Paradigmenwechsel in Argentinien

Präsident Milei demontiert die Politik der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit für die Argentinien in der Region und weltweit bekannt ist

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Menschenketten vor dem ehemaligen Haft-, Folter-, und Vernichtungszentrum Olimpo im August 2024
Menschenketten vor dem ehemaligen Haft-, Folter-, und Vernichtungszentrum Olimpo im August 2024

Argentinien erlebt seit dem Antritt der Regierung unter Javier Milei einen bedeutenden Paradigmenwechsel. Die Erinnerungskultur an die Verbrechen während der argentinischen Diktatur zwischen 1979 und 1983 verkommt immer mehr zu einer Verachtungskultur des zivilgesellschaftlichen Engagements für die Aufarbeitung der Vergangenheit. Öffentliche Sympathiekundgebungen für verurteilte Militärangehörige rehabilitieren die Täter, während deren Opfer um ihre Entschädigungszahlungen kämpfen müssen.

Aufarbeitung der Verbrechen des Staatsterrorismus wird delegitimiert

Seit seinem Amtsantritt vor knapp acht Monaten demontiert der argentinische Präsident die Politik der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit, für die Argentinien in der Region und weltweit bekannt ist. Errungenschaften der letzten Jahrzehnte in der Erinnerungspolitik werden zunichte gemacht: Milei entzieht den zuständigen Regierungsstellen die Mittel, entlässt deren Mitarbeiter:innen, baut Programme ab und ändert Vorschriften, die den Zugang zu Archiven für die juristische und historische Forschung erschweren.

Dieser Angriff wird von Debatten begleitet, die die Strafprozesse zur Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit delegitimieren. Zum Beispiel indem die Straffreiheitsgesetze und Begnadigungen der 1980er und 1990er Jahre gelobt oder Positionen lauter werden, dass die Streitkräfte in den letzten Jahrzehnten durch die kritische Aufarbeitung der Vergangenheit gedemütigt würden.

Diese Rückschritte in der Erinnerungsarbeit spitzten sich vor einem Monat zu, als ein Foto von einem regierungsnahen Kongressabgeordneten mit einem wegen Folter und Mord während der letzten Diktatur einsitzenden Verurteilten in einem Bundesgefängnis öffentlich wurde.

Vier Jahrzehnte nach der Rückkehr der Demokratie besteht die Gefahr, dass die rote Linie, die nur mit großen gesellschaftlichen und institutionellen Anstrengungen gezogen werden konnte, wieder verschwindet.

Am 24. März 2024 jährte sich zum 48. Mal der Militärputsch in Argentinien. Die Diktatur dauerte sieben Jahre und hinterließ Zehntausende Verschwundene, Ermordete, Verbannte und Inhaftierte, etwa 500 gestohlene Kinder, deren Identität vertauscht wurde, sowie ein in diesem Land bis dahin unbekanntes Ausmaß an Armut und Auslandsverschuldung.

Unmittelbar nach dem Ende der Diktatur im Jahr 1983 begann ein nachhaltiger Prozess der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit, der im Laufe der Jahrzehnte verschiedene Etappen durchlief, mit Schwankungen und nie frei von Schwierigkeiten. Über die Jahre engagierten sich verschiedene Verwaltungseinrichtungen, die drei Staatsgewalten und die Staatsanwaltschaft als außerparlamentarisches Organ gemeinsam, was von einem Großteil der Gesellschaft getragen wurde.

Herbe Rückschläge in der Erinnerungspolitik

Besonders betroffen von den gegenwärtigen Angriffen auf die Erinnerungsarbeit sind die Verfolgung und Bestrafung der Verantwortlichen für die während der Diktatur begangenen Massenverbrechen, sowie die Freigabe und Untersuchung der Archive der Streit- und Sicherheitskräfte. Auch Prozesse der Wiedergutmachung für die Opfer, der Suche nach den gestohlenen Säuglingen und Kindern und der Wiederaufbau der mit der Unterdrückung in Verbindung stehenden Orte, um sie als Erinnerungsorte neu zu beleben, sind bedroht.

