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Öl, Öl und nochmal das Öl

Geschichte und Gegenwart der Abhängigkeit Venezuelas vom Erdöl sind Thema des neuen Buches von Stefan Peters. Ausgehend von dem Buch wird in diesem Rezensionsessay die Krise des Landes analysiert

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Selbstkritik in der Krise ist so notwendig wie unüblich. Dies zeigt sich auch in der fundamentalen Krise der Bolivarischen Revolution in Venezuela, die sich in den vergangenen Jahren verschärft und seit Anfang dieses Jahres einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Die Regierung führt dafür als Grund den "Wirtschaftskrieg" des Imperiums also vor allem der USA ins Feld. Deswegen liege die eigene Wirtschaft am Boden und könne sich nicht erholen. Keine Frage, die USA versuchen seit nunmehr gut 20 Jahren, die Regierung Venezuelas auf verschiedene Weise zu stürzen, und der Druck steigt stetig. Denn die Venezolaner verletzen seit dem Amtsantritt von Präsident Hugo Chávez Anfang 1999 die ungeschriebenen gesetze, nach denen die Ölrente nicht zur Alimentierung der Volksmassen verwendet werden darf und die Ölkonzerne des Nordens quasi ein natürliches Recht auf Zugriff auf die immensen Ressourcen haben.1

Damit ist aber auch das Hauptproblem der Krise genannt. Venezuela war, ist und bleibt ein Erdölland. Diese Realität steht im Mittelpunkt des jüngst erschienenen Buches von Stefan Peters. Er analysiert unter dem Titel "Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela" den "Aufstieg und Fall der Bolivarischen Revolution von Hugo Chávez" (so der Untertitel).2 Es geht ihm um Geschichte und Gegenwart der Abhängigkeit Venezuelas vom Erdöl, um Geschichte und Gegenwart einer (Öl-)Rentengesellschaft. Das Buch ist deswegen als Ausgangspunkt für eine kritische Betrachtung gerade für die linke Solidaritätsbewegung geeignet. Diese fokussiert sich oft zu sehr auf die Politik. Die Erdölfrage kommt dabei oft zu kurz.

Ohne sie ist aber auch der "Wirtschaftskrieg" als Teil des internationalen Klassenkampfes nicht zu verstehen. Denn es ist Teil der Politik des Imperiums, einseitige Abhängigkeiten zu schaffen und diese einzusetzen. Aktuell werden in Venezuela beispielsweise die Gelder des staatlichen Ölkonzerns PDVSA in den USA zurückgehalten, um das Land noch weiter in die Krise zu stürzen. In der zugespitzten Situation, seitdem Juan Guaidó sich selbst zum Präsidenten ausgerufen hat und von vielen Staaten – allen voran den USA, aber auch Deutschland – anerkannt wurde, haben zudem die militärischen Drohungen zugenommen. Gegen diese Bedrohung verdient Venezuela die uneingeschränkte Solidarität sowohl proletarischer Internationalisten wie auch bürgerlicher Verteidiger des Völkerrechts. Gleichzeitig müssen die Ursachen der Krise genannt und aufgearbeitet werden, was eben vor allem heißt Selbstkritik zu üben. Hierzu hat schon Karl Marx die proletarischen Revolutionäre verpflichtet.

"Proletarische Revolutionen", schreibt Marx nach den Erfahrungen des Staatsstreichs von Louis Bonaparte im Frankreich des Jahres 1851, "kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht."3

Diese Forderung von Marx enthält zudem seine Definition der Revolution als Prozess, von der auch Hugo Chávez immer ausgegangen ist. Darauf ist noch zurückzukommen, wenn es darum geht, eine vorläufige Bilanz zu ziehen und das plakative und stetig wiederholte "Scheitern der Bolivarischen Revolution" einzuordnen, von der Peters spricht.

