Zeit für unabhängige Musik

Die puertoricanische Band Calle 13 ist in Europa noch immer ein Geheimtipp

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Calle 13 in Karlsruhe
Calle 13 in Karlsruhe

Wenn ich die Augen schließe, die warmen Strahlen der untergehenden Sonne auf meiner Haut spüre, den Gesprächen und der Musik in meiner Umgebung lausche fühle ich mich nach Lateinamerika versetzt. Aus einem Umkreis von mehreren hundert Kilometern sind sie angereist: junge MigrantInnen aus praktisch allen Ländern Lateinamerikas mit ihren Freundinnen und Freunden. Ihr Ziel: Das Konzert von Calle 13.

Zweimal hat sich dieses Jahr schon dieses Schauspiel in Deutschland schon ereignet. Am 22. Juli in Freiburg und am 31. Juli in Karlsruhe. In Hamburg und Berlin könnte es sich noch zwei Mal wiederholen. Allerdings gibt es für das Konzert in Berlin schon keine Karten mehr.

Da ich die Gelegenheit hatte Calle 13 nach den Konzerten zu interviewen beschäftigte ich mich etwas mit ihren Songs und sah mir ihre Dokumentation Sin Mapa an. Mit jedem neuen Lied wuchs mein Interesse in diese Band die als "Reggaetoneros" mit dem Song Atrévete ihren Durchbruch schafften. Eine musikalische Einordnung gegen die sich die Band seither mehr oder weniger erfolgreich wehrt. Ihrer Meinung nach hat sich der Reggaeton in den letzten Jahren kaum weiterentwickelt und reduziert sich selbst auf eine tanzbare Wiederholung der immergleichen Rythmen deren Texte selten über Sex, Party und Drogen hinausgehen. Mittlerweile haben die zwei Brüder aus Puerto Rico  vier Alben produziert und 19 Latin Grammy Awards abgeräumt - so viele wie bisher keine andere Band.

Ein alternatives Angebot das über das Genre hinausgeht1

Während ihr erstes Album gerade abgemischt wurde verblutete Filiberto Ojeda Ríos, Anführer der puertoricanischen Unabhängigkeitsbewegung, weil er bei einer Hausdurchsuchung von der US-amerikanischen Kriminalpolizei FBI angeschossen wurde. Aufgrund der speziellen Situation Puerto Ricos als Außengebiet der Vereinigten Staaten hat das FBI eine eigene Niederlassung in Puerto Rico. Schon am Tag nach der Ermordung veröffentlichte Residente den Song "Querido FBI" im Internet. Unter anderem wurde das Lied zur freien Verwendung auf der Website des Unabhängigen Medienzentrums (IMC) Puerto Rico veröffentlicht. Zwei Jahre später schrieb Residente ein Lied über Polizeigewalt in Puerto Rico nachdem einer seiner besten Freunde von der Polizei ermordet wurde. Auch dieser Song wurde im Internet verbreitet und Aktivistinnen und Aktivisten verteilten zusammen mit Calle 13 selbst gebrannte CDs auf der Straße.

Schon damals war klar, dass Calle 13 keine normale Reggaeton-Band ist. Bei vielen Auftritten trägt der Frontman Residente T-Shirts mit politischen Botschaften und kurz vor den Latin Grammy Awards 2009 beleidigte er den Gouverneur von Puerto Rico als "Hurensohn" (hijo de puta) weil dieser 40.000 Menschen entlassen wollte. Bei der aktuellen Tour gewährte Calle 13 allen streikenden Arbeiterinnen und Arbeitern in Spanien 20 Prozent Nachlass beim Eintritt.

Musikalisch hat sich Calle 13 schon längst von den engen Fesseln des Reggaeton befreit. Visitante mischt verschiedenste Musikstile unter die Raps von Residente. Rythmen aus allen Ecken Lateinamerikas aber auch aus Zentraleuropa halten Einzug in die Performances der Band. Das Multitalent Visitante spielt auch während der Live-Shows mehrere Instrumente und dirigiert die Musiker durch die vielfältige Klangwelt von Calle 13.

Mein Label ist nicht Sony - Mein Label sind die Leute!2

Ihr 2010 veröffentlichtes Album Entren Los Que Quieran beginnt mit einer Abrechnung mit ihrem Musiklabel Sony Music Latin. Im Intro feiert die Band das auslaufen ihres Vertrags mit Sony und ruft zum illegalen Kopieren ihrer CD auf. Für Calle 13 steht fest, dass sie sich von keinem Musiklabel vorschreiben lassen, was sie sagen oder machen. Sie brauchen das Musiklabel nur als Werkzeug für die Vermarktung ihrer Musik. So spricht jemand, der schon alleine über Twitter mit 4,5 Millionen Fans kommuniziert und zumindest in Lateinamerika aus eigener Kraft Tausende für ein Konzert oder eine Aktion mobilisieren kann. Unter anderem auf Grund ihres enormen Mobiliserungspotenzials wird es Calle 13 seit Jahren erschwert, in Puerto Rico aufzutreten. Die Regierung stellt keine öffentlichen Plätze zur Verfügung und Privatpersonen müssen mit Konsequenzen rechnen falls sie der Band einen Veranstaltungsort zur Verfügung stellen.

In Zukunft wird sich zeigen ob die Zeit reif ist für rebellische Musiker die sich weder von der Musikindustrie noch von ihrer Regierung irgendetwas vorschreiben lassen. Die Anzahl der verkauften CDs wird ohne ein große Label, das international die Werbetrommeln rührt, sicherlich zurückgehen. Ob die Verkaufszahlen eine adequate Bemessungsgrundlage für den Erfolg einer Band ist darf allerdings bezweifelt werden.

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