventura mit 37.000 Vertriebenen sowie Tumaco mit 16.500 Betroffenen an der Pazifikküste. Tumaco zählte zu Beginn des Jahres 2014 gerade 187.000 Einwohner. In den beiden Städten leben vor allem Afrokolumbianer, die in den letzten Jahren mit dramatischen Verschlechterungen ihrer Lebensbedingungen konfrontiert waren. In Buenaventura häuften sich 2014 zudem die Funde von sogenannten “Casas de Pique“ (Folterhäuser) in denen Paramilitärs Menschen verstümmeln und ermorden. Der Bericht zeigt eine Konzentration der Vertreibungsproblematik besonders am Pazifik und in Antioquia.

In eben diesen beiden Regionen registrierte die UN die meisten Fälle von bewaffneten Kämpfen zwischen den FARC und den Streitkräften Kolumbiens. In beiden Regionen befindet sich zudem große Anteile an den illegalen Pflanzungen. In beiden Regionen sind multinationale Konzerne sowie illegale Minenbetreiber im Extraktivismus aktiv.

Von den Vertriebenen waren im Beobachtungszeitraum 52,5 Prozent Frauen. In 74 Prozent der Fälle waren Afrokolumbianer und Indigene betroffen. In 30 Prozent der Fälle sind keine konkreten Gruppen als Anlass der Vertreibung bekannt, in 17 Prozent der Fälle wird den FARC die Schuld an der Vertreibung gegeben, in 23 Prozent Paramilitärs, in nur drei Prozent der ELN. Der Bericht nennt die Aktivität der FARC weiterhin als Hauptgrund der Vertreibungen, unterschlägt allerdings vollkommen die Vertreibungen durch Aktionen der Regierung, von Militär und Polizei.

Seit Beginn der Friedensverhandlungen wurden fast 600 Personen Opfer von Sprengkörpern, darunter 86 Minderjährige. Vor allem in den Regionen Antioquia, Caquetá, Nariño, Norte de Santander und Putumayo sei die Gefahr besonders hoch, Opfer einer Landmine zu werden. Mehr als 67 Prozent der Opfer stammen dem Bericht zufolge in diesen Regionen. Seit Beginn der Friedensverhandlungen stirbt durchschnittlich jeden Tag mindestens eine Person durch eine Antipersonenmine oder durch zurückgelassenen Strengmittel. Einige Regionen in Nariño sind vollkommen vermint, die Bevölkerung kann Straßen und Wege nicht benutzen und viele Gemeinden zählen stetig wachsende Zahlen von Opfern, die in Minen einzelne Gliedmaßen verlieren. Die Opfer gehören fast vollständig der Zivilbevölkerung an, darunter 36 Prozent Kinder.

Auch die Zahl der Sexualverbrechen im Kontext des Krieges ist in diesen Regionen besonders hoch. In den Monaten seit Beginn der Gespräche in Havanna registrierten die Behörden 336 Opfer von Straftaten “gegen die sexuelle Integrität", fast 90 Prozent richteten sich gegen Frauen, neun Prozent gegen Männer. Im Bericht heißt es, “dass wegen des Konfliktes jeden Monat weiterhin mindestens 17 Frauen und zwei Männer Opfer sexueller Gewalt werden".

Weiterhin zählt die UN von mehr als 1.200 Kriegshandlungen im Zeitraum der Friedensverhandlungen. Dies bedeutet einen Durchschnitt von über 60 solcher Attacken pro Monat. “Trotz der Friedensgespräche dauern die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung an“, folgert der Bericht. Betroffen seien auch hiervon vor allem die Städte Tumaco und Buenaventura, aber auch Medellín und Cali. In den ländlichen Regionen betrifft der Krieg vor allem Norte del Cauca, Arauca, die Gegend zwischen Antioquia und Córdoba, sowie die Pazifikküste und die Grenzregion zu Venezuela. Diese Zonen zeichnen sich durch starke Präsenz von nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen aus, darunter die angeblich demobilisierten Paramilitärs. Cauca, Arauca und Antioquia sind mit Abstand die am dramatischsten betroffenen Regionen. Den Großteil der registrierten Kriegshandlungen machen konkrete Gefechte aus. Nur sechs Prozent der Gefechte fanden laut UN ohne staatlichen Streitkräfte statt.