Eine selbstkritische Analyse der Bolivarischen Revolution muss von der Geschichte ausgehen wie auch von den selbstgesteckten Zielen, die wiederum natürlich nicht ohne die Geschichte zu verstehen sind. Hierfür liefert Stefan Peters eine gut zusammengefasste Chronologie der Erdölabhängigkeit. Ganz im Sinne seines ebenfalls kürzlich erschienenen Bandes zu "Rentengesellschaften" in Lateinamerika4 arbeitet er dabei das Entstehen einer ebensolchen für Venezuela heraus und benennt dabei wichtige Grundlagen, die bis in die Gegenwart fortwirken.

Geschichte des Rentismus

Seit den 1920er und 1930er Jahren spielt Erdöl die zentrale Rolle in Venezuelas Wirtschaft, indem es beispielsweise die Landwirtschaft geradezu "weggefegt" hat (S. 54). Auch andere Wirtschaftszweige wurden marginalisiert, der Staat wiederum "stieg zum zentralen Entwicklungs- und Verteilungsagenten des Landes auf" (S. 55). Dies ist er bis heute. Ebenfalls bis heute lohnt sich die Produktion der Produktion wegen in Venezuela kaum. Sie erscheint höchstens als "notwendiges Übel, um an die Fleischtöpfe der Verteilung der Erdöleinnahmen zu gelangen" (S. 66). So hängt ökonomischer Erfolg nicht am wirtschaftlichen Geschick, sondern am Zugang zum Staat und der Beteiligung an den Renteneinnahmen (S. 79).

Neben staatlich alimentierten Betrieben entstanden in Venezuela auch immer mehr Arbeitsplätze im Staatsdienst. Anfang der 1980er Jahre waren so etwa 40 Prozent der formell Beschäftigten beim Staat angestellt (S. 83). Dies war eine weitere Möglichkeit, an den Renteneinnahmen beteiligt zu werden. In Boomzeiten wird dabei das im Übermaß vorhandene Geld ausgegeben. Gerät der Ölpreis aber in die Krise wie Anfang der 1980er Jahre und zuletzt im Jahr 2014, gibt es immer weniger zu verteilen – ein Grund für die derzeitige Versorgungskrise im Land.

Für den Staat waren dabei die Renteneinnahmen immer essentiell. Eine mit vielen westlichen Ländern vergleichbare Besteuerung von Einkommen gab (und gibt) es nicht, was andererseits auch ein besonderes Verhältnis der Bürger zum Staat nach sich zieht. Er wird als Verteilungsagent der Rohstoffrente gesehen und der "natürliche Anspruch" auf die Rohstoffrente ist "tief in den Mentalitäten und Konventionen der Gesellschaft verankert". Vor diesem Hintergrund hat sich unter den Venezolanern eine Formel weit verbreitet, nach der Venezuela ein reiches Land sei. Sie selbst wiederum sollten Zugang zu diesen Reichtümern haben (S. 87).

Nach dem Ende der Diktatur und dem Pakt von Puntofijo (1958) galt dies zumindest für die Ober- und Mittelschicht, zu der auch die formell beschäftigten Arbeiter unter anderem in der Erdölwirtschaft sowie weitere besagte Staatsbedienstete zählten. Der Staat verteilte die Ölrente, wurde aber nie zum Steuerstaat westlicher Prägung, was auch Rückwirkung auf die Partizipationsmöglichkeiten weiter Teile der Bevölkerung hat. Sie waren eingeschränkt (S. 94).

Eine große und größer werdende Gruppe am Rande der Gesellschaft, die sich gerade im Zuge der Krise der 1980er Jahre mehr und mehr in den Armutsvierteln der Städte sammelte, wurde dabei von der Verteilung der Ölrente weitgehend ausgeschlossen. Sie bildeten 1998 die Basis der Wählerschaft von Hugo Chávez, der auch durch seine eigene Herkunft und Geschichte als Anführer der Benachteiligten in Venezuela glaubhaft war.5 Es war gerade auch der Wunsch, endlich auch am Ölreichtum zu partizipieren, der die Wähler dazu trieb, Chávez zum Präsidenten zu bestimmen. Dass Chávez seine Macht erst festigen konnte, als er 2003 die Macht über den Ölkonzern PdVSA übernahm (S. 107), ist vor dem Hintergrund der Geschichte Venezuelas im 20. Jahrhundert logisch.

