Apropos der Agrarfrage in Venezuela

Eine abgelegene sozialistische Gemeinde im Aufbau erwartete einen Minister-Besuch. Ein Politikwissenschaftler war dabei

willkommensbanner.jpg

Banner zur Begrüßung der Gäste vom Ministerium: "Es lebe die Volksmacht"
Banner zur Begrüßung der Gäste vom Ministerium: "Es lebe die Volksmacht"

Der angekündigte Besuch des Vizeministers für Kommunen beim genossenschaftlichen Agrarbetrieb "Fundo Zamorano Campaña Admirable" im ländlichen Westen Venezuelas fiel in diesem Jahr mit den Feiern des Karnevals (3.-9. März) zusammen. Beides waren wichtige Ereignisse nicht nur für die Mitglieder des Fundo, sondern auch für die verschiedenen jungen Kommunalräte (Consejos Comunales) am Ort. Diese bauen derzeit die "Comuna 12 de Octubre" allmählich auf.  Eine solche "Comuna" konstituiert sich aus mehreren lokalen Kommunalräten, die nach und nach die sozialistischen Städte im Rahmen eines revolutionären Staates errichten wollen.

Dieser Prozess läuft in Venezuela im Einklang mit der von Präsident Hugo Chávez eingeleiteten so genannten Bolivarianischen Revolution und findet vorerst punktuell statt, wie hier am südlichen Ufer des Maracaibo Sees im Westen Venezuelas, in der Gemeinde Tulio Febres Cordero. Um vor Ort nun die Kommission des Ministeriums willkommen zu heißen, wurde an diesem Samstag eine große Veranstaltung organisiert. Die Erwartungen waren hoch und die Aufregung sichtlich. Anlass des offiziellen Besuchs war der Aufbau von sieben neuen Häusern für die Mitglieder der Genossenschaft "Ojito Azul", die verantwortlich für die Entwicklung des Fundo ist. Die Häuser wurden seit August 2010 errichtet, dank der Finanzierung von FUNDACOMUNAL, eine Abteilung des Ministeriums für Kommunen. Die Genossenschaftler beteiligten sich aktiv an dem Aufbau der Häuser, die allerdings schon seit November 2010 fertig sein sollten.

Die erste Überraschung kam am frühen Morgen, als die Mitglieder der Comuna informiert wurden, dass der Vizeminister nicht persönlich anreist. Stattdessen wollte er einen Vertreter schicken, die Vorbereitungen wurden also fortgesetzt. Am zentralen kollektiven Treffpunkt des Fundo - der so genannte Galpón - wurden zahlreiche Stühle und ein langer Tisch für die Ehrengäste errichtet. Auf den Tisch und an die Wände wurden Blumen- und Obstschmuck gelegt und gehängt. Musik und Verstärkung wurden auch gewährleistet: Ein Techniker installierte eine mächtige Tonanlage mit vier gigantischen Lautsprechern. Ein großer Topf mit einer regional typischen Suppe wurde parallel auf einem Holzfeuer für alle Gäste gekocht. Die organisierte Gemeinde des Fundo sparte nicht mit Energie und Ressourcen. Einige verwendete Nahrungsmittel, wie Obst und Gemüse, stammen aus dem Fundo. Hier wird die lokale Produktion sukzessive ausgebaut, um einen Beitrag für die angestrebte nationale "Ernährungssicherheit" zu leisten, einem Prinzip der bolivarianischen Verfassung von 1999.

Der komplizierte Weg einer Landreform

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts hat die Ölwirtschaft die Entwicklung einer robusten venezolanischen Agrarkultur verhindert. Auf diese Art und Weise hat sich eine starke Abhängigkeitskultur von Importen entwickelt; heutzutage wird immer noch ein Großteil der Nahrungsmittel importiert. Ein Ziel der Bolivarianischen Revolution ist diesbezüglich, die Landwirtschaft des Landes massiv auszubauen. Schon 2001 wurde dafür ein neues Landgesetzt verabschiedet. Außerdem sind verschiedene Sozialprogramme, von der chavistischen Regierung "Misiones"1 genannt, in den letzten acht Jahren im Kontext einer neuen Landreform durchgeführt worden. Einige Beispiele sind: Misión Zamora (Ausgangspunkt für die Gestaltung der Fundos Zamoranos), Misión Vuelta al Campo und die Misión Vuelvan Caras. Seit dem Beginn dieses Jahres läuft die neue Misión AgroVenezuela, bei der die Landwirtschaft anhand der Förderung von Klein- und Mittelproduzenten nachhaltig gestärkt werden soll2. Die Genossenschaft Ojito Azul wird ebenfalls von der Misión AgroVenezuela profitieren.

Die bolivarianische Regierung betont die Notwendigkeit, den Großgrundbesitz abzuschaffen, um mittels einer besseren Landverteilung die Bauernschaft wiederzubeleben. Diese Wiederbelebung ist aber problematisch und gefährlich. Etwa 250 Bauer wurden im Laufe der letzten elf Jahre im Kampf um Land ermordet. Die Meuchelmörder sind von kriminellen Großgrundbesitzern (vor allem Viehzüchter) bezahlt worden; leider herrscht bisher die Straflosigkeit. 2001 wurden einige der Genossenschaftler des heutigen Fundo Campaña Admirable von Polizeieinheiten angegriffen und verhaftet, als sie ein Stück Land auf einem Latifundium besetzten. 2002 erhielten sie schließlich einen kollektiven Landtitel vom staatlichen Landinstitut, dem INTI (Instituto Nacional de Tierras). Auf diesem Grundstück wurde ihr Fundo und ihre Genossenschaft eingerichtet.

Offizielle Präsenz in der Karnevalszeit

Die stattliche Kommission traf am Mittag in Municipio Tulio Febres Cordero ein. Der Vertreter des Vizeministers erklärte gegenüber amerika21.de, dass kein großer Empfang von Seiten der Comuna notwendig gewesen wäre, denn er sei ja nur für eine Routineuntersuchung vor Ort. Wichtig ist aber zu betonen, dass das Ministerium selbst das Treffen durch mediale Aufmerksamkeit aufwerten wollte. Ein Kameramann machte einige Aufnahmen der neuen Infrastruktur und holte Stellungnahmen der Leute bezüglich ihrer künftigen Häuser ein. Der Beamter bedauerte dann auch, dass die Empfangsfeier nicht direkt gegenüber der neuen Häuser stattfinden würde, sondern im alten Galpón. Seiner Meinung nach wurde der "sozialistische" Fortschritt auf diese Art und Weise nicht deutlich genug.

In ihrem Tross hatte die staatliche Kommission eine alte Frau von einem anderen kommunalen Rat mitgenommen. Als Vertreterin einer anderen Gemeinde sollte sie die Erfahrungen der Genossenschaftler beim Wohnungsaufbau am Fundo Campaña Admirable kennenlernen. Der Aufbau neuer Häuser mit staatlichen Hilfen soll auch in ihrem kommunalen Rat stattfinden; sie sollte dementsprechend das "erfolgreiche" Wohnungsbauprojekt später analog in ihrer eigenen Gemeinde durchführen. In diesem Sinne läuft auch seit diesem Jahr die neue Misión Vivienda, mit der das Wohnungsdefizit überwunden werden soll. Ziel ist es, drei Millionen neue Häuser im Laufe der nächsten sechs Jahre zu errichten.

Als die offizielle Zeremonie im Galpón endlich startete, wurde zunächst die venezolanische Nationalhymne gespielt, gefolgt von der Hymne der sozialistischen Regierungspartei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela). Das Singen der Hymnen wurde ab und zu mit dem Ausruf "Viva el Comandante Chávez" begleitet. Anschließend hielt eine kommunale Sprecherin ("Vocera") eine kurze Willkommensrede für die Ehrengäste und stellte die Kandidatinnen des Schönheitswettbewerbs im Kontext des Karnevals vor. Eine kleine Tour durch die neuen Häuser fand auch statt; zudem wurden Videoaufnahmen von den Stellungsnahmen der Genossenschaftler und der alten Frau gemacht. Schließlich wurde das Festmahl eröffnet.

