Armut hat viele Gesichter: Hunger, Durst, Krankheit, Unterernährung, beengtes Wohnen, Verletzlichkeit, Gewalt, Diskriminierung, Ausbeutung. Armut bedeutet, weder Rechte noch Chancen zu haben.
In den vergangenen Jahren wurden wichtige Erfolge erzielt. Dennoch lebt noch jeder vierte Ecuadorianer unter einer oder mehrerer solcher Bedingungen, insbesondere Kinder, ältere Menschen, indigene Völker und Nationalitäten sowie Afro-Ecuadorianer. Es bestehen weiterhin große Herausforderungen.
Alle Armutsindikatoren zeigen einen bedeutenden Rückgang an:
Die Einkommensarmut (Einkommen unter 2,79 US-Dollar täglich, bis Dezember 2015) verringerte sich von 37,6 Prozent im Jahr 2006 auf 23,3 Prozent im Jahr 2015. Dies bedeutet, dass 1,5 Millionen Personen diese Armutsgrenze überwanden.
Die Armut beim Konsum (Konsum unter 2,81 Dollar täglich; der Unterschied zur Einkommensarmut liegt darin, dass dieses Maß den Realverbrauch ermittelt, die Einkommensarmut jedoch nur verfügbares Einkommen) fiel von 38,2 Prozent im Jahr 2006 auf 25,8 Prozent für 2014. Diesem Armutstyp entkamen 1,3 Millionen Menschen.
Armut aufgrund unbefriedigter Grundbedürfnisse, welche die Konditionen der Haushalte umfasst (Zugang zur Grundversorgung, Qualität der Bausubstanz, Überbelegung, Schulbesuch und wirtschaftliche Abhängigkeit), verringerte sich zwischen 2005 und 2015 von 51,6 Prozent auf 32,9 Prozent.
Der Anteil von Personen in Armut gemäß dem Index der mehrdimensionaler Armut – mittels zwölf Indikatoren aus vier Bereichen angelehnt an die Buen-Vivir-Rechte bezüglich Bildung; Arbeit und soziale Sicherheit; Gesundheit, Wasser und Nahrung; Lebensraum, Wohnsituation und gesunde Umwelt – reduzierte sich von 51,5 Prozent im Jahr 2009 auf 35,0 Prozent im Jahr 2015. Das bedeutet, dass 1,9 Millionen Personen aus diesem Typ struktureller Armut herauskamen.
Hinter diesen Indikatoren stehen konkrete Verbesserungen bei der wirtschaftlichen Inklusion sowie den öffentliche Politiken, die ein würdiges Gehalt beinhalten und eine populare und solidarische Ökonomie (EPS) durch Schulungen, technische Hilfeleistung, Vernetzung, Kredite, Bevorzugung bei öffentlichen Aufträgen und Zugang zu Märkten fördern (Messen und Regulierung von Ständen in Supermärkten). Ferner staatliche Transferleistungen (Bono de Desarrollo Humano1, Joaquín Gallegos Lara-Bono2, beitragsunabhängige Renten für Menschen mit Behinderung und ältere Menschen).
Ähnlich wurde der Zugang zur Sozialversicherung erweitert, was sich niederschlägt in einer verbreiteten Mitgliedschaft von Lohnarbeitern und Nicht-Lohnarbeitern beim Sozialversicherungsinstitut IESS und in der Einführung beitragsunabhängiger Renten für ältere Menschen über das Ministerium für wirtschaftliche und soziale Inklusion. Ebenso wurden Mängel bei der Bildung behoben, indem die Nicht-Teilhabe an Grundbildung, das Wohnungsdefizit und Arbeitslosigkeit verringert und der Zugang zu Wasser und sanitären Dienstleistungen verbessert wurden. Hierin widerspiegeln sich die Bildungs- und Wohnungspolitik sowie die Finanzierung des Baus von Trinkwasser- und Entwässerungsanlagen der Bezirke in den Provinzen durch die Entwicklungsbank Ecuadors (ehemals Staatsbank). Das sind Investitionen in die Zukunft, und mehr als nur in Infrastruktur auch Investitionen in die Generierung von Kapazitäten und Chancengleichheit.
Es besteht jedoch weiterhin Handlungsbedarf. Die Armut wurde noch nicht ausgemerzt. Zudem wurde auch Ecuador von der Weltwirtschaftskrise erfasst, was die Liquidität und die wirtschaftliche Aktivität abschwächte und somit auch Beschäftigung und Einkünfte. Insbesondere im Dezember 2015 und im Juni 2016 wurde die Zunahme der Einkommensschwäche offensichtlich, und speziell in ländlichen Gegenden stieg die Armut um 4,0 und 2,9 Prozentpunkte im Vergleich zu den Vorjahresmonaten an (das heißt im Juni 2016 waren 178.000 Personen mehr von Armut betroffen als im Juni 2015). Die gute Nachricht hingegen: Die strukturelle Armut, die durch den multidimensionalen Armutsindex (IPM) erfasst wird, ist nicht angestiegen. Im Juni 2015 lag dieser Wert bei 37,3 Prozent der Gesamtbevölkerung, im Juni 2016 bei 36,1 Prozent. Das verdeutlicht, dass die Wirtschaftskrise die konjunkturelle Armut (bei den Einkünften) beeinflusst, es aber gleichzeitig größere strukturelle Kapazitäten gibt als in der Vergangenheit.