In der Folge lebte die Bolivarische Revolution von der Ausbeutung der Ölrente. Chávez versuchte, die Wirtschaft zu diversifizieren, die Abhängigkeit vom Öl zu verringern und glitt doch immer stärker in die Abhängigkeit hinein. Denn zum einen bleibt der Mechanismus, nach dem der Export von großen Mengen an Rohstoffen und die Fokussierung der Wirtschaft auf die Ausbeutung der Ölrente dazu führt, die heimische Währung überzubewerten. Die heimische Wirtschaft hat gegen die verhältnismäßig billigen Importe nur eine Chance, wenn sie vom Staat subventioniert wird – ein Einfallstor für Korruption und Misswirtschaft. Und es kommt noch ein weiterer Grund für die fehlende Produktion hinzu, der oft nur am Rande betrachtet wird, dessen Bedeutung aber nicht unterschätzt werden darf: Es fehlt im Land an Produzentenbewusstsein.

In der Phase des Booms durch hohe Öleinnahmen feierte zwar auch die Oberschicht eine Rohstoffparty und konnte teilweise mehr ausgeben als je zuvor. Aber auch die Bewohner der Barrios, die Basis der Bolivarischen Revolution, konnten sich mehr leisten. Mehr Importe. Denn die Bolivarische Revolution steht eben nicht nur für mehr Partizipation, auf die Peters eingeht, die für ihn aber aufgrund seines Blicks auf die Rentengesellschaft keine so große Rolle spielt wie bei anderen Autoren wie beispielsweise Dario Azzelini.6 Die Bolivarische Revolution steht auch für Konsum in den Barrios. Flachbildfernseher, Kühlschränke und Computer für die Armensiedlungen. Alle importiert und finanziert mit den Ölmilliarden. Partizipation und Konsum müssen dabei zusammen gedacht und in ihrem dialektischen Verhältnis betrachtet werden. Das aktive politische Bewusstsein, das aus dem Kampf um mehr Partizipation erwächst, steht im Widerspruch zum passiven Konsumieren. Es ist damit potentiell auch Ausgangspunkt für eine neue Form bewusster Vergesellschaftung der Menschen.

Alimentierung statt Produktion

Das natürliche Anrecht auf Reichtum, auf ein eigenes Stück vom "Ölkuchen", sahen spätestens nach 2003 (bis etwa 2013/14) nun auch die vormals Ärmsten der Armen erfüllt. Dass es die Venezolaner durch die jahrzehntelange Praxis gewohnt sind, in irgendeiner Weise alimentiert zu werden und nicht selbst zu produzieren, hat tiefe Spuren im Bewusstsein der Venezolaner hinterlassen. Dazu lohnt sich die Produktion kaum. Sie wird wenn überhaupt für die Partizipation an den Öleinnahmen aufrecht erhalten, die der Staat den Produzenten für die vermeintliche Diversifizierung der Wirtschaft zahlt. Dass es da für den Staat oft einfacher ist, das Geld direkt in Importe zu stecken und nicht erst den von Korruption und Misswirtschaft gesäumten Weg der ineffizienten eigenen Produktion zu gehen, erscheint sinnvoll wenngleich ebenso wenig nachhaltig. So wenig nachhaltig wie das Aufrechterhalten des Konsums auf allen Ebenen (insbesondere in der Oberschicht) oder der quasi kostenlose Treibstoff im Land.

"Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt"7, auf diese griffige Formel brachte einst Karl Marx das dialektische Verhältnis der ökonomischen Bedingungen zum Bewusstsein der Menschen, die in ihnen leben. In einer Rentengesellschaft wird die Produktionsweise des materiellen Lebens durch das Abschöpfen der Renten bestimmt. Das bedeutet letztlich: Eine Rentengesellschaft sorgt für ein Rentenbewusstsein. Wo es Konsum und keine Produktion gibt, da fehlt notwendigerweise das Bewusstsein der Menschen, Produzent zu sein (oder auch nur ein solcher potentiell sein zu können). Es fehlt damit letztlich die Einsicht, dass für den gesellschaftlichen Verkehr zwischen den Menschen auch die Produktion von Gebrauchsgütern notwendig ist. Sie verharren in einem passiven Konsumentenbewusstsein, denn die Gebrauchsgüter werden ihnen zur Verfügung gestellt, ohne dass sie sie selbst produzieren müssen.

