2019: Der Streik der Massen

Auf dass der Massenstreik, der uns bis zum Weihnachtsfest 2019 geführt hat, den Weg in ein wahrhaftig neues Jahr 2020 ebnet

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Protestmarsch gegen den Putsch nach La Paz. Eine Demonstrantin trägt die indigene Wiphala-Fahne
Protestmarsch gegen den Putsch nach La Paz. Eine Demonstrantin trägt die indigene Wiphala-Fahne

Nur wenige Kolumbianer wussten, was die Wiphala1 ist, aber seitdem die Putschpolizei sie von ihren Uniformen gerissen hat und die bolivianischen Faschisten sie in La Paz und anderen Städten verbrannt haben, ist sie zu einem Symbol des lateinamerikanischen Widerstands geworden. Und bei den Massendemonstrationen, die sich seit dem 21. November 2019 in Kolumbien ausbreiten, wehen Tausende von Wiphalas auf den Straßen.

Als die ecuadorianische Polizei die Indigenen in ihren Unterkünften in Quito einkreiste und die Regierung von Lenín Moreno eine Ausgangssperre verhängte, erhob sich die Stadt mit Lärmprotesten (cacerolazo) und die Bevölkerung der Armenviertel ging auf die Straßen. Dies geschah ebenso in Chile, als die Militärpolizei mit massiver Repression in allen Formen auf die Demonstrationen reagierte und die regierung von Sebastián Piñera eine Ausgangssperre verhängte.

Der kolumbianische cacerolazo von 2019 begann mit einer Ausgangssperre in Cali nach den riesigen Mobilisierungen zur Unterstützung des nationalen Streiks. Vorläufer war der cacerolazo von Tunja im Jahre 2013, als der ehemalige Präsident Juan Manuel Santos erklärte, dass "der sogenannte nationale Agrarstreik" gar nicht existiere und die beiden Städte, in denen es bereits keine Lebensmittel mehr gab, sich erhoben, gefolgt von weiteren. Dies war ein traditioneller cazerolazo, bei dem es um Lebensmittelmangel ging, während die cacerolazos in Ecuador und Chile Ausdruck fehlender Freiheiten waren.

In Bogotá sollte die Ausgangssperre am 22. November den cacerolazo stoppen, damit es nicht so läuft wie in Quito oder Santiago. Ein Polizeimanöver mit vielen Gerüchten, ein paar verteilte Vandalen und heulende Alarmanlagen in den Wohnanlagen bewirkten, dass die Anwohner nicht auf ihre Kochtöpfe schlugen, sondern glaubten, sie müssten sich vor vermeintlichen Eindringlingen schützen und sogar die Polizei rufen. Als diese Farce aufgedeckt war, verbreitete sich der cacerolazo in ganz Kolumbien und wurde – ganz ohne Ausgangssperren – zum allgemeinen Ausdruck des landesweiten Erwachens des Protestes gegen die neoliberale Regierung von Iván Duque, diesem Nest der Korruption, die das Friedensabkommen von Havanna in Stücke reißen will.

In Ecuador waren die Indigenen wie bei drei von vier früheren Aufständen die Protagonisten. Indigene, Kleinbauern als auch in die Städte Zugezogene in El Alto, Cochabamba oder Oruro waren die Speerspitze des bolivianischen Widerstands gegen den faschistischen Staatsstreich. Mit dem Erwachen in Chile wurden in allen Städten die Fahnen der Mapuche-Indigenen zahlreicher, und auch Wiphalas wurden gehisst. In Kolumbien waren viele indigene Wachen mit den rot-grünen Fahnen der Nasa des Cauca und Fahren der anderen indigenen Völker bei dem riesigen Marsch des nationalen Generalstreiks am 4. Dezember zu sehen.

Während die lateinamerikanischen Strömungen des Widerstand über die Telepathie von Facebook, Twitter und WhatsApp miteinander verbunden zu sein scheinen, kommunizert zugleich auch der Status Quo und ist vereint in seinen Zielen und Methoden.

Demonstranten das Augenlicht zu zerstören, ist eine verbreitete Taktik, die von der israelischen Armee gegen die Palästinenser angewendet wird. Die kolumbianische Spezialeinheit der Polizei zur Aufstandsbekämpfung (Esmad) setzt sie auch seit zwölf Jahren ein, gegen 20 Indigene im Cauca, gegen einen Fischer in El Quimbo und gegen etliche Studierende. Die ecuadorianische Polizei fügt Menschen regelmäßig Augenverletzungen zu, doch den Rekord halten die chilenischen Carabineros mit mehr als 300 Personen, darunter ein Jugendlicher und eine Frau, die vollständig erblindet sind, sie überholen die Israelis.

Wem die Schuld geben für die Demonstrationen? Einhellige Antwort: Maduro und den Venezolanern, die in Ecuador, Bolivien und Kolumbien festgenommen und deportiert wurden. Den Russen. Dem Forum von São Paulo, so die Version von Ex-Präsident Álvaro Uribe, übernommen von den Anhängern Jair Bolsonaros, die in Brasilien eine Verschwörung zur Schaffung der Union der Sozialistischen Republiken von Lateinamerika (Ursal) erfunden haben – monatelange Stoff für Witze in den sozialen Medien. Die gesamte kolumbianische Rechte gibt [dem linken Politiker und Ex-Guerillero] Gustavo Petro die Schuld und will ihn isolieren. Noch lächerlicher wird es, wenn Kolumbiens Ex-Präsident Andrés Pastrana einen Staatsstreich von Santos gegen Duque erfindet und die Ehefrau des chilenischen Präsidenten Außerirdische beschuldigt.

Die starke Beteiligung von Frauen und jungen Menschen ist auffällig und hat sich vielfältig ausgedrückt. Die chilenische Schüler- und Studierendenbewegung führt seit mehr als zehn Jahren den Kampf für die Wiederherstellung eines öffentlichen Bildungssystem an. Die Schüler, die sogenannten Pinguine, zogen ihren Eltern mit auf die Straße, die ihre eigenen Studienkredit noch nicht ganz zurückgezahlt haben. Auch in Kolumbien ging der großen Präsenz der Jugend bei den Märschen 2019 eine wachsende Mobilisierung von Studierenden zur Verteidigung der öffentlichen Bildung voraus.

Auf den Fotos von den Oktobermärschen und den Zusammenstößen mit der Polizei aus Ecuador sieht man indigene Frauen jeden Alters mit Tüchern vor dem Mund zum Schutz vor Tränengas, ebenso wie die Frauen in Bolivien in ihren langen Röcken, die zuerst von der Polizei in Cochabamba angegriffen und dann zum Ziel der verbalen Aggressionen der putschenden Rassisten wurden. Obwohl sie keine Waffen hatten, haben sie ihren Kamfgeist gegen die bewaffneten Kräfte der Faschisten bewiesen. Die chilenischen und kolumbianischen Frauen, die zu Tausenden demonstriert haben, sind von Carabineros und Esmad brutal angegriffen worden und ihr Mut ist nicht weniger geworden. Die feministische Performance hat sich von Chile aus in die ganze Welt verbreitet.

Alles fing in der Karibik an. Im Juli erhob sich Puerto Rico und stürzte den Gouverneur Ricky Roselló, nachdem er homophobe Beleidigungen und Spott geäußert hatte. Das puerto-ricanische Motto "Wir haben keine Angst mehr" wurde zur Losung der lateinamerikanischen Mobilisierungen. Die Unterstützung und Teilnahme von Künstlern, angefangen bei Residente bis hin zu Ricky Martin, brachte Musik in die Straßenproteste. In Chile und Kolumbien wiederholte sich dies mit anderen Namen, es wurde an den von Pinochet ermordeten Victor Jara erinnert, die Hymne der "Übriggebliebenen" (El baile de los que sobran) wurde wiederentdeckt, hinzu kam der entschlossene Aktivismus der jungen Künstler.

In Haiti, wo die Menschen nichts mehr zu verlieren haben, ist seit Februar der jahrelange Widerstand wieder erstarkt, und das Volk setzt sich Woche für Woche den Projektilen des Regimes aus, es gibt Dutzende Tote. Ein Heldentum, das auch in Ecuador, Chile und besonders in Bolivien zu sehen ist, besonders in Chapare und in El Alto. Haiti ist Inspiration für die wachsenden Afro-Bewegungen in Honduras und Kolumbien, insbesondere seit den Streiks in Buenaventura und im Chocó. Dort wurde ein weiteres nationales Motto von 2019 geprägt: "Das Volk ergibt sich nicht, verdammt nochmal!"

Die Hinterlassenschaften der Staatsstreiche sind der Gegenstand der Proteste in Argentinien, Chile, Bolivien, Haiti und Honduras. In Argentinien stoppte die Streikwelle erst, als die Wahlniederlage Mauricio Macris und seiner neoliberale Wirtschaftspolitik zu erwarten war. Macri und seine Familie profitierten direkt von der Militärdiktatur und den enormen Subventionen für verschuldete Unternehmen. Am 29. Mai legte ein landesweiter Generalstreik Argentinien lahm. Die leergefegten Straßen jenes Maitages waren der Vorbote für die übervollen Straßen des 10. Dezembers, dem Tag des Abschieds von Macri.

In Chile sprangen Schüler über die Drehkreuze der U-Bahnhöfe, um gegen die Fahrpreiserhöhung zu demonstrieren und die daraufhin von Piñera angeordnete brutale Repressionen sorgte lediglich dafür, dass das Volk auf die Straße ging und die Massenbewegung dazu überging, die verfassungsgebende Versammlung zu fordern, um die Verfassung abzuschaffen, in der Pinochet noch lebt.

In Haiti stehen die Kugeln, die das Volk töten, in der Kontinuität der Kugeln, die seit den Putschen gegen Jean-Bertrand Aristide abgefeuert wurden, und diese stammen aus den Herrschaftszeiten von Papa und Nene Doc und den Invasionen der USA.

Der parlamentarische, juristische und militärische Putsch gegen Manuel Zelaya hat Honduras in einen Albtraum geführt, in dem die Ermordung von Führungspersönlichkeiten sozialer Bewegungen, Aktivisten wie der indigenen Bertha Cáceres, ebenso zum Grundton gehört wie die von Unternehmen und Großgrundbesitzern bezahlten Paramilitärs und die Herrschaft des Drogenhandels. All das wurde 2019 massiv infrage gestellt.

In Bolivien agieren wieder die Kräfte, die einst Juan José Torres stürzten. Damals öffneten Paz Estenssoro und seine Nationalistisch-Revolutionäre Bewegung (Movimiento Nacionalista Revolucionario, MNR) in La Paz der Falange aus Santa Cruz und den putschenden Militärs die Türen, damit Hugo Banzer aus Santa Cruz an die Regierung kam. Er verschlang später diejenigen, die ihn ins Präsidentenamt gebracht hatten, die einen zwang er ins Exil und Oberst Andrés Salich Chop, den Befehlshaber des putschenden Militärs, ließ er nach Folterungen aus dem Fenster werfen.

2007/2008 scheiterte der zivil-faschistische Putsch gegen Evo Morales und die neue Verfassung noch, weil das Bürgertum und das Kleinbürgertum von La Paz fürchteten, dass die "Weißen" aus Sucre sich durchsetzen und der Separatismus aus dem Osten des Landes umgesetzt würde, was auch das Militär nicht akzeptieren konnte. Aber im Jahr 2019 stand das gesamte Bürgertum hinter den Putschisten und schaffte es auch, das mestizische Kleinbürgertum von La Paz hinter sich zu bringen. Dieses öffnete den zivilen Faschisten die Türen und auch der Polizei, welche die Wiphalas abriss, indigene Frauen angriff und die Indigenen und den Plurinationalismus verfluchten.

Während Chile sich mobilisiert, um Pinochets Verfassung abzuschaffen, leisten die Indigenen Boliviens Widerstand, um die plurinationale Verfassung gegen die Wiederauferstehung des faschistischen Rassismus zu verteidigen, der wie ein Zombie aus seiner Lethargie erwacht ist und Pompeo, die Bibel, Netanjahu und Trump um Schutz vor "den Ritualen der Indios" anruft.

Kolumbien hat seit 1957 keinen Putsch mehr erlebt, aber eine "eingeschränkte Demokratie", die sich gegenwärtig auf dem amerikanischen Kontinent ausbreitet. Eine Demokratie des Völkermords, in der keine Opposition toleriert und alle 36 Stunden eine soziale Führungspersönlichkeit ermordet wird. Ein seit 70 Jahren andauernder bewaffneter Konflikt, der mit dem Friedensabkommen von Havanna 2016 ein Ende hätte finden können. Aber die aktuelle Regierung will es zerfetzen und hat es geschafft, das Land zur Gewalt zurückzuführen, um die Massenbewegung auszuschalten, die das Regime bedroht, indem sie sich mehr und mehr politisch äußert. Das Erwachen Kolumbiens seit dem 21. November bedeutet, dass die Operation Duque des Mentors Uribe scheitern und es in Kolumbien vielleicht Frieden und soziale Demokratie geben könnte.

Es ist klar, dass der Wunsch nach Frieden die Demonstrationen in Kolumbien geprägt hat, sei es bei den Generalstreiks vom 21. und 27. November oder dem 4. Dezember, auf den übervollen Straßen, wo die Menschen "keine Gewalt!" riefen, ebenso angesichts Tränengras und Blendgranaten; oder auf den leergefegten Straßen der Stadt Barrancabermeja, die am 4. Dezember komplett lahmgelegt war. Aber nicht wegen fehlenden Mutes, sondern wegen des Mutes, den ein Pärchen bewies, das eine junge Frau befreite, die von der Polizei entführt wurde; oder die Großmütter, die von der Polizei verfolgte Jugendliche retteten; oder die Stadtviertel, die Demonstranten in ihre Häuser einließen, die Esmad zerschlug daraufhin ihre Fensterscheiben; oder die indigenen Wachen, die ohne Feuer- oder Stichwaffen auch angesichts bewaffneter Gruppen Widerstand leisteten. Wie in Chile, Bolivien, Ecuador und Haiti ist der Mut in Kolumbien groß.

Preiserhöhungen, Verfassungen, Staatsstreiche, Steuerreformen, cacerolazos, Märsche, Arbeitsniederlegungen, Blockaden, Konzerte, Performances, Zusammenstöße, … aufeinanderfolgende ökonomische und politische Kämpfe, ethnische Kämpfe und miteinander verschränkte Klassenkämpfe, junge Menschen, Frauen, Künstler, Genderfragen, Philosophien, Überzeugungen, Glaube, Hoffnung … alles kommt getrennt zusammen. Das Nationale mit dem Lokalen und Regionalen und mit dem Lateinamerikanischen. Die Gewerkschaften und die formal etablierten zivilgesellschaftlichen Organisationen die zum Streik aufriefen, mit den Demonstrationen und selbst einberufenen Versammlungen, mit dem Informellen, der Spontaneität, der Diversität, mit dem völlig Neuen.

Dieses allgemeine Erwachen des magischen Realismus erinnert uns an Rosa Luxemburgs Theorie des Massenstreiks und das Wissen um das Unerwartete.

Während die Proteste gegen private Rentenfonds in Chile und Kolumbien zunehmen und die x-te Rentenreform durchgesetzt werden soll, findet in Frankreich ein mehrtägiger Generalstreik gegen die anstehenden Rentenreformen statt, und wir denken daran, dass wir gegen die Interessen des transnationalen Kapitals kämpfen, dasselbe, das Ecuador das IWF-Paket aufzwingen wollte (und will)

Der Kampf für den Frieden in Kolumbien und Lateinamerika ruft uns ins Gedächtnis, dass der imperialistische Krieg den Irak, Libyen und Syrien bereits zerstört hat und den Jemen zerstört, dass Palästina einen Völkermord erleidet, dass in Syrien der Norden von der Türkei und der ölreiche Nordosten von den USA eingenommen wurde.

Wir befinden uns in einem Kampf um die Erde. Diese Mutter Erde, die es ermöglicht, dass indigene Völker mit 500.000 Menschen und Greta Thunberg auf den Straßen von Madrid demonstrieren. Die Menschheit entdeckt, dass die Erde weder zum Verkauf noch zum Kauf steht – und gibt damit den indigenen Völkern recht. Dies ist die Revolution von heute: Sie ist plurinational, divers, feministisch, und wenn sie bis zum Ende geführt wird, antikapitalistisch. Vorläufig geht in Chile der Kampf für die souveräne Verfassung weiter, Bolivien widersteht und Kolumbien lässt nicht locker.

Auf dass der Massenstreik, der uns bis zum Weihnachtsfest 2019 geführt hat, den Weg in ein wahrhaftig neues Jahr 2020 ebnet.

  • 1. Fahne der Indigenen, seit 2009 in Bolivien der Nationalflagge gleichgestellt