Brasilien / Kultur

Berlinale-Rezensionen: "No Intenso Agora" und "Como nossos pais"

Ein Dokumentar- und ein Spielfilm aus Brasilien

no_intenso_agora_berlinale_2017.jpg

Filmstill "No Intenso Agora"
Filmstill "No Intenso Agora"

No Intenso Agora - Im Intensiven Jetzt

Jetztzeit

Der Dokumentarfilm des brasilianischen Regisseurs João Moreira Salles zieht ein pessimistisches Resümee revolutionärer Bewegungen

China vor der Kulturrevolution 1966, die Studentenunruhen im Mai 1968 in Paris, das Ende des Prager Frühlings im August 1968 – in seinem Dokumentarfilm No Intenso Agora (Im Intensiven Jetzt) widmet sich João Moreira Salles den Phasen des letzten Jahrhunderts, in denen der Wind der Veränderung deutlich zu spüren war und wieder verging. Am 11.02. erlebte der Film des Bruders von Walter Salles, der für "Central do Brasil" 1998 den Goldenen Bären gewann, seine Premiere in der Reihe Panorama Dokumente.

Angeregt durch die Filmaufnahmen seiner Mutter, die Salles 40 Jahre nach ihrer privaten Kulturreise nach China entdeckte, montiert er aus fremden, meist privaten Filmaufnahmen eine filmische Analyse der Veränderungsprozesse jener Jahre. Im ersten Kapitel des Films, "Vor den Fabriken", beschreibt er die Entwicklungen im eher kulturrevolutionären Mai der Studenten in Paris, das Glück dieses Augenblicks, das bis zum Unwillen, zu schlafen, führt, und in sich die Hoffnung auf tatsächliche Veränderungen trägt. Besonders im Fokus ist Daniel Cohn-Bendit in seiner eher widersprüchliche Rolle als Leitfigur, die auf dem Höhepunkt der Ereignisse zu einer bezahlten und gut dokumentierten Reise nach Berlin aufbricht.

Die Filmrollen aus Prag, die Salles in den Archiven entdeckt hat, tragen nicht einmal die Namen derjenigen, die sie aufgenommen haben, sondern nur Nummern: Angesichts der anrollenden Panzer der Sowjetunion schien bereits die Dokumentation der Ereignisse gefährlich. Noch viel stärker als die Szenen in Paris zeigen die Bilder aus Prag bereits unübersehbar das Ende der Hoffnung auf Veränderung. Die Szenen aus Prag gehen unmittelbar in das zweite Kapitel des Films über ("Nach den Fabriken"), das Salles den großen Beerdigungen von Mitgliedern der Bewegungen in jener Zeit widmet: Jan Palach verbrannte sich aus Protest gegen die allmähliche Gewöhnung an das Ende der revolutionären Hoffnungen selbst. Seine Beerdigung wurde Anfang 1969 zum Trauermarsch des Protests, an dem Tausende teilnahmen. Auch die Beerdigungen wenig bekannter Mitglieder der Studentenbewegungen in Paris und in Rio de Janeiro wurden zum politischen Akt mit massenhafter Beteiligung. Leider zeigt No Intenso Agora sonst kaum Szenen aus Brasilien – schade, denn bei 127 Minuten Filmlänge wäre durchaus Platz für eine Auseinandersetzung mit der brasilianischen Studentenbewegung der 1960er Jahre gewesen.

"Jetztzeit" nennt Walter Benjamin die historischen Phasen, in denen – wie während der französischen Revolution – entscheidende Umbrüche stattfinden. Der von Benjamin formulierte Gegensatz zur Jetztzeit ist die „homogene und leere Zeit“ des "Kontinuums der Geschichte". Auch wenn Salles den Begriff "Jetztzeit" weder in Interviews noch im Film erwähnt, scheint der Titel Im Intensiven Jetzt auf die Geschichtsdefinition von Benjamin zu verweisen. Doch Salles´ filmische Reflexion der Phasen des möglichen revolutionären "Tigersprungs", eingesprochen in einem poetischen Portugiesisch, entdeckt vor allem die Trauer über das Ende der Hoffnung nach der kurzen Phase intensiven Glücks. Auch wenn dies historisch richtig sein mag, in der gegenwärtigen Phase der brasilianischen und internationalen Geschichte hätte man sich einen hoffnungsvolleren Film gewünscht.

Claudia Fix

Como nossos pais - Wie unsere Eltern

Überkochende Milch

Im brasilianischen Film Como nