Eine Flagge in den Boden pflanzen und nach sechs Monaten Planung und Vorbereitung mit der Landarbeit beginnen: Mit diesem Ziel arbeitet die brasilianische Landlosenbewegung (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, MST) seit dem 13. April in Vergareña beim Anbau von Lebensmitteln nach agroökologischen Prinzipien mit. Es ist ein Gebiet von über 180.000 Hektar Land im Süden Venezuelas.
Das Motto: die Ernährungssouveränität des Landes sichern
Brasil de Fato war fünf Tage lang in Vergareña und begleitete die Ankunft von Mitgliedern der MST und der Unión Comunera, letztere der größte Zusammenschluss der venezolanischen Kommunen mit starkem inneren Zusammenhalt1. Sie hatten von der Regierung bereitgestellte Ausrüstung zur Verfügung und waren gekommen, um mit der Einrichtung des Lagers zu beginnen.
Die MST stellte zunächst klar, dass ihr keinerlei Land von der venezolanischen Regierung geschenkt wurde. Im Gegensatz zu dem, was brasilianische Zeitungen in den letzten Wochen berichteten, wird die Bewegung lediglich für die Verwaltung und logistische Unterstützung des Programms "Patria Grande do Sul" zuständig sein. Das Projekt zielt darauf ab, eine breite Palette von Lebensmitteln in ausreichender Menge zu produzieren, um einen beträchtlichen Teil des Landes zu versorgen.
Neben der Erzeugung gesunder Lebensmittel und der Öffnung des Zugangs der Bevölkerung zu Qualitätsprodukten will die Regierung auch ein größeres Angebot, um die Marktpreise für die Venezolaner zu senken. Zu diesem Zweck hat Präsident Nicolás Maduro die MST gebeten, die Arbeiten in der Region zu koordinieren.
Nach einer gründlichen Untersuchung der Gegend durch das Landwirtschaftsministerium hat die MST festgelegt, wo die Parzellen für die Produktion der einzelnen Lebensmittel liegen werden, hat die Wohnflächen für die Familien bestimmt und schon mit den Vorbereitungen für die Einrichtungen begonnen.
Die brasilianischen Aktivisten wurden in den letzten Wochen nach und nach vom Militär in Vergareña in Empfang genommen. Der Standort liegt 90 Kilometer von Puerto Ordaz entfernt, dem Zentrum der Region Oriente im Osten Venezuelas. Um dorthin zu gelangen, muss man zwei Stunden auf asphaltierten Straßen fahren und weitere zwei Stunden auf unbefestigter Piste oder man muss ein einmotoriges Flugzeug nehmen und auf einer unbefestigten Landebahn neben den Häusern landen.
Was auch eine der Schwierigkeiten für das Projekt ist. Für Rosana Fernandes, die Koordinatorin der MST-Brigade in Venezuela, sind Hauptprobleme nicht nur der Zugang zum Ort, sondern auch die Vermarktung der produzierten Lebensmittel.
"Ein Hindernis für die Vermarktung der hergestellten Güter ist sicher die Infrastruktur. Es ist eine Mühsal, Vergareña von Puerto Ordaz oder anderen großen Städten aus zu erreichen. Aber dafür ist die Regierung zuständig", erklärte sie Brasil de Fato.
Die Regierung und die Bewegung halten es dennoch für sinnvoll, das Gebiet zu entwickeln, das bei viel Fläche nur dünn besiedelt ist. Insgesamt leben weniger als 60.000 Menschen im Bezirk Angostura, zu dem Vergareña gehört. Dieser Bezirk so groß wie der brasilianische Bundesstaat Paraíba.
Aufbau des Lagers
Als Erstes geht es um Aufbau und Einrichtung des Lagers, in dem die Familien untergebracht werden. Es ist ähnlich dem, was die Bewegung in Brasilien macht, hat aber Unterschiede in den einzelnen Etappen. Der erste Unterschied besteht bei der Frage, wie man das Land bekommt.
Anders als in Brasilien muss die MST nicht selber nach unproduktivem Boden auf Latifundien oder Großgrundbesitz suchen. Das Land gehört schon der venezolanischen Regierung und das Ministerium für Landwirtschaft selbst hatte für die Bodenprüfungen gesorgt.
Für Gessica Lima dos Santos, Agrarökologin und verantwortlich für das venezolanische Projekt, hat dies den Prozess erheblich beschleunigt, der in Brasilien viel Zeit erfordert hätte und auch Kampf um die Einhaltung der Gesetze.