In Bezug auf die juristische Aufarbeitung ist eines besonders alarmierend: Präsident Milei lobte kürzlich die Begnadigungen von Militärs zwischen 1989 und 1990, Vizepräsidentin Victoria Villarruel ermutigte die Suche nach einer "juristischen Lösung" für die Inhaftierten und die Ministerin für Sicherheit, Patricia Bullrich, betonte, es gäbe Inhaftierte "ohne Grund" und dass [die Inhaftierung] "zu einem Racheakt geworden ist".

Beamte des Verteidigungsministeriums besuchten hochrangige Mitglieder der damaligen repressiven Militär- und Polizeistruktur, die wegen Verbrechen gegen die Menschheit inhaftiert sind. Außerdem trafen sich sechs Abgeordnete der Regierungspartei mit Personen, die wegen Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt wurden, um Strategien zur Straffreiheit zu entwickeln.

In den letzten eineinhalb Jahren stützte sich die Aufarbeitung in Argentinien auf den Beitrag der staatlichen Archive der Streit- und Sicherheitskräfte, die 2010 freigegeben wurden. Es gab Fortschritte hinsichtlich der Zusammenstellung und Analyse von Dokumenten in wichtigen Bereichen wie dem Verteidigungs- und dem Sicherheitsministerium.

Dies ermöglichte, die Strukturen und Befehlsketten des repressiven Systems zu verstehen und Verantwortliche im Militärpersonal zu identifizieren. Das derzeitige Verteidigungsministerium beendete diese Arbeit, indem Mitarbeiter:innen seitens der Regierung als "Verfolgungsgruppe“ und des McCarthyismus bezichtigt wurden, sowie ihre Rechtmäßigkeit als "parajuristisch“ diffamiert wurde.

Darüber hinaus weigerten sich sowohl das Verteidigungs- als auch das Sicherheitsministerium, auf die von der Nationalen Kommission für das Recht auf Identität (Conadi) gestellten Anträge Auskünften über die Archive der Streit- und Sicherheitskräfte zu geben.

Die 1992 gegründete Stiftung sucht nach Kindern, die während der Militärdiktatur verschwunden sind und zumeist von Familien adoptiert wurden, die Streit- und Sicherheitskräften nahe standen.

Die Regierung beschloss außerdem, die der Conadi unterstellte Sonderermittlungseinheit (UEI) aufzulösen und damit auch ihren direkten Zugriff auf Archive einzustellen, wodurch bisher Fälle von Kindesdiebstahl dokumentiert und die Ermittlungen der Richter:innen und Staatsanwält:innen unterstützt werden konnten.

Autoritären Konsens wieder herstellen

Argentinien war Vorreiter in der Region bei der Verabschiedung eines progressiven Gesetzes für Gedenkstätten. Das Gesetz sieht Kennzeichnung von Orten vor, die als geheime Zentren für Inhaftierung, Folter und Vernichtung dienten als auch die Unterstützung Gedenkstätten durch Bildungs-, Kultur-, Kunst- und Forschungsaktivitäten. All das dient der Vermittlung und Förderung der Menschenrechte.

Die Regierung halbierte zunächst die Stellen des Nationalen Sekretariats für Menschenrechte. Und obwohl ein großer Teil der Mitarbeiter:innen wieder eingestellt wurde, sind ihre Verträge nun auf drei Monate befristet. Dies bringt nicht nur die Mitarbeiter:innen in eine prekäre Lage, sondern auch die Nachhaltigkeit dieser Einrichtungen. Gleichwohl sind die Räume unterfinanziert, und die geplanten Infrastrukturarbeiten wurden vollständig eingestellt.

Der symbolträchtigste dieser wiedergewonnenen Erinnerungsräume auf nationaler und internationaler Ebene ist die Schule der Seestreitkräfte (ESMA), die zum Nationalen Historischen Denkmal, zum Kulturgut der Wirtschaftsorganisation Mercosur und zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurde.

Im Mai besichtigte eine Gruppe von Unteroffizieren der Marine das Gelände, die an zwei symbolträchtigen Orten den Marsch der Marine anstimmten und ein Loblied auf die ESMA sangen. Vor einem der an den Todesflügen eingesetzten Flugzeuge haben sie Selbstporträts aufgenommen. Die beteiligten Besucher:innen teilten die Fotos in den Sozialen Medien mit expliziten Botschaften, in denen sie ihren Besuch als einen Akt der Rückeroberung eines "usurpierten Raums" bezeichneten. Auf eine öffentliche Anfrage zur Erklärung, spielte Verteidigungsminister Luis Petri den Vorfall herunter.

Die mit der Erfahrung des Staatsterrorismus verbundene Vermittlungsarbeit, die an Gedenkstätten und auch von Lehrenden in Bildungseinrichtungen geleistet wird, wird heute von der Regierung als "Aktion der Indoktrination" bezeichnet und als Mittel verzerrender oder bösartiger Darstellungen disqualifiziert.

Gleichzeitig verwenden hochrangige Beamte eine breite Palette von Argumenten, die typisch für das Repertoire der Leugner:innen oder Relativist:innen sind: Sie schaffen Kontroversen über die Opferzahlen, leugnen den systematischen Charakter der begangenen Verbrechen, verharmlosen oder ignorieren diese, rechtfertigen die staatliche Gewalt, entmenschlichen die Opfer und diskreditieren Aktivist:innen im Kampf um Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit.

Anspruch auf finanzielle Entschädigung für die Opfer landet auf dem Prüfstand

Auch die Politik der finanziellen Wiedergutmachung für die Opfer des Staatsterrorismus, die seit 1990 unter wechselnden Regierungen fortgesetzt, aufrechterhalten und ausgeweitet wurde, ist in Gefahr.

Der Minister für Justiz und Menschenrechte kündigte eine umfassende Prüfung aller laufenden Entschädigungsanträge an, die 22.500 Akten umfassen würde. Das Ministerium teilte mit, dass während der laufenden Prüfung "die Zahlungen gestoppt werden" und begründete die Entscheidung mit der Annahme, dass es sich um "ein Festival der Zahlungen, der Schaffung von Strukturen, um Geld vom Staat zu erhalten" handele, in der klaren Absicht, die Erinnerungspolitik zu delegitimieren.

Deren Demontage erfolgt im Zusammenhang wiederholter Erklärungen des Präsidenten, der Vizepräsidentin und verschiedener Minister, die sich gegen den Prozess der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit und für die Gewaltakte der Streitkräfte während der Diktatur aussprechen.

Im Kabinett herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass man "die Vergangenheit hinter sich lassen" muss. Die neue Regierung fördert eine Verachtungskultur für den Prozess der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit, während sie gleichzeitig die Lehren der letzten Jahrzehnte verwirft und die Akteur:innen stigmatisiert, die diese vorangetrieben und weitergeführt haben.

Dieser Paradigmenwechsel zwingt die Teile der Gesellschaft in die Defensive, die seit der Wiederherstellung der Demokratie im Jahr 1983, unter verschiedenen Regierungen und mit dem Engagement aller Staatsgewalten eine Erinnerungsarbeit und Aufarbeitung der Verbrechen aufgebaut haben. Letztlich handelt es sich um den Versuch, die kritische Bilanz der Diktaturerfahrung umzuschreiben, die die argentinische Gesellschaft über Jahrzehnte mühsam aufgebaut hat, um die Gültigkeit autoritären Konsenses wiederherzustellen.

Verónica Torras aus Argentinien ist Hochschulabsolventin in Philosophie, Geschäftsführerin von Memoria Abierta (Offenes Gedächtnis) und Mitglied der renommierten Menschenrechtsorganisation Cels (Zentrums für Rechts- und Sozialwissenschaften)

Der Beitrag ist erschienen in den Lateinamerika Nachrichten 603/604