Ignacio Ramonet zu Libyen und Lateinamerika: Recht und Unrecht

Das Schweigen der fortschrittlichen Regierungen Lateinamerikas zu Libyen und den arabischen Aufständen

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Ignacio Ramonet
Ignacio Ramonet

Die libyschen Aufständischen verdienen die Hilfe aller Demokraten. Oberst Gaddafi ist unhaltbar. Der internationalen Koalition, die ihn angreift, fehlt es an Glaubwürdigkeit. Eine Demokratie kann man nicht mit ausländischen Bomben aufbauen.

Diese vier Thesen rufen besonders unter den Linken ein gewisses Unbehagen hervor, da sie zum Teil widersprüchlich sind. Der Aufstand in den arabischen Gesellschaften ist international das bedeutendste Ereignis seit dem Scheitern des Staatssozialismus 1989. Der Fall der Mauer aus Angst in den arabischen Autokratien ist gleichzusetzen mit dem Fall der Berliner Mauer. Ein genau so großes weltweites Erdbeben. Weil es im Epizentrum des “Störfaktors” dieses Planeten stattfindet, verändert diese Welle die gesamte Geopolitik der Welt inmitten von Krisen von Pakistan bis zur Westsahara, vom Iran, Afghanistan, Libanon, Palästina, Somalia, Sudan bis Darfur.

Etwas ist für immer zerbrochen in der arabischen Welt an diesem 14. Januar. An diesem Tag gelang es den tunesischen Demonstranten, die seit Wochen Freiheit und Demokratie gefordert hatten, den Despoten Ben Ali zu stürzen. So begann das Ende der alten arabischen Tyrannen. In Ägypten, dem Herzen des politischen arabischen Lebens, verjagte eine mächtige Protestbewegung einen Monat später General Hosni Mubarak von der Macht. Als ob sie auf einmal entdeckt hätten, dass die autoritären Regime von Marokko bis Bahrein auf Sand gebaut sind, stürzten sich Tausende Bürger auf die Plätze der Städte und schrien in die Welt, dass sie von Diktaturen und Sozialabbau die Nase endgültig voll haben.1

Die gewaltige und spontane Kraft dieses Freiheitsdrangs überraschte die Staatskanzleien in aller Welt. Als mit dem Westen verbündete Diktaturen (Tunesien, Ägypten, Marokko, Jordanien, Saudi Arabien, Bahrein, Irak, Jemen) betroffen waren, verharrten die westlichen Hauptstädte, angefangen von Washington über London und Paris, in vorsichtigem Stillschweigen oder ließen Erklärungen verlautbaren, die ihr tiefes Unbehagen deutlich machten, ihre “befreundeten Diktaturen” verschwinden zu sehen. 2

In dieser ersten Phase von Mitte Dezember bis Mitte Februar war noch etwas anderes sehr viel überraschender: das Schweigen der fortschrittlichen Regierungen Lateinamerikas, die von einem großen Teil der Linken auf der ganzen Welt als ihr wichtigster gegenwärtiger Bezugspunkt angesehen werden. Regierungen, die durch Wahlen an die Macht gekommen sind, unterstützt durch große Volksbewegungen (wie in Venezuela, Brasilien, Uruguay und Paraguay) oder die (wie in Ecuador, Bolivien, Argentinien) lange unter Militärdiktaturen leiden mussten und friedlich korrupte Regierungen gestürzt haben.

Die Solidarität mit den arabischen Aufständischen hätte in diesen Ländern unverzüglich erfolgen sollen. Doch das geschah nicht. Man musste bis zum 14.Februar warten – drei Tage nach dem Sturz des verhassten Mubarak und einen Tag vor dem Beginn des Volksaufstandes in Libyen –, bis ein lateinamerikanischer Staatschef endlich den arabischen Aufstand als “revolutionär” erkannte und in einer Erklärung deutlich darlegte: ”Die Menschen fordern nicht Repression und Tod heraus und bleiben nächtelang auf den Plätzen und protestieren, wenn es nur um formale Fragen geht. Sie tun das, wenn ihre Rechte den unersättlichen Ansprüchen von korrupten Politikern und nationalen und internationalen Gruppen gnadenlos geopfert werden, um das Land auszurauben.”3

Aber als sich dieser Aufstand auch auf die Länder des oft so genannten autoritären “arabischen Sozialismus” ausdehnte (Algerien, Libyen, Syrien), verfielen die Hauptstädte der fortschrittlichen lateinamerikanischen Länder wieder in Schweigen. Politisch konnte man das auf zweierlei Weise deuten: als simple Verlängerung des vorsichtigen Schweigens, das bis dahin von diesen Ländern bei entfernt liegenden Geschehnissen vorherrschte, oder als ein Ausdruck politischen Unbehagens angesichts der Gefahr, strategische Verbündete bei ihren Auseinandersetzungen mit dem Imperialismus zu verlieren.

Angesichts der Gefahr, dass diese zweite Option zutrifft, haben mehrere wichtige Intellektuelle4 gewarnt, dass dies undenkbar sei für Regierungen, die die universelle Botschaft des Bolivarismus für sich beanspruchen. Denn das würde bedeuten, dass eine strategische Verbindung zwischen Staaten wichtiger wäre als die Solidarität mit dem kämpfenden Volk. Das würde dazu führen, die Augen zu schließen vor jeder eventuellen Grausamkeit und Verletzung der Menscherechte.5 Und so würde das solidarische Ideal der lateinamerikanischen Revolution an den Eisbergen im Ozean der “Realpolitik” zerschellen.

Das bedeutet, dass auf dem Feld der internationalen Politik Länder einfach auf Staaten reduziert werden. Ihre Gesellschaften werden nicht beachtet. Die Staaten agieren nur in Funktion ihrer kalten Interessen und ihrer strategischen Verbündeten (deren eigentliches Ziel die Erhaltung des Staates ist, nicht der Schutz der Gesellschaft). Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 besagt die geopolitische Doktrin, dass die Souveränität des Staates unantastbar sei zugunsten der Nichteinmischung und dass eine Regierung, wie auch immer sie an die Macht gekommen ist, jegliche Freiheit bei der Gestaltung ihrer inneren Angelegenheit hat.

Diese Vorstellung von Souveränität – die immer noch vorherrscht – verliert seit dem Ende des Kalten Krieges 1989 immer mehr an Legitimität. Im Namen der Bürgerrechte und einer ethischen Vorstellung von internationalen Beziehungen. Die Diktaturen, deren Zahl von Jahr zu Jahr sinkt, werden immer illegitimer und moralisch unannehmbarer, weil sie neben anderen schweren Vergehen den Menschen ihre Berechtigung als Bürger absprechen.

Auf der Grundlage dieser Überlegungen entstand in den 90er Jahren das Konzept des Rechts auf Einmischung oder die Pflicht zur Hilfe, was unter einem akzeptablen Vorwand zu politisch-humanitären Desastern großen Ausmaßes führte wie im Kosovo, in Somalia oder Bosnien. Und schließlich, unter Führung der US-amerikanischen Neokonservativen, zum Krieg im Irak.6

Aber dieses tragische Scheitern hat nicht dazu geführt, dass eine zivilisiertere Welt die Idee der inneren Souveränität aufgeben muss, die seit fast vier Jahrhunderten existiert und in deren Namen zahllose Grausamkeiten begangen wurden (und immer noch begangen werden). So haben viele lateinamerikanische Staatschefs mit vollem Recht die Passivität und das Komplizentum der großen demokratischen Mächte angesichts der schwerwiegenden Verbrechen verurteilt, die zwischen 1970 und 1990 in Chile, Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und vielen anderen geschundenen Ländern in Süd- und Mittelamerika begangen wurden.

Daher überraschte es, dass seit dem Ausbruch der Proteste in Libyen am 15. Februar, die sofort von den Streitkräften Oberst Gaddafis mit unglaublicher Gewalt niedergeschlagen wurden (233 Tote in den ersten Tagen)7, keine Solidaritätsadresse an die zivilen Aufständischen aus Lateinamerika gekommen ist. Noch nicht einmal dann, als am 20. Februar beim “Tripolitazo” 40.000 Demonstranten gegen Inflation, Sozialabbau und vom IWF aufgezwungene Steuern und fehlende Freiheit protestierten.

Genau wie beim “Caracazo” am 27. Februar 1989 in Venezuela verbreitete sich der Aufstand in Tripolis wie ein Lauffeuer durch die ganze Hauptstadt, immer mehr Barrikaden wurden errichtet, der Regierungssitz stand in Flammen, Polizeiwachen wurden angezündet, regierungsnahe Fernsehsender wurden gestürmt, der Flughafen besetzt und der Präsidentenpalast belagert. Das libysche Regime begann zu wanken.

Unter solchen Umständen hätte jeder andere politische Protagonist begriffen, dass die Zeit für Verhandlungen und die Aufgabe der Macht gekommen ist.8 Nicht so Oberst Gaddafi. Auch auf die Gefahr hin, sein Land in einen Bürgerkrieg zu stürzen, erklärte der “Führer” – seit 42 Jahren an der Macht –, die Aufständischen seien “junge Leute, die von Al Qaida unter Drogen gesetzt wurden, indem man ihnen halluzinogene Pillen in den Nescafe getan hat.”9 Und er befahl seinen Streitkräften, die Proteste mit Kanonen und äußerster Gewalt niederzuschlagen. Der Fernsehsender Al Jazeera zeigte die Flugzeuge, die zivile Demonstranten beschossen.10

In Bengasi hat eine Gruppe von Aufständischen ein Waffenlager der lokalen Garnison gestürmt, um sich gegen die Brutalität der Unterdrücker zu verteidigen, und tausende von Kleinwaffen in die Hände bekommen. Mehrere von Gaddafi zur blutigen Niederschlagung des Aufstands geschickte Einheiten liefen mit Panzern und Gewehren zu den Rebellen über. Der Bürgerkrieg brach unter sehr ungünstigen Umständen für die Aufständischen aus. Ein Krieg, der von Gaddafi einem Volk aufgezwungen wird, das einen friedlichen Wandel will.

Bis zu diesem Augenblick verharrten die lateinamerikanischen Hauptstädte in Schweigen. Weder ein Wort der Solidarität noch des Mitgefühls mit den aufständischen Bürgern, die für ihre Freiheit kämpfen und sterben.

Bis am 21. Februar die britische Diplomatie, die eine entscheidende Rolle innehatte bei der Rehabilitation von Oberst Gaddafi seit 2004 auf dem internationalen Parkett, versuchte, Anschuldigungen gegen sich abzuwenden und durch den Außenminister William Hague verkündete, der libysche Führer “könnte aus dem Land geflohen sein und sich in Venezuela aufhalten”.11

Das war falsch und Caracas hat es entschieden zurückgewiesen. Aber die internationalen Medien haben den Köder geschluckt und sich sofort auf die vom Foreign Office gelegte Spur gestürzt. Die protzigen Empfänge von Gaddafi in Rom, London, Paris oder Madrid werden von der Weltpresse heruntergespielt, aber die Beziehungen des “Führers” mit Caracas werden genüsslich dargelegt. Gaddafi selbst verfängt sich in dieser Falle und erwähnt in seiner ersten Rede seit Beginn des Aufstands auch Venezuela. Er tut es, um seine angebliche Flucht in dieses Land zu dementieren, aber dies gibt Spekulationen über die “Achse Tripolis-Caracas” neue Nahrung. Gaddafi fügt hinzu: “Die Aufständischen sind Ratten, Drogensüchtige, ein Komplott von Ausländern, Nordamerikanern, Al Kaida Leuten und Verrückten.”12

Dieser abgenutzte Ausdruck der “nordamerikanischen Verschwörung” wird von einigen fortschrittlichen südamerikanischen Führern wie u.a. von Daniel Ortega in Nicaragua wieder aufgegriffen, um – jeder auf seine Weise – eine klare Solidarität mit dem libyschen Diktator zum Ausdruck zu bringen.13 Als Vorwand wird genannt, die “Lage sei verwirrend”, die “Medien lügen” und “niemand wisse, wer die Aufständischen seien”. Kein einziger Satz des Verständnisses für ein Volk, das sich gegen einen Tyrannen erhebt, der auf sein eigenes Volk schießen lässt. Auch keinerlei Anspielung auf den berühmten Ausspruch des Befreiers Simon Bolivar: “Verflucht sei der Soldat, der die Waffen gegen sein eigenes Volk richtet”, fundamentale Doktrin des Bolivarismus.

Das Ausmaß des politischen Irrtums erschreckt. Wieder einmal geben einige fortschrittliche Regierungen auf dem Feld der internationalen Politik zynischen strategischen Überlegungen Priorität, die nicht mit ihrer eigenen politischen Haltung übereinstimmen. Werden diese Überlegungen auch dazu führen, dass sie einem anderen Tyrannen ihre Unterstützung anbieten, nämlich dem syrischen Präsidenten Bachar El Assad, dessen Streitkräfte auch nicht gezögert haben, auf Aufständische zu schießen?