"Hier haben wir schon, wofür wir in Brasilien 30 oder 40 Jahre brauchen würden. Wir haben bereits das Land und die Regierung selbst macht uns alle notwendigen Werkzeuge verfügbar, um den Wohnbereich aufzubauen. Es ist nicht wie in Brasilien, wo wir Land und Boden erst untersuchen und verstehen müssten. Und selbst dann hätten wir dort noch Konflikte mit den Landbesitzern, und es wäre ein sehr langer Kampf", erklärt sie Brasil de Fato.
Im Lager sollen zunächst 300 Familien leben, die im Anbau arbeiten. Für diese Menschen muss man Bad, Küche und Schlafzimmer einrichten, dazu Freizeitbereiche wie einen Fußballplatz. Außerdem Orte für Ausbildung, eine der Säulen der MST. Deswegen wird es eine Schule für politische und agrarökologische Bildung geben. Dort werden die Campesinos ausgebildet, unter anderem damit sie wissen, wie man Saatgut für die Aussaat herstellt.
Auch einen Versammlungsraum für Debatten und Beschlüsse soll es geben.
All diese Einrichtungen sind 40 Kilometer weit weg von der AgroFANB, der Landwirtschaftsabteilung der Bolivarischen Streitkräfte. Dort befindet sich das Militär dieser Region und dorthin gelangen Ausrüstung, Nachschub und die ersten Personen, die ankommen.
Der Zugang erfolgt mit kleinen Flugzeugen, die auf einer Graspiste landen, oder mit dem Auto von Puerto Ordaz,Teil der Hauptstadt des Bundesstaates Bolívar. Es ist weit weg von größeren Städten, aber sobald das Projekt läuft, werden diese 300 Familien in Vergareña arbeiten. Die Gruppe wird hauptsächlich von der Unión Comunera mobilisiert. Untergebracht werden die Menschen in dem von der MST und vom Landwirtschaftsministerium eingerichteten Wohnbereich.
Das Wohnlager wurde an einem geografisch vorteilhaften Platz angelegt, der außer Zugang zur Militäreinrichtung von Vergareña auch einfache Verbindungen zu anderen Punkten der Gegend bietet, außerdem auf einer Anhöhe gelegen ist, mit gutem Blick über das ganze Gebiet.
Agroökologie als Grundlage
Das Konzept der MST basiert auf Agrarökologie, genauer auf Agroforstwirtschaft (Agrofloresta)2, was auch in Vergareña so gemacht werden soll. Diese Form der Produktion erhält den Boden und die Biomasse, um gesunde Nahrungsmittel für die lokalen Gemeinschaften zu liefern, und dient außerdem der Versorgung des Marktes ‒ und das ohne den Einsatz von Agrochemikalien.
Für Rosana Fernandes, Koordinatorin der MST-Brigade in Venezuela, verändert diese Form der Lebensmittelproduktion auch die sozialen Beziehungen. Sie betont, dass der Einsatz von Agrarökologie nicht nur eine technische Frage, sondern auch eine politische Entscheidung ist.
"Dieses Modell stellt sich dem Kapital und der Klimakrise entgegen und es hilft, die Ernährung des Landes unabhängig zu machen. Für die MST sind Agrarökologie und Agroforstwirtschaft Auswege aus der Krise. Die MST solidarisiert sich mit dem venezolanischen Volk, mit dessen Klassenauseinandersetzung und dessen Souveränität. Es geht nicht nur um gesunde Lebensmittel, es geht auch um gute und gleichberechtigte menschliche Beziehungen", betont sie.
Einer der wichtigsten Punkte für die MST ist die Art und Weise, wie das Land gerodet und gesäubert wird. Heute wird in den Gemeinden vielfach lokal abgebrannt, um rasch neu anpflanzen zu können. Laut den Forstfachleuten der MST erhöht das zwar zunächst die Produktion, aber häufiges Wiederholen dieser Praxis schädigt den Boden und verringert den Ertrag mit jeder neuen Ernte.
Vergareña weist eine geografische Besonderheit auf: Es ist ein Übergangsgebiet zwischen dem feuchten Amazonas und der trockenen Savanne. Daher schadet Feuer auch der Artenvielfalt an Orten, wo die Arten unterschiedlicher Gebiete sich mischen.
Für Gessica Lima ist es die größte Schwierigkeit für die Agroforstwirtschaft, die Denkweisen der Erzeuger, die im Gebiet arbeiten, zu ändern. Nach ihrer Einschätzung ist es unabdingbar für den Erfolg jeder Agrarwirtschaft, außer der verwendeten Technik auch die Traditionen zu ändern.
Ohne Moos nix los
Ihnen gefällt die Berichterstattung von amerika21? Damit wir weitermachen können, brauchen wir Ihre Unterstützung.
