"Kein Blankoscheck für Dilma Rousseff"

Josué Rocha von der brasilianischen Wohnungslosenbewegung MTST berichtet über den Widerstand gegen das Amtsenthebungsverfahren und die neoliberale Sparpolitik

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MTST auf der Demonstration gegen die Amtsenthebung in São Paulo
MTST auf der Demonstration gegen die Amtsenthebung in São Paulo

Am 16. Dezember gingen in ganz Brasilien Zehntausende gegen eine Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff auf die Straße. Soziale Bewegungen und Gewerkschaften hatten zu dem Protest aufgerufen. Seit Monaten versucht die rechte Opposition die Präsidentin abzusetzen. Rousseff wird vorgeworfen, Haushaltszahlen frisiert zu haben, um ihre Wiederwahl im Oktober 2014 zu garantieren. Kritiker werfen der Opposition indes vor, einen "Putsch" zu planen. Ende Dezember stimmte der Präsident der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha, zu ein Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff einzuleiten. Cunha von der Mitte-Rechts Partei PMDB gilt als scharfer Widersacher der Regierung. Der Politiker ist aufgrund von schweren Korruptionsvorwürfen jedoch selbst umstritten. Die Ethikkommission der Abgeordnetenkammer prüft derzeit seine Absetzung. Die jüngsten Proteste richteten sich allerdings nicht nur gegen Cunha und die rechten "Putschversuche", sondern auch gegen die neoliberale Politik der Regierung. Vor allem die sogenannte "Fiskalanpassung" steht im Fokus der Kritik. Soziale Bewegungen befürchten erhebliche Rückschritte bei sozialen Errungenschaften. Eine der lautesten Kritikerinnen der neoliberalen Sparpolitik ist die Wohnunglosenbewegung MTST. Die Bewegung hat ihren Ursprung in der Millionenmetropole São Paulo und versucht durch Besetzungen urbanen Leerstand für arme und obdachlose Familien nutzbar zu machen. In den letzten Jahren konnte sie sich landesweit als einflussreiche, außerparlamentarische "Stimme von links" etablieren. Tatiana Farah von A Publica interviewte Josué Rocha, einen der Sprecher der MTST.


Ihr habt am 16. Dezember zu der landesweiten Demonstration gegen die Amtsenthebung von Dilma Rousseff aufgerufen.

Eigentlich waren es drei thematische Achsen: gegen die Amtsenthebung, gegen die Fiskalanpassung und gegen Cunha. Diese drei Linien haben den "Nationalen Tag der Mobilisierung" bestimmt.

Eine gleichzeitige Ablehnung Cunhas und der geplanten Amtsenthebung macht Sinn. Wie aber passen die Kritik der Amtsenthebung und die Forderung nach einem Ende der Fiskalanpassung zusammen?

Wir glauben, dass die Regierung die größte Verantwortung für die ökonomischen Anpassungen trägt. Jedoch ist das Amtsenthebungsverfahren ganz klar eine Erpressung von Eduardo Cunha. Im Falle einer Amtsenthebung würde Michel Temer 1 das Präsidentschaftsamt übernehmen. Und dieser hat bereits sein Programm "Eine Brücke für die Zukunft" vorgestellt. Seine Politik würde eine noch größere ökonomische Umstrukturierung bedeuten - mit Beschneidungen in Gesundheit und Bildung sowie neuen Privatisierungen.

Besteht für soziale Bewegungen überhaupt noch die Möglichkeit mit Präsidentin Rousseff über soziale Rechte zu verhandeln?

Wir sind bereit gegen das Amtsenthebungsverfahren und den Rückschritt, den es bedeuten würde, zu kämpfen. Auf keinen Fall sind wir soziale Bewegungen bereit der Präsidentin einen Blankoscheck auszustellen. Wir fordern Rousseff auf ihre Verpflichtung wahrzunehmen und wieder in den Dialog mit den sozialen Bewegungen zu treten. Außerdem muss sie bestimmte Rechte und Maßnahmen in der Wirtschaft garantieren, die momentan vor allem durch das Finanzministerium bedroht werden.

In der Stichwahl im Oktober 2014 haben sich soziale Bewegungen für eine Wiederwahl von Präsidentin Rousseff zusammengeschlossen. Bereits Anfang 2015 habt ihr geäußert, dass sich andeutet, dass Rousseff das Vereinbarte nicht erfüllen wird. Was garantiert, dass die zukünftige Regierung Rousseff besser sein wird als eine eventuelle Regierung von Vizepräsident Michel Temer?