In Bezug auf Libyen kam die einzige positive Initiative in Lateinamerika vom venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, der am 1. März vorgeschlagen hat, eine internationale Vermittlungskommission nach Tripolis zu schicken, die aus Vertretern von Ländern des Südens und des Nordens besteht und die versuchen soll, die Feindseligkeiten zu beenden und mit den Beteiligten über ein Abkommen zu verhandeln. Vom Sohn des “Führers” Seif al-Islam abgelehnt, von Gaddafi selbst jedoch akzeptiert, wird dieser Vermittlungsversuch schließlich von Washington, London, Paris und den libyschen Aufständischen zurückgewiesen.

Die fortschrittlichen lateinamerikanischen Regierungen zeigen sich mit einer Chimäre solidarisch. Es ist schon Jahrzehnte her, dass Muammar al-Gaddafi nicht mehr der revolutionäre Anführer ist, der 1969 die Monarchie stürzte, die nordamerikanischen Militärbasen aus dem Land jagte und eine einzigartige “arabische sozialistische Republik” ausrief.

Seit Ende der 1970er Jahre haben ihn sein Irrweg und seine ideologischen Wahnvorstellungen in einen unberechenbaren und überheblichen Diktator verwandelt. Ähnlich den verrückten Tyrannen, die Lateinamerika im 19. Jahrhundert unter dem Namen “barbarische Caudillos”14 kennenlernte. Ein Beispiel für seine Verwirrung: die militärische Expedition von 3000 Mann, die er 1978 Idi Amin Dada zu Hilfe schickte, dem blutrünstigen und wahnsinnigen Präsidenten Ugandas.

Gaddafi hat sich nie einer Wahl gestellt. Um sein Bild herum hat er einen Personenkult geschaffen, der an Vergötterung grenzt. In der “Volksdschamahariya” gibt es keine einzige politische Partei, nur “revolutionäre Komitees”. Indem er sich selbst zum “Führer” auf Lebenszeit für sein Land ernannt hat, hält Gaddafi sich für über den Gesetzen stehend. Er hält familiäre Bindungen für die Quelle des Rechts. Deshalb hat er aus einer Laune heraus seinen Söhnen hohe und vor allem gewinnbringende Posten im Staat verschafft.

Nach der illegalen Invasion im Irak 2003 fürchtete er, der nächste auf der Liste zu sein und schloss Abkommen mit Washington, schaffte seine Massenvernichtungswaffen ab und entschädigte die Opfer seiner terroristischen Attentate. Um den nordamerikanischen “Neocons” zu gefallen, erklärte er sich zum Verfolger Osama Bin Ladens und des Al-Qaida-Netzwerks. Er unterzeichnete Abkommen mit der Europäischen Union, um zum Wachhund über die afrikanischen Flüchtlinge zu werden. Er bat um Mitgliedschaft im IWF15, schuf Freihandelszonen, gewährte den transnationalen Konzernen den Zugang zu Kohlenwasserstoffen und hob die Beihilfen bei den Grundnahrungsmitteln wieder auf. Er leitete die Privatisierung der Wirtschaft ein, was einen hohen Anstieg der Arbeitslosigkeit zur Folge hatte und vermehrte Ungleichheit schuf.

Im Hinblick auf die Menschenrechte sind die tragischen “Großtaten” des “Führers” zahllos. Von der Unterstützung bekannter terroristischer Organisationen über die bewiesene Teilnahme an Attentaten auf zivile Flugzeuge bis hin zu seiner Wut auf fünf unschuldige bulgarische Krankenschwestern, die mehrere Jahre lang im Gefängnis gefoltert wurden, oder die Erschießung von tausend Gefangenen aus Bengasi ohne jegliches Gerichtsurteil im fürchterlichen Gefängnis von Abu Salim in Tripolis im Jahr 1996.