"Wir entwickeln eine agrarökologische Bewegung im kritischen Sinne und manchmal sind wir frustriert über das, was wir am Ort vorfinden. Aber wir müssen anerkennen, dass wir in einem kapitalistischen System leben. Die Praktiken, die man macht, sind die Praktiken, die einem vorgeführt werden. Es sind Jahre der Bodendegradierung, des konventionellen Anbaus, die dieses System aufrechterhalten", sagt sie.
Für Altamir Bastos spielen auch die Bedingungen eine Rolle, unter denen die Bevölkerung arbeitet. Seiner Meinung nach erfordert eine geänderte Produktion auch Ausrüstung, die die Arbeit besser und leichter macht, was aber für die Menschen im Landesinneren teuer und schwer zugänglich ist.
"Wir sehen, dass die Menschen das Feuer benutzen, weil sie keinen Zugang zu adäquater Ausrüstung haben. Sie können es sich nicht leisten, einen Traktor zu kaufen, nicht einmal kollektiv, oder jemanden bezahlen, der kommt und das Land vorbereitet. Also nutzen sie Feuer, um anbauen zu können. Das ist die übliche Form, das Land zu säubern, um säen zu können, und außerdem wird noch viel Gift gespritzt", beklagt er.
Die venezolanische Regierung hat chinesische Landmaschinen angeschafft, um die Produktion zu erleichtern, Elektrosensen, Traktoren, Schlepper und Düngemittel sind schon gekauft und wurden nach Vergareña gebracht.
Organisation und Produktion
Die Aufgabenverteilung wurde in Arbeitsgruppen festgelegt. Den Bedürfnissen der Ansiedlung entsprechend ist jede Gruppe für einen eigenen Bereich zuständig: Gesundheit, Sicherheit, Transport und Reinigung sind einige davon.
Ein wichtiger Punkt ist die Lage der Felder für die einzelnen Lebensmittel. Ein Team ist verantwortlich für die Auswahl zunächst kleinerer Flächen, eine Art "Schaufenster", um die Produktion erst in kleinem Maßstab zu testen, bevor man sie ausweitet. Die Absicht ist, den Boden auszuprobieren und die Art, wie man den Anbau handhabt, und außerdem sollen Vorzeigemuster auf den Markt gebracht werden.
All dies wird koordiniert von Vertretern der MST, der Unión Comunera und der Regierung. Es gibt eine Exekutive mit Mitgliedern der genannten drei Gruppen und dazu eine allgemeine Aufsicht mit Technikern der MST und Beteiligung der Politik.
Für Gessica Lima macht die Regierungsbeteiligung einen großen Unterschied für die Organisation des Lagers und die Produktion, sie sei eine Hilfe bei der Vermarktung der Produkte. Eines der Ziele der MST, betont sie, bestehe darin, in die Beziehungen zwischen der Regierung und dem venezolanischen Volk Einblick zu nehmen.
"Es ist eine staatliche Struktur. Es gibt die Verbindung zur Regierung, aber trotzdem muss man einen gewissen Druck aufrechterhalten, damit etwas passiert, etwa bei der Kommerzialisierung der Produkte. Die MST ist gekommen, um das zu organisieren, aber auch, um die Verbindung zwischen Regierung und den Menschen besser zu verstehen", betont sie.
Jetzt zu Beginn wird nur auf 4.200 Hektar gearbeitet, es geht zunächst um den Übergang weg von der überkommenen Produktionsform zu einem agrarökologischen System. Gegenwärtig leben indigene Gemeinden im Bezirk Vergareña, es gibt fünf Kommunale Räte, dazu das Militär.
Die wichtigsten in der Region erzeugten Lebensmittel sind Süßkartoffeln, Papaya, Maniok, Bananen, Kürbisse und Zuckerrohr. Davon sind Bananen mit 1.125 Tonnen pro Jahr das am meisten produzierte Produkt. Es gibt auch Tierzucht, 42 Tonnen Käse pro Jahr und 42 Tonnen Fleisch. Ziel ist es, die Produktion nicht nur mengenmäßig zu erweitern, sondern auch vielfältiger zu machen.
Die Ziele bis zum Winter 2025 sind 30.000 Tonnen Mais, 1.500 Tonnen Bohnen und 1.000 Tonnen Hühnerfleisch, alles in agroökologischer Weise erzeugt.
Neben der ausreichenden Produktion nennen Regierung und MST weitere Ziele: Eine erfolgreiche Ernte 2025, die schrittweise Erweiterung der Wohnbereiche mit weiteren Familien und Hilfe bei der gemeinsamen Vermarktung als öffentliche Aufgabe.