Das wird genau aus dem bereits genannten Dokument "Eine Brücke für die Zukunft" deutlich. Es sieht nicht nur Privatisierungen im SUS2 und im Bildungsbereich vor, sondern strebt ebenso eine Ausweitung von Privatisierungen in Bereichen wie dem Bankwesen an. Für uns sind das beängstigende Aussichten und es zeigt uns, dass wir mit Temer als Präsident eine noch schlechtere Regierung hätten. In der Tat hat die Präsidentin nach der zweiten Wahlrunde das Regierungsprogramm vom geschlagenen Kandidaten Aécio Neves3 übernommen. Dies war sicherlich der ausschlaggebendste Grund für ihren Popularitätseinsturz. Jetzt hat die Präsidentin ihre letzte Chance die Beziehung zur Bevölkerung wiederherzustellen. Sie muss klare Signale geben, dass sie eine Politik wiederaufnimmt, die soziale Rechte garantiert.

Die Befürworter der Amtsenthebung auf der Straße mussten eine Niederlage hinnehmen. Ihre Demonstrationen am 13. Dezember waren deutlich kleiner als vorherige Proteste. Wie erklärt ihr euch dies?

Es wird immer klarer, dass hinter dem Amtsenthebungsverfahren Bestrebungen eines Putsches stehen. Die Bevölkerung weiß, dass es sich um eine Erpressung des Präsidenten der Abgeordnetenkammer handelt und dass Eduardo Cunha keinerlei Skrupel hat die Amtsenthebung der Präsidentin durchzubringen, obwohl er selbst etlicher Verbrechen beschuldigt wird. Mittlerweile sieht sich Cunha einer riesigen Ablehnung gegenüber, dies beeinflusst auch die Demonstrationen. Trotz der Unzufriedenheit mit der Regierung, erkennt die Bevölkerung, dass eine Amtsenthebung nicht der Ausweg sein kann.

Die Bundespolizei hat am 15.12 Razzien in den Büros und Privatwohnungen Cunhas sowie mehrerer Abgeordneter und Minister der PMDB durchgeführt. Glaubst ihr, dass dies den Amtshebungsprozess schwächen wird oder ihn sogar eher stärken wird, weil es die Partei gegen die Regierung zusammenschweißt?

Wir wollen das Eduardo Cunha abgesetzt wird – egal wie. Es gibt keine Grundlage dafür, dass er weiter im Amt bleibt und solche Manöver wie in der Vergangenheit durchführt. Dies steht außer Frage. Auf der anderen Seite ist die wachsende Opposition gegen Cunha auch eine Art das Amtsenthebungsverfahren reinzuwaschen. Mittlerweile haben alle begriffen, dass Cunhas Anliegen, die Präsidentin von ihrem Amt zu entheben, den Prozess eher schwächt. Niemanden hat mehr Interesse daran, dass er Präsident der Abgeordnetenkammer bleibt. Dies hat in den letzten Tagen zu einer massiven Offensive gegen ihn geführt.

Von den Bestrebungen einer Amtsenthebung einmal abgesehen gewinnen konservative Kräfte in der Abgeordnetenkammer immer mehr Einfluss. Wie seht ihr diese rechte Offensive?

Sie ist äußerst besorgniserregend. Es handelt sich um den konservativsten Kongress nach der Zeit der Militärdiktatur. Unser Kampf ist es momentan nicht neue Rechte zu erkämpfen sondern zu verhindern, dass wir lange erkämpfte Rechte verlieren. Die Senkung des Strafmündigkeitsalters, das Anti-Terror-Gesetzes, eine Gesetzesinitiative, die versucht Schwangerschaftsabbrüche nach Vergewaltigungen zu erschweren sind nur einige Beispiele. Alle diese Projekte sind Reflexe einer extrem konservativen Abgeordnetenkammer, mit Cunha an ihrer Spitze. Dieser steht für eine Verbindung von unternehmerfreundlichen Sektoren und der "Bibellobby"4. Die gesamte Zusammensetzung des Kongresses5 ist konservativer. Wenn wir die letzte Wahl mit vorherigen Wahlen vergleichen, sehen wir einen erheblichen Rückgang von Abgeordneten, die die Arbeiter vertreten und einen deutlichen Anstieg von Vertretern der Agrarindustrie und großer Unternehmen.


Das Interview wurde zuerst in portugiesischer Sprache bei der unabhängigen Medienagentur A Pública veröffentlicht

  • 1. aktueller Vizepräsident; von der rechtskonservativen PMDB
  • 2. öffentliches Gesundheitssystem
  • 3. von der neoliberalen PSDB
  • 4. Zusammenschluss evangelikaler und streng religiöser Abgeordneter
  • 5. Brasiliens Parlament ist ein Zweikammernsystem, bestehend aus Abgeordnetenkammer und Senat