Stefan Peters hält nichts von einer "Kulturalisierung und Moralisierung politökonomischer Zusammenhänge", wie er schreibt. Denn Rentenzuflüsse würden es auch erlauben, sowohl auf die beständige Suche nach Effizienzsteigerungen sowie eine protestantische Wirtschaftsethik zu verzichten. Renteneinkommen nähmen kapitalistischen Sekundärtugenden so ihre Relevanz (S. 186). Bei dieser positiven Beschreibung der Erdölabhängigkeit, die dem bisher gesagten widerspricht, handelt es sich jedoch um eine schlechte Negation. Das zeigt sich schon in der fehlenden Möglichkeit der Gesellschaft, sich selbst zu versorgen. Eine konstruktive Negation der Kapitallogik wäre der Versuch, eine nachhaltige Gemeinwirtschaft aufzubauen. Hierfür wären aber nicht nur Programme zum Aufbau von Genossenschaften oder der Übernahme von Betrieben notwendig. Diese müssten mit breiten politökonomischen Bildungsoffensiven flankiert werden, um nach und nach das Konsumentenbewusstsein zu transformieren – um diesen Aspekt an dieser Stelle zumindest einmal genannt zu haben.8

Das vorherrschende Massenbewusstsein in der Rentengesellschaft Venezuelas hat weitreichende Folgen für die Organisation der Basis, wie sie in Venezuela in den Consejos Comunales, den kommunalen Räten oder auch den Kommunen beispielhaft realisiert ist. Denn auch diese Organisation ist in der Masse keine Organisation der Produktion, sondern eine der Konsumtion. Es wird vor allem das Geld für (zweifellos notwendige) Infrastrukturprojekte ausgegeben, das vom Staat und damit aus der Ölrente stammt. Gleichzeitig ist sie als aktives politisches Bewusstsein Ansatzpunkt zur Transformation. Dafür gibt es auf lokaler Ebene viele positive Beispiele auch im Feld der Ökonomie.

Krise oder Scheitern?

Die Bolivarische Revolution war und ist auf Öl gebaut. Die historischen Grundlagen und die Folgen für die aktuelle Politik bis hin zu ersten Überlegungen zu den Bewusstseinsformen werden von Stefan Peters gut dargestellt. Er differenziert viele der Bilder, die der Mainstream nur in pauschalem Schwarzweiß zeichnet. Gleichwohl wiederholt er immer wieder seine Bewertung des Scheiterns der Revolution in einer Absolutheit, was aufgrund der Vielschichtigkeit der Situation nicht hilfreich ist. Zweifellos ist der hohe demokratische Anspruch der Revolution, auch das ökonomische und partizipative Programm, wie es in der Verfassung formuliert ist, in den vergangenen Jahren nicht erfüllt worden. Die Politik der Regierung ist dahingehend nach der Hochphase zur Zeit der hohen Rohstoffpreise zwischen 2004 und 2012 vorerst gescheitert. Ökonomisch wie auch sozial, das arbeitet Stefan Peters schlüssig heraus. Dieses Scheitern der Politik der Regierung ist nicht automatisch identisch mit dem Scheitern der Revolution, wenn man diesen Begriff im Sinne der Revolution als Prozess, als Verlaufsform gesellschaftlicher Veränderung begreift. Sie befindet sich dabei immer im internationalen Kontext und muss sich auch in diesem beweisen.