Alltägliche Widersprüche innerhalb der Revolution auf dem Land

Während des Festmales erschien eine merkwürdige Person, die sich "Juan Pueblo" (Juan Volk) nannte. Der Nachname war sein Spitzname. Nicht nur auf seinem schwarzen T-Schirt sondern auch auf seiner gleichfarbigen Mütze stand das Logo Juan Pueblo. Er betrachtete sich als ein "sozialistischer" Bauunternehmer, der den sozialen Wohnungsbau mit seinen privaten Baugeschäften gleichzeitig führte. Das letztere ermöglicht ihm "sein eigenes Essen zu besorgen", während das erste "sein Herz ruhig hält", erzählte er. Er hatte den neuen Wohnungskomplex des Fundo entworfen und jetzt koordinierte er das Projekt. Obwohl er selbst einige Materialien am Anfang des Prozesses besorgte, dehnte sich der Aufbau aus, denn die staatliche Institution FUNDACOMUNAL lieferte den Rest der Bauelemente nicht pünktlich. Jetzt benötigt der Bauprozess noch ungefähr zwei Monate unter optimalen Bedingungen für einen erfolgreichen Abschluss des Projekts. Trotzdem äußerte eine Sprecherin eines Kommunalrates vor der Kamera, dass die Baustelle in zwei Tagen fertig würde und die Begünstigten endlich in 48 Stunden umziehen könnten!

In Venezuela meinen viele, dass der "Figurismo", eine Mischung zwischen Prahlerei, Scheinheiligkeit und Auffälligkeit, ein großes kulturelles Problem des Landes ist. Einige Merkmale dieses Figurismo und anderer politischer und menschlicher Laster (z.B. Ineffizienz, Improvisation, Paternalismus, Personalismus und Populismus) spiegeln sich auf diese kleine Geschichte des Fundo Campaña Admirable und der Genossenschaft Ojito Azul wider. Nur wenn diese Elemente der alten Kultur mit revolutionären Anstrengungen bekämpft werden, könnte eine neue Art Bauernschaft, eine erfolgreiche Agrarreform und eine fruchtbare Landwirtschaft verwirklicht werden.

Obwohl nicht alle Gäste die typische Suppe genießen konnten, weil sie zu viele waren, erhielt zumindest die Mehrheit der Beamten ihre Portion. Der Vertreter des Vizeministers entschied sich neben der Köchin zu essen als eine Geste seiner Dankbarkeit, was sie stark lobte. Ruhig und allmählich verließen die Mitglieder der Kommission und der Rest der Eingeladenen den Fundo, während die zufriedenen Veranstalter von der Comuna alles aufräumten. Manche Leute nahmen auch die Früchte der Ausstattung des Galpón mit nach Hause.

  • 1. Mit den "Misiones bolivarianas" ist seit acht Jahren eine breite, integrale und innovative Strategie der Sozialpolitik zur Bekämpfung der Armut und für die nationale Entwicklung umgesetzt worden - als eine Art paralleler Sozialstaat, meist mit Direktfinanzierung aus den Ölgewinnen. Heutzutage gibt es ca. 30 unterschiedliche Sozialprogramme, die sich sowohl an traditionelle soziale Ansprüche als auch aktuelle Notwendigkeiten richten. (Aus-)bildung, Gesundheit, Ernährungssicherheit, Arbeits- und Wohnungspolitik werden in den Fokus genommen, aber auch Rechte der Minderheiten (alleinerziehende Mütter, Menschen mit Behinderung, Obdachlose und Indigene), Energie und Ökologie. Manche Misiones konzentrieren sich auf die Städte und andere auf das Land.
  • 2. Die neue Misión AgroVenezuela wird in drei Phasen eingeteilt. Während der derzeit laufenden ersten Phase haben sich bislang 560.000 ländliche Produzenten im zentralen Agrarsystem registriert. Im nächsten Schritt werden die Ländereien bezüglich ihrer Eignung untersucht und eine Inspektion der Projekte der verschiedenen eingeschriebenen Produzenten durchgeführt. Am Ende wird die Regierung mittels eines Fonds die Landwirte unterstützen. Die Produzenten werden vor allem Maschinen, Technologie, Saatgüter und technische Hilfe vom Staat erhalten. Sie werden diese Unterstützung in Form von Krediten anstatt als Bargeld oder Geschenke bekommen, weil die Erfahrung der letzten Jahre Misswirtschaft gezeigt hat. Parallel werden individuelle Landtitel zahlreichen kleinen Produzenten verliehen.