Der jetzige Aufstand begann in genau dieser Stadt am 15. Februar, als die Angehörigen dieser Erschossenen, ermutigt durch die Proteste in anderen arabischen Ländern, auf die Straße gingen, um friedlich die Befreiung des Rechtsanwalts Fathy Terbil zu fordern, der seit 15 Jahren das Recht verteidigt, die Leichname seiner exekutierten Verwandten zu bekommen.16 Die von sozialen Netzwerken und dem Fernsehsender Al Jazeera verbreiteten Bilder von der Brutalität der Unterdrückung dieser Demonstration versetzten die Bevölkerung in Aufruhr. Am nächsten Tag weiteten sich die Proteste auf andere Städte aus. Allein in Bengasi wurden 35 Menschen von der Polizei und Gaddafis Milizen ermordet.17

Als das Heer Gaddafis Mitte März Bengasi zu umzingeln begann, ließ der hohe Grad an Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung fürchten, dass ein Blutbad geschehen könne. In einer Rede, die er an die “Ratten” dieser Stadt richtete, drohte der “Führer”: “Wir kommen diese Nacht. Bereitet euch vor. Wir werden euch aus euren Schränken holen. Es wird keine Gnade geben.”18

Die gerade befreiten Völker von Tunesien und Ägypten hätten den libyschen Belagerten, die um internationale Hilfe riefen19, sofort zu Hilfe eilen müssen. Das war ihre erste Pflicht. Aber leider gelang es den Regierungen dieser beiden Länder nicht, auf der Höhe der historischen Gegebenheiten zu sein.

In dieser Notlage erließ der Sicherheitsrat der UNO am 17. März eine Flugverbotszone über Libyen mit dem Ziel, die Zivilbevölkerung zu schützen und die Feindseligkeiten zu beenden.20 Die arabische Liga hatte im Vorfeld ihr Einverständnis erteilt. Und außergewöhnlich war, dass die Resolution von einem arabischen Staat vorgetragen wurde: dem Libanon (außerdem von Frankreich und dem Vereinigten Königreich). Weder China noch Russland, die ein Vetorecht haben, haben sich widersetzt. Auch Brasilien und Indien haben nicht dagegen gestimmt, auch mehrere afrikanische Länder stimmten dafür: Südafrika (Heimatland von Mandela), Nigeria und Gabun. Kein Staat hat dagegen gestimmt.

Man kann gegen die UNO sein oder meinen, dass ihr gegenwärtiges Auftreten viel zu wünschen übrig lässt. Diese Kritik kann man akzeptieren. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist sie die einzige Quelle internationaler Rechtsprechung. Deshalb, und im Gegensatz zu den Kriegen im Kosovo und im Irak, die nie die Unterstützung der UNO hatten, ist die jetzige Intervention in Libyen legal nach internationalem Recht, legitim nach den Prinzipien der menschlichen Solidarität, und wünschenswert wegen der internationalistischen Brüderlichkeit, die die Völker in ihrem Kampf für die Freiheit vereint. Man könnte noch hinzufügen, dass moslemische Staaten wie die Türkei, die zuerst dagegen waren, schließlich doch noch an der Operation teilnahmen.

Man könnte noch hinzufügen, dass Gaddafi, wie es seine Absicht war, den Volksaufstand in Blut ertränkt hätte und ein gefährliches Signal für andere Tyrannen der Region gegeben hätte, wenn er so davon käme. Man hätte sie ermutigt, lokale Aufstände ohne Rücksicht auf Verluste niederzuschlagen Man braucht sich nur anzusehen, dass inmitten der internationalen Passivität und je weiter die Gaddafi Truppen sich mit aller Gewalt Bengasi nähern, die Regime von Bahrein und Jemen nicht gezögert haben, auf friedliche Demonstranten das Feuer zu eröffnen. Das hatten sie vorher nicht gewagt. Aber sie haben ihrerseits auf das internationale Stillhalten gesetzt.

Man muss auch sehen, dass die Europäische Union eine besondere Verantwortung in dieser Sache hat. Nicht nur eine militärische. Man muss an den nächsten Schritt einer Konsolidierung der neuen Demokratien denken, die in dieser so nah bei uns liegenden Region entstehen werden. Den “arabischen Frühling” zu unterstützen bedeutet auch, einen echten “Marschallplan” zu entwerfen oder eine massive wirtschaftliche Hilfe “ähnlich der, die Osteuropa nach dem Fall der Berliner Mauer gewährt wurde.”21

Bedeutet all das, dass die Operation Odyssee Morgengrauen keine Probleme aufwirft? Keinesfalls.

Zuallererst, weil die durchführenden Staaten und Organisationen (Vereinigte Staaten, Frankreich, Vereinigtes Königreich, NATO) die “üblichen Verdächtigen” sind, verwickelt in zahllose kriegerische Abenteuer ohne jedwede legale oder humanitäre Rechtfertigung. Obwohl dieses Mal die Ziele der demokratischen Solidarität offensichtlicher erscheinen als der Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten, so muss man sich doch fragen, seit wann interessieren sich diese Länder für die Demokratie in Libyen? Deshalb fehlt es ihnen an Glaubwürdigkeit.