Ferner sollen Kredite bereitgestellt werden, dazu ein öffentlicher Beschaffungsfonds für die Produkte sowie der Aufbau einer lokalen Agrarindustrie mit Fokus auf kollektive Arbeit und Selbstverwaltung durch die Familien. Im Rahmen von "Patria Grande do Sul" soll es eine Datenerhebung im Bereich Landwirtschaft geben.
Die Regierung erhofft sich direkte Auswirkungen auf eine nachhaltige, wirtschaftliche Entwicklung in der Region, ferner Verbesserung der Lebensqualität der Menschen und Stärkung des regionalen Zusammenhalts. Technische Ausbildung und politische Bildung sollen in der Schule verwirklicht werden, die die MST einrichtet.
Es gibt einen Unterschied bei dem, was die MST in Brasilien macht und hier in Venezuela. Dort kämpft die MST um eine Agrarreform, hier geht es darum, bei der Produktion zu helfen und technisches Wissen weiterzugeben.
"Wir kommen nicht hierher, um direkt in Fragen der Produktion einzugreifen. Wir sind hier, um Möglichkeiten dafür zu schaffen. In Brasilien ist alles viel schwieriger, weil wir keine gute Beziehung zur Regierung haben. Hier ist das anders, das venezolanische Volk hat ein gutes Verhältnis zur Regierung", sagte Lima.
Gemeinsam mit der Unión Comunera
Obwohl die MST das Projekt leitet, wird es die Verwaltung im Laufe der Zeit an die Unión Comunera abgeben. Die brasilianische Bewegung sieht sich kompetent in Technik und kennt Agrarökologie, die Unión Comunera weiß, wie sie venezolanische Familien organisiert und wie man systematisch produziert.
"Wir werden hier nicht die Hauptpersonen sein. Die Hauptrolle fällt der Unión Comunera zu, denn die steht an vorderer Front und organisiert die Basis und die Kommunen, und das stärkt natürlich die Bewegung: gemeinsam Neues machen, begeistern und aufbauen", erklärt Gessica Lima.
Am vergangenen Wochenende kamen die venezolanischen Aktivisten aufs Gelände, um gemeinsam mit der MST den Wohnbereich aufzubauen und ihre Techniken kennenzulernen. Die Beziehung zwischen den beiden Gruppen begann mit der Gründung der venezolanischen Organisation, an der die MST aktiv beteiligt war.
Die Geschichte von Vergareña
Der "Hato da Vergareña" wurde 1953 vom damaligen Gouverneur des Bundesstaates Bolívar, Horacio Cabrera, gegründet. Der Standort war auf Rinderzucht ausgerichtet und wurde später an den US-amerikanischen Geschäftsmann Daniel Keith Ludwig verkauft. Dessen Vorstellung war, Vergareña zu einem wichtigen Produktionszentrum im Bundesstaat zu machen. Zu diesem Zweck brachte er 18.000 Stück Vieh in die Region.
Der damalige Präsident Hugo Chávez änderte 2005 die Zielsetzung von Vergareña, Er begann die Debatte über eine Agrarreform, sprach über brachliegendes Land und über Grundstücke, für die es keine rechtlichen Dokumente gab. Dazu kam eine veränderte Haltung den Bergbauaktivitäten gegenüber, die Regierung versuchte, die für den illegalen Bergbau genutzten Gebiete für den Staat zurückzugewinnen.
Die Regierung Chávez kaufte 2006 das 180.000 Hektar große Gebiet Vergareña. Sie startete eine Reihe von Forst- und Landwirtschaftsprojekten gestützt auf die Agrokooperation "Fundos Zamoranos".
AgroFANB (Empresa Agropecuaria de la Fuerza Armada Nacional Bolivariana) ist ein Projekt des Militärs, das ebenfalls im Gebiet Vergareña mit der Wiederbelebung der regionalen Landwirtschaft begann.
- 1. Die Kommunen (Comunas) sind Zusammenschlüsse mehrerer Consejos Comunales auf lokaler Ebene. Die Consejos Comunales (Kommunale Räte) sind eine Struktur der Selbstverwaltung in den Gemeinden. Gewählte Nachbarschaftsvertreter sind zur Planung und Haushaltsgestaltung in lokalpolitischen Angelegenheiten berechtigt. Sie sind seit 2010 bzw. 2006 gesetzlich verankert, haben Verfassungsrang und sollen die Grundlage für den Kommunalen Staat bilden. Ziel ist die Selbstregierung des Volkes und die Überwindung des bürgerlichen Staates. Chávez bezeichnete die Kommunen als "Keimzelle für den Aufbau des Sozialismus".
- 2. Siehe https://agroforst-info.de/agroforstwirtschaft/