Was also in einem solchen Szenario tun? Und wie den Ausgang aus der Wirtschaftskrise angehen und Entwicklung sowie Inklusion fördern? So wie in positiven Wirtschaftsszenarien die Politik (und ihr Ausdruck in öffentlichen Maßnahmen) den Vorrang der Verteilung und Umverteilung der Gewinne widerspiegelt, müssen in Krisenzeiten allerdings die Kosten berücksichtigt werden. Um Rückschritte bei der Bekämpfung struktureller (multidimensionaler) Armut zu vermeiden, müssen öffentliche Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, frühkindlicher Erziehung, sozialer Absicherung, Wohnungswesen, Wasser und Sanierung erhalten und verteidigt werden. Dies muss sich konkret in den Prioritäten des Staatshaushaltsplanes niederschlagen. Diese steuerfinanzierten Dienstleistungen (man bedenke, dass auch Steuersenkungen Kosten mit sich bringen), ermöglichen es, soziale Rechte zu garantieren.
Gegen konjunkturelle Armut (bei Einkommen) müssen Prioritäten beim Aufbau der popularen und solidarischen Wirtschaft gesetzt werden, das heißt dort, wo sich der verwundbarste Teil der Bevölkerung (noch) befindet, der nicht bei Großunternehmen angestellt ist, kein würdiges Gehalt oder soziale Absicherung erhält, weder Ersparnisse noch Zugang zu Krediten oder die Möglichkeit zu reisen hat, um Einkäufe in anderen Ländern zu tätigen (also bessere Möglichkeiten, der Krise zu begegnen). Auch ein Großteil der vom Erdbeben am 16. April 2016 Geschädigten geht keiner "adäquaten Beschäftigung" nach. Heute müssen genau diesen Sektoren produktive Anreize, Zugang zu Krediten und Produktionsmitteln und der Vorzug bei öffentlichen Aufträgen gegeben werden. Man beachte, dass diese Sektoren (die Mehrheit der Bevölkerung) den Motor des lokalen Wirtschaftslebens darstellen, weil sich deren Konsum im eigenen Gebiet abspielt. Wirtschaftliche Anreize, Zuschüsse und Transfers müssen denjenigen zukommen, die sie am meisten brauchen.
Es steht noch vieles aus. Ziel ist gewesen, die extreme Einkommensarmut bis 2017 abzuschaffen. Die Tendenz war richtig, momentan laufen wir jedoch Gefahr, die Vorgabe nicht zu erfüllen. Weltweit und regional setzt die Politik entschieden auf Geldtransfers (an Bedingungen geknüpft oder bedingungslos). In Ecuador gibt es die Förderung durch den BDH, und wie Untersuchungen zeigen, nimmt dieser keineswegs Anreize (etwa dass die Arbeit aufgegeben würde, annehmend, Menschen seien faul), sondern hilft Privathaushalten in extremer Armut dabei, "Armutshürden" zu überwinden (Essen zu können, ein sicheres Einkommen zu haben, um tätig zu werden oder Fahrtkosten zu decken, um Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen sowie Zugang zu Krediten).
Derartige Programme werden weltweit und regional immer mehr aufgelegt und wissenschaftlich ist das Potenzial eindeutig, dass sie zusammen mit weiteren Programmen Bedingungen und Möglichkeiten schaffen, extreme Armut zu bekämpfen. Eine kleine Reform, die den bisher pauschalen Transfer (der BDH liegt bei monatlich 50 Dollar pro Haushalt, unabhängig von der Anzahl der Personen) zu einem Transfer macht, der die Anzahl der Kinder und Erwachsenen im Haushalt berücksichtigt (variabler Transfer) und die mit Instrumenten der Fokussierung sicherstellt, dass die Mittel bei den Haushalten mit extrem schwachen Einkünften ankommen, würde es möglich machen, das Ziel in wenigen Jahren zu erreichen. Zweifellos ist dies mit Kosten verbunden. Jedoch erforderte es nicht mehr als 0,1 Prozent des BIP, um ein Land aus der extremen Armut zu hieven. Wie viel Geld wird für Subventionen für die Erdölindustrie, Subventionen der Renten, Anreize für große Unternehmen und Abschreibungen bei der Zinssteuer ausgegeben?
Armut ist die Negation von Rechten und somit der Bürgerrechte. Sie beruht auf wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Machtstrukturen. Die Armen sind nicht diejenigen, die auf die Straße gehen um für oder gegen etwas zu demonstrieren, denn sie sind diejenigen ohne Stimme, die Niemande, würde Galeano3 sagen. Die extreme Armut zu beseitigen ist ein moralischer Imperativ und muss die Priorität des sozialen und politischen Willens sein. Es ist möglich, es ist eine ethische Pflicht. Was sagen die Präsidentschaftskandidaten dazu?
Andrés Mideros aus Ecuador ist Ökonom und unterrichtet derzeit Entwicklung und Planung an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität in Ecuador
- 1. Diese staatliche Förderung für Bedürftige gibt es in Ecuador seit 1998. Sie betrug bis 2005 zwischen sieben und 15 Dollar, nach Amtsantritt von Rafael Correa wurde sie auf 30 und der einbezogene Personenkreis von 400.000 auf eine Million erhöht. Heute erhalten 500.000 Menschen mindestens 50 Dollar. Zuständig für die Vergabe der "Förderung zur menschlichen Entwicklung" ist das Ministerium für ökonomische und soziale Inklusion
- 2. Diese nach dem kommunistischen Aktivisten und Schriftsteller Joaquín Gallegos Lara (1909 – 1947) benannte Förderung bekommen Menschen mit Behinderungen. Gallegos Lara war gehbehindert
- 3. Eduardo Galeano, Journalist, Essayist und Schriftsteller aus Uruguay (1940 – 2015)