Zweitens, weil in dieser Region noch andere Ungerechtigkeiten existieren – das Leiden der Palästinenser, die saudische Militärinvasion in Bahrein gegen die hilflose Mehrheit der Schiiten, die unverhältnismäßige Brutalität der Regierungen des Jemen und Syriens – bei denen die gleichen Kräfte, die Gaddafi angreifen, ihre Doppelmoral unter Beweis stellen.

Drittens, weil das Ziel unbedingt mit der Resolution 1973 übereinstimmen muss. Es darf weder eine Invasion auf dem Landweg noch zivile Opfer geben. Die UNO hat keinen Freifahrtschein zum Sturz von Gaddafi erteilt, obwohl es so aussieht, dass dies das endgültige (und illegale) Ziel der Operation sein soll.

Viertens, weil die Geschichte uns zeigt (und Afghanistan beweist), dass es leichter ist, einen Krieg zu beginnen als einen Krieg zu beenden.

Und fünftens, weil der Ölgeruch dieser ganzen Operation zum Himmel stinkt.

Die arabischen Völker wägen ohne Zweifel genau ab, ob diese Militärintervention in Libyen gerecht oder ungerecht ist. In ihrer großen Mehrheit unterstützen sie die Aufständischen. Bis zum jetzigen Zeitpunkt, Ende März, hat es in keiner arabischen Hauptstadt Demonstrationen gegen diese Operation gegeben. Im Gegenteil, wie beflügelt durch diese Operation, flammen neue Proteste gegen autokratische Regime auf in Marokko, Jemen, Bahrein – und vor allem in Syrien.

  • 1. s. Ignacio Ramonet: Fünf Ursachen für den arabischen Aufstand, Le Monde Diplomatique, März 2011
  • 2. s. Ignacio Ramonet: Tunesien, Ägypten, Marokko, diese befreundeten Diktaturen, www.monde–diplomatique.es
  • 3. Fidel Castro: La Rebelion revolucionaria en Egipto, Granma, La Habana, 14.Februar 2011
  • 4. s. z.B. Santiago Alba und Alma Allende, 24.Febr.2011, und Atilio Boron, Buenos Aires, 7.März 2011
  • 5. Ein Irrtum, den die kubanische Revolution zweimal begangen hat, bei der Unterstützung des Einmarsches in Prag durch den Warschauer Pakt 1968 und der Invasion in Afghanistan durch die Sowjetunion 1979.
  • 6. s. Igancio Ramonet: Irak, Geschichte eines Desaster, Debate, Madrid 2005
  • 7. Reuters, 21. Febr. 2011
  • 8. In Lateinamerika haben mehrere demokratisch gewählte Präsidenten aufgrund von massiven Protesten die Macht abgegeben, drei davon in Ecuador: Bucaran 1997, Mahuad 2000, Gutierrez 2ßß2. Zwei in Bolivien: Sanchez de Lozada 2003, Meza 2005. Einer in Peru: Fujimori 2000, ein weitere in Argentinien: de la Rua 2001.
  • 9. El Pais, Madrid, 24. März 2011
  • 10. The Guardian, London, 21. Febr. 2011
  • 11. AFP, 21. Febr.2011
  • 12. www.rue89.com/2011/02/22
  • 13. www.rebelion.org
  • 14. Alcides Arguedas: Los caudillos barbaros, Barcelona 1929; s.a. Max Daireaux: Melgarejo, Buenos Aires 1966
  • 15. s. Le rapport du FMI qui felicite la Libye, Paris,11,März 2011
  • 16. Evan Hill: Tehn day the katiba fell, Al Jazeera English, 2. März 2011
  • 17. ebda.
  • 18. Diese und andere Verbrechen haben den Chef des internationalen Gerichtshofs, den Argentinier Luis Moreno Ocampo, dazu veranlasst, gegen Gaddafi ein Verfahren wegen “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” anzustrengen.
  • 19. s. Khaled Al-Dakhul: Pourquoi tant d`hesitations?, London, 17.März 2011
  • 20. www.un.org/spanish
  • 21. Nouriel Roubini: Un plan Marshall pour le printemps arabe, Paris, 21.März 2011