Es sieht nicht danach aus, dass die aktuelle Regierung mit Nicolás Maduro an der Spitze einen Ausweg aus der Krise findet. Die Bolivarische Revolution scheint in ihrem Prozess in eine Sackgasse geraten zu sein, die von Anfang an durch die Erdölabhängigkeit ererbt und damit angelegt sowie gleichzeitig den geografischen und geologischen Gegebenheiten geschuldet war. Aus dieser Sackgasse können die revolutionären Kräfte, kann der revolutionäre Prozess schwer entkommen. Aber ist der Prozess deshalb komplett gescheitert und am Ende? Diese Frage lässt sich vor allem dann beantworten, wenn man die Frage umdreht: Wann wäre die Revolution denn geglückt? Wie und vor allem wann hätte man mit der gleichen Absolutheit, wie jetzt vom Scheitern gesprochen wird, denn von einer geglückten Revolution sprechen können?

Dass Selbstkritik nötig ist und nichts schöngeredet werden darf, ist klar und auch an dieser Stelle stetig wiederholt worden. Gleichzeitig ist es unabdingbar, einen Weg aus der Krise zu suchen – gerade auch für diejenigen, die sich an der Basis in den Armutsvierteln (und anderswo) organisiert haben. Für sie ist die von den USA abhängige Opposition keine Alternative. Die aktuelle Regierung wirkt unter zwei schlechten als die bessere, zumal sie die rückläufigen Einnahmen aus der Erdölrente weiterhin zumindest teilweise an diejenigen verteilt, die ihre Unterstützer sind. Eine Zukunft hat das nur dann, wenn der revolutionäre Prozess wieder Fahrt aufnimmt und die Halbheiten der früheren Versuche grundlegend erkennt und abstellt.

Das heißt insbesondere, dass es eben nicht ausreicht, nur Geld auszuschütten – entweder direkt an das Volk oder über Umwege an die Produzenten, die nur produzieren, um das Geld zu erhalten. Es muss nicht nur die Verteilung der Ölrente verändert werden. Entscheidend für eine wirkliche Änderung der Verhältnisse ist, dass auch das Volk in der Breite ein Bewusstsein für wirkliche Veränderung entwickelt. Die Aufgabe einer politischen Organisation wäre es daher, das politische und ökonomische Bewusstsein des Volkes zu schärfen, Alternativen zur bisherigen Vergesellschaftungsform aufzuzeigen und diese organisiert voranzutreiben – gemeinsam mit dem Volk. Der venezolanische Ökonom Malfred Gerig spricht davon, dass nicht mehr oder weniger als eine "neue Zivilreligion" aufzubauen sei9 – was begrifflich etwas unscharf ist, gleichwohl in die gleiche Richtung zeigt.10

Venezuela muss den Status der Rentengesellschaft überwinden, so schwer dies ist – das macht auch die lehrreiche Lektüre des Buches von Stefan Peters wieder einmal klar. Diese Überwindung kann gerade auch durch die Einbindung in den Weltmarkt nicht bedeuten, den Erdölreichtum zu negieren. Es geht dabei darum, die Chancen wie Risiken des Erdölreichtums historisch und aktuell zu erkennen – hierfür helfen insbesondere Studien wie sie Stefan Peters vorgelegt hat. Davon ausgehend muss eine Transformationsstrategie entwickelt werden, die sich immer wieder den aktuellen Gegebenheiten und Veränderungen anzupassen hat.

Eine wirkliche proletarische Revolution im Sinne von Marx ist, um mit Rudi Dutschkes Worten zu sprechen, "ein langer, lang andauernder Marsch und Prozess, um die Schaffung von neuen Menschen, die fähig sind, nicht eine Clique durch eine andere zu ersetzen – nach der Revolution; sondern massenhaft Demokratisierung von unten, bewusste Produzentendemokratie entgegenzusetzen bürokratischer Herrschaft von oben."11 Jene Produzentendemokratie, von der Dutschke spricht, gilt es für Venezuela im Prozess näher zu bestimmen.

Der Weg dorthin scheint heute auf den ersten Blick schwerer als beispielsweise vor zehn Jahren, zumal die großen Bedrohungen von außen und die Blockade durch die USA es dem Land schwer machen, diesen Weg zu beschreiten. Aus Sicht eines sozialistischen Revolutionärs gibt es gleichwohl dazu keine Alternative. Dabei könnten die Erfahrungen bis hin zur katastrophalen aktuellen Situation helfen, die Sackgassen vermeintlich einfacher Wege wie die eines "Verteilungssozialismus" in einer Rentengesellschaft zu erkennen. Schließlich ist ein solcher auch ein Widerspruch an sich. Denn bei Sozialismus geht es schließlich nicht um die (andere) Verteilung von Gütern, sondern Sozialismus beschreibt einen fundamental anderen Produktionsprozess, eine bewusste Form von Vergesellschaftung.


Stefan Peters, Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela. Aufstieg und Fall der Bolivarischen Revolution von Hugo Chávez, Schmetterling Verlag 2019

  • 1. Vgl. nicht nur zu diesem Aspekt: Venezuela. Der Niedergang des „bolivarischen Sozialismus“ und seine Gründe, in: Gegenstandpunkt 2/2018, S. 79-102
  • 2. Die Seitenzahlen im Folgenden beziehen sich auf dieses Buch.
  • 3. Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Werke Band 8, S. 115.
  • 4. Stefan Peters, Der lateinamerikanische (Neo-)Extraktivismus im transregionalen Vergleich, Baden-Baden 2019
  • 5. Das Buch „Mein erstes Leben“ sei an dieser Stelle nachdrücklich empfohlen: Hugo Chávez/Ignacio Ramonet: Mein erstes Leben, Berlin 2015 (siehe auch zum Thema: Helge Buttkereit: Eine venezolanische Geschichte, https://amerika21.de/analyse/123342/chavez-ramonet).
  • 6. Zuletzt erschienen: Communes and Workers' Control in Venezuela. Building 21st Century Socialism from Below, Chicago 2018
  • 7. MEW 13, S. 8ff.
  • 8. Vgl. Hans-Jürgen-Krahl-Institut: Praktischer Sozialismus, 2. um das Vorwort zur venezolanischen Ausgabe erweiterte Auflage, Bonn 2011 sowie unter anderem darauf aufbauend meine Überlegungen – bei denen die Frage der Erdölabhängigkeit zwar genannt wird aber letztlich doch zu kurz kommt – in: "Wir haben keine Angst mehr". Interviews, Reportagen und Analysen zum bolivarischen Venezuela, Bonn 2011, insbesondere S. 103-140.
  • 9. Vgl. Malfred Gerig: Für eine Zukunft fern des Erdölrentismus, in: https://amerika21.de/analyse/225119/zukunft-ohne-erdoel
  • 10. An dieser Stelle sei Raul Zelik widersprochen, der in seinem jüngsten Text zu Venezuela zum einen von einer "Mentalität der Rentengesellschaft" spricht (vgl. Raul Zelik: Sozialismus? Was sich aus linker Perspektive von Venezuela lernen lässt, März 2019 in: https://www.rosalux.de/publikation/id/40136/sozialismus-1/). Kurz darauf weist er auf die erfolgreiche Kooperative Cecosesola hin, die produziert und maßgeblich zur Versorgung mit Lebensmitteln in ihrer Region beiträgt. "Es ist also nicht die 'Mentalität der Menschen', die solidarische und demokratische Praxis verhindert", so Zelik. In der Tat ist das nicht eine in bürgerlicher Weise abstrakt verstandene "Mentalität", die Probleme bereitet, sondern die konkret definierte "Mentalität der Rentengesellschaft", die ich "Rentenbewusstsein" genannt habe. Und da sich dieses durch die Praxis bildet, wäre Cecosesola mit ihrer konkreten solidarischen und produktiven Praxis gerade ein Beispiel, das meine These stützt. (vgl. zu Cecosesola auf Deutsch: Auf dem Weg – Gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela, Berlin 2012)
  • 11. Aus: Rudi Dutschke – sein jüngstes Portrait, der Film von Wolfgang Venohr wurde vom WDR 1968 erstmals ausgestrahlt und findet sich unter anderem in der DVD 2 des Bandes Rudi Dutschke – Aufrecht Gehen. 1968 und der libertäre Kommunismus, Hamburg 2012