Peru / Politik

Peru: Die alte Republik und ihre lebenden Toten

In Peru streiten Mafia-Strukturen bis aufs Messer um die Macht. Es geht darum, wer das größte Stück vom Kuchen bekommt, um das Land weiterhin auszuplündern

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Demonstration in Peru am 10. Januar zum Gedenken an die vor einem Jahr bei Protesten in der Region Puno Ermordeten
Demonstration in Peru am 10. Januar zum Gedenken an die vor einem Jahr bei Protesten in der Region Puno Ermordeten

Der Skandal um die bereits suspendierte Generalstaatsanwältin Patricia Benavides und dazu noch der Mega-Skandal um die Freilassung von Alberto Fujimori – das sind nur die Spitzen des Eisbergs der vielfältigen Skandale, die die Macht erschüttern. Es scheinen außerdem Ereignisse zu sein, die sich durch all die Fäulnis der letzten Jahre, die uns fast unausweichlich zu diesen Personen geführt hat, angekündigt haben.

Nichts ist zutreffender als die Antwort von Alfonso Barrantes gegenüber dem Journalisten Humberto Martinez Morosini, als dieser ihn vor Jahren fragte: "Doktor, was wäre eine Revolution für Peru?" und er antwortete: "Mit der Korruption Schluss zu machen".

Deshalb geht jeder alternative Vorschlag, wie das Land aus dem Sumpf, in dem es feststeckt, herauszuziehen ist, nur über eine moralische Regeneration, die der Säuberung der Politik in allen ihren Dimensionen Vorrang einräumt. Ein Angebot, das darunter bleibt, käme einem Verrat gleich.

Heute erlebt die Republik eine ihrer dunkelsten Stunden. Es reichte denen, die die Macht kontrollieren, nicht, diese Macht mit Blut und Feuer mit einem Ergebnis von fast 70 Toten zwischen vergangenem Dezember und März zu verteidigen. Jetzt streiten sie sich untereinander, um zu sehen, wer die Macht letztlich an sich reißt. Das beschämende Spektakel, dass die Bürger definitiv mehr und mehr von denjenigen entfernt, die behaupten, ihre Vertreter zu sein, hat schon seit Langem nichts mehr mit dem Gesetz und der Verfassung zu tun, sondern mit den persönlichen Begehrlichkeiten dieser Personen.

Das Argument von Anfang 2023, dass sie mit einem Terroranschlag konfrontiert seien, ist widerlegt worden. Jetzt besteht der Terrorismus-Vorwand nicht mehr und wir haben eine politische Krise, die vielleicht sogar noch schlimmer ist als die von vor einem Jahr. Das Land ist weiterhin unregierbar, aber nicht wegen der Mobilisierung von denen "da unten", sondern wegen der unersättlichen Gier von denen "da oben". Selbst das Argument, dass sie ihre Kastenprivilegien verteidigen würden, greift zu kurz. Es handelt sich um einen Wettkampf zwischen Mafia-Strukturen, wo bis aufs Messer um die Macht gestritten wird. Es geht darum, wer das größte Stück vom Kuchen bekommt, um das Land weiterhin auszuplündern.

Das einzige Gesetz lautet: alles ist erlaubt, und das Ziel ist, den Gegner zu liquidieren oder zu unterwerfen. Respekt vor dem Anderen gibt es nicht.

Der Kern der Instabilität und der fehlenden Regierbarkeit liegt also nicht bei denen, die die Dinge ändern wollen – auch wenn sie nicht in der Lage oder letztlich nicht willens sind, wie Castillo –sondern bei jenen, die darauf bestehen, dass die Dinge so bleiben wie sie sind.

Kann angesichts dieses Spektakels noch jemand behaupten, dass das nur ein Problem von Personen und/oder Institutionen ist? Definitiv nicht. Erbärmlich sind die Titel, die sich Präsidentin, Richter, Minister, Kongressabgeordnete und Staatsanwälte an die Brust heften. Durch Arroganz sind sie zum Schandfleck derer geworden, die sie tragen. Durch ihr Verhalten reißen diese Leute die Institutionen, die sie zu vertreten vorgeben, mit sich, aber auch die Interessenallianz, die es ihnen ermöglicht hat, zu herrschen.

Kehren wir also zum Konzept aus dem vergangenen Sommer zurück. Es geht nicht nur darum, Personen auszutauschen oder Institutionen zu reparieren. Es handelt sich um eine Krise der Regierung und des Regierungssystems, aber auch um eine Staatskrise.

Zusätzlich zu den Personen und dem institutionellen Gebilde gibt es ein weiteres Problem: die großen gesellschaftlichen Interessengruppen, die sich für den Putsch vom 5. April 1992 organisierten und dafür, zu einer oligarchischen Staatsverwaltung zurückzukehren, haben auch ihre Fähigkeit eingebüßt, unbemerkt zu bleiben. Die Krise ist so tief, dass man die Korrosion der Strukturen und den üblen Geruch derer, die sie tragen, wahrnehmen kann. Sie zersetzen sich gerade.

Nicht zufällig ist die Sympathie für eine neue Verfassung wieder gewachsen, nachdem die Mobilisierungen dafür im vergangenen März eine Pause einlegten. Eine Umfrage des Forschungszentrums Instituto de Estudios Peruanos vom November 2023 zeigt, dass 40 Prozent der Bevölkerung mit einer neuen Verfassung einverstanden wären und weitere 48 Prozent mit Änderungen an der bestehenden Verfassung; insgesamt sind also 88 Prozent der Meinung, das anzutasten, was eine kleine Minderheit für unantastbar hält. Der Verfassungsprozess hat also frischen Wind, um weiterzugehen.

Der Zerfall dieser Macht allein reicht jedoch nicht aus, um uns von ihr zu befreien. Wenn es in der Politik keine Herausforderung gibt, die auf der Höhe der Umstände ist, dann regieren und gedeihen die lebenden Toten weiter. Es liegt dann an uns, diese Herausforderung zu organisieren.

Die Mobilisierungen von vor einem Jahr hatten die Kraft, die Empörung angesichts der Usurpation seitens derjenigen, die die Wahlen Jahr 2021 verloren hatten, zu bündeln. Aber sie hatten das Manko, nur eine minimale politische Orientierung zu haben. So war es ihnen nicht möglich, in der gegebenen Situation einen demokratischen Ausweg aus der Krise zu finden.

Heute ist es von entscheidender Bedeutung, den Schritt hin zur Politik zu tun, damit die Herausforderung konkret wird. Angesichts von so viel Zerfall verlangt das Land danach. Lasst uns den Schritt tun, jeder in der Bescheidenheit seiner täglichen Arbeit. Die neue Republik ist der Horizont, der uns angesichts des aktuellen Desasters erwartet.

Nicolás Lynch aus Peru ist Soziologe und Analyst bei Otra Mirada