Als "besorgniserregend" bezeichnet die UN die hohe Zahl von Verschwundenen. Offiziellen Zahlen zufolge sind in den letzten 20 Jahren des Krieges in Kolumbien 25.000 Menschen verschwunden, allein seit Beginn der Friedensverhandlungen wurden fast 11.000 weitere Personen als verschwunden gemeldet. Zum Zeitpunkt der Recherche waren rund 6.000 Personen als langfristig verschwunden gezählt. Der Bericht macht keinerlei Angaben zu den Verantwortlichen für diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Opferorganisationen berichten, dass vor allem das Militär und Sondereinheiten der Polizei sowie Paramilitärs diese Praxis der Entführungen verüben. In Havanna verhandeln die Konfliktparteien zurzeit über Hilfe für Angehörige und Entschädigung der Opfer. Allerdings kritisieren Menschenrechtsorganisationen die Doppelmoral der Regierung in den Gesprächen, da sie weiterhin Menschen verschwinden lässt. Auf der anderen Seite werden rund 70 Prozent der 447 Entführungen im Beobachtungszeitraum den FARC zugeschrieben.

Auch die Angriffe auf Infrastrukturen wie Ölpipelines und Straßen gehen laut Bericht weiter. Die Guerillagruppen verübten rund 400 Anschläge seit November 2012. Die Zahl ist im Vergleich zu den Vorjahren sogar gestiegen. Betroffen sind vor allem die Regionen Arauca und Putumayo, in denen sich bewaffnete Gruppen gegen Großprojekte wie neue Minen wehren.

Weitaus komplizierter als diese Zahlen sind die Angaben zu Erpressung und Schutzgelderpressung. Etwa 6.200 Fälle sind im Beobachtungszeitraum gemeldet worden, obwohl davon auszugehen ist, dass in vielen ländlichen Regionen Schutzgeldzahlungen zur Normalität geworden sind. Zehn Prozent der Fälle rechnet der Bericht den Guerilla-Gruppen zu, der Großteil der Erpressungen geht von angeblich demobilisierten Paramilitärs (85 Prozent) und anderen kriminellen Banden aus.

Die Mordrate in Kolumbien sinkt langsam. Im Beobachtungszeitraum werden gut 24.500 Morde gezählt, also jeden Monat rund 1.200 ermordete Personen. Betroffen sind zu 93 Prozent Männer. Auch wenn nicht alle Morde in direktem Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt stehen, stellt der Bericht doch fest, dass die Mordrate in den vom Konflikt betroffenen Regionen um ein vielfaches über dem Landesdurchschnitt liegt.

Problematisch an den Friedensverhandlungen ist vor allem, dass weder die Paramilitärs, die sich nach offiziellen Angaben 2008 aufgelöst haben sollen, noch die sogenannten “bacrim“ (bandas criminales) von der Regierung als Ursache oder Teil des Konflikts anerkannt werden. Traditionell sind die Kontakte zwischen Regierung und diesen rechten Paramilitärs sehr eng, dem ehemaligen Präsidenten Uribe sind sogar direkte Unterstützung und Zusammenarbeit mit Paramilitärs nachgewiesen. Diese Gruppen werden auch nach den Verhandlungen mit den FARC und eventuell der ELN weiter ihr Unwesen im Land treiben.

Sie sind verantwortlich für den Großteil der verübten Massaker und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch fehlen Angaben zu verübten Massakern, wie zuletzt die Ermordung einer Familie in Antioquia am 12. Dezember 2014, bei der fünf Frauen und zwei Männer umkamen. Auch wenn die Zahlen und Statistiken sehr ausführlich und detailliert sind, so berichtet die UN sehr einseitig von den Taten der Guerilla und unterlässt es, die seitens der offiziellen Kräfte verübten Verbrechen zu benennen.

Der Bericht mit dem Titel “Tendencias Humanitarias“ wurde von der OCHA (Oficina para la Coordinación de Asuntos Humanitarios) der Koordinierungsstelle für Humanitäre Angelegenheiten der Vereinten Nationen unter Mitarbeit verschiedener UN-Einrichtungen und offizieller Stellen Kolumbiens vorgelegt. Das Dokument der Vereinten Nationen zeigt, dass in Kolumbien inmitten eines andauernden bewaffneten Konfliktes über den Frieden verhandelt wird. Während der Krieg fortschreitet, werde in Havanna bereits vom Postkonflikt gesprochen. Das liegt unter anderem daran, dass sie die Verhandelnden nicht auf eine Waffenruhe während der angeblichen Friedensgespräche einigen konnten.


Link zum Bericht auf El Tiempo.com