Reise nach Nirgendwo

Migranten sind auf ihrem Weg in die USA immer häufiger Opfer staatlicher Verbrechen und krimineller Banden

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Die Entdeckung eines Massakers an 14 Migrantinnen und 58 Migranten Ende August 2010 in San Fernando im Bundesstaat Tamaulipas markierte den vorläufigen Höhepunkt einer Tragödie, die sich von Jahr zu Jahr zuspitzt. Wenngleich nicht immer mit tödlichem Ausgang wie bei diesen 72 Opfern, ereilt zahlreiche mittel- und südamerikanische Migranten auf ihrem Weg durch Mexiko ein ähnliches Schicksal. Einem Bericht der Nationalen Menschenrechtkommission Mexikos (CNDH) vom Juni 2009 zufolge ist allein in den sechs Monaten von September 2008 bis Februar 2009 die Entführung von 9.758 Migranten dokumentiert, über die Hälfte davon in den Bundesstaaten Tabasco und Veracruz.

Ziel der Entführungen  ist die Erpressung von Lösegeldern – nach Hochrechnungen der CNDH durchschnittlich 2500 US-Dollar pro Person. Für Drogenkartelle und andere Gruppen organisierter Kriminalität stellt dies eine zunehmend attraktive Quelle von Nebeneinkünften dar. Die CNDH schätzt diese Einnahmen für die erwähnte sechsmonatige Periode auf 25 Millionen Dollar. Entführungsopfer, von denen trotz Folter, bis hin zum Abschneiden von Fingern, kein Lösegeld erpresst werden kann und die nicht willens sind, ersatzweise in den Dienst der Banden zu treten – sei es als künftige Mitglieder oder als Prostituierte – bezahlen gegebenenfalls mit ihrem Leben.

Auch wenn die Situation der Entführten besonders dramatisch ist – die Migranten sind generell zahlreichen Gefahren ausgesetzt. In einer Dokumentation von April 2010 zitiert Amnesty International Schätzungen, dass mindestens sechzig Prozent der Frauen während ihres Transits durch Mexiko Opfer einer Vergewaltigung werden.

Hinzu kommen Unfälle während der Fahrt auf den Güterzügen und zum Teil lebensgefährliche Situationen bei der Grenzüberquerung in die USA, wo mit immer repressiveren Mitteln versucht wird, den Strom der Flüchtlinge einzudämmen. Von den rund 170.000 Migranten, die nach Schätzung der Behörden in letzter Zeit jährlich über Mexikos Südgrenze ins Land kamen, wurde mehr als ein Drittel von den Sicherheitskräften festgenommen und deportiert oder zur "freiwilligen" Rückreise gezwungen. Unter dem Eindruck der oben geschilderten Ereignisse, wurde die mexikanische Gesetzgebung dahingehend geändert, dass die Behörden nicht mehr verpflichtet sind zu ermitteln, ob es sich um einen illegalen Einwanderer handelt, bevor von ihnen erstattete Anzeigen bearbeitet werden. Die neuen Regelungen sind jedoch ambivalent und lassen diese Möglichkeit weiterhin offen.

Bereits im Bericht zu seiner Mexiko-Reise im März 2008 hebt Jorge Bustamante, Sonderberichterstatter der UNO zu Migrationsfragen, die Zusammenarbeit zwischen kriminellen Netzwerken und Regierungsmitarbeitern bzw. Sicherheitskräften hervor, die "eine Unterscheidung dieser zwei Gruppen schwierig machen." Weiter schreibt er: "Straflosigkeit, Korruption, Erpressung und Bestechung scheinen im Migrationsgeschäft ein grassierendes Phänomen zu sein, das beträchtlich zu dem verbreiteten Missbrauch von Migranten beiträgt."

An dieser Situation haben weder die kosmetischen Änderungen an der Gesetzeslage etwas geändert, noch die im Juli 2010 eingegangene Verpflichtung des mexikanischen Staates gegenüber der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, Migranten auf ihrem Weg durch Mexiko besser zu schützen. Im Gegenteil – die Neue Zürcher Zeitung verweist auf Zahlen von der CNDH wonach in den ersten sechs Monaten des vergangenen Jahres über zehntausend Migranten entführt wurden.

Außerdem häufen sich in den letzten beiden Jahren Berichte, dass Migrantenherbergen – die einzigen Stellen, wo die Betroffenen auf ihrer gefährlichen Reise für kurze Zeit neue Kraft schöpfen können – direkt attackiert wurden. Eine von der katholischen Kirche im Jahr 2009 eingerichtete Zufluchtsstätte in Palenque, Chiapas, musste deshalb nach wenigen Monaten wieder schließen. An anderer Stelle wird darauf hingewiesen, dass 2010 die Mitarbeiter von Herbergen selbst bedroht und körperlich angegriffen wurden, so José Alberto Donis Rodríguez, von der Unterkunft "Hermanos del Camino" in Ixtepec, Oaxaca.

Im Rahmen der Diskussion dieses Themas darf jedoch die Rolle der USA bei der schrittweisen Verschärfung der Situation nicht vergessen werden. Dies lässt sich bis zum Jahr 1986 zurück verfolgen, als die US-Regierung im Rahmen des Immigration Reform and Control Act (IRCA) eine Kommission beauftragte, nach Möglichkeiten zu suchen, die Zuwanderung aus den Ländern südlich der USA einzuschränken. Die Arbeit der Kommission mündete unter anderem in dem Vorschlag, die Zusammenarbeit zwischen den mexikanischen und US-amerikanischen Polizei- und Migrationsbehörden zu verstärken.

Mit finanzieller Unterstützung der USA trat unter Präsident Vicente Fox am 4. Juni 2001 der "Plan Sur" in Kraft, ein Programm zur weitgehenden Abschottung der 962 Kilometer langen Grenze zwischen Mexiko und Guatemala. Die Verfolgung von MigrantInnen in Mexiko wurde im Rahmen des Programms "La Repatriación Segura", das auf Gesprächen zwischen Bush und Fox basiert, noch einmal intensiviert. Die Militarisierung des Landes im Rahmen von Calderóns "Drogenkrieg" tat ein Übriges.

Aufgrund einer erneuten Massenentführung, der am 16. Dezember 2010 in Oaxaca 50 Personen zum Opfer fielen, haben zu Beginn des Jahres mexikanische MenschenrechtsaktivistInnen angekündigt, mit einer Karawane gegen die unhaltbare Situation der mittelamerikanischen Migranten und die Untätigkeit der mexikanischen Behörden zu protestieren. Mit ihrer vom 7. zum 8. Januar 2011 geplanten symbolischen Reise auf einem Güterzug von der Stadt Arriaga in Chiapas nach Chahuites, dem Ort der letzten Massenentführung, in Oaxaca, wollen sie ihre Solidarität mit den Migranten zum Ausdruck bringen und vom mexikanischen Staat einfordern, dass diesen Sicherheit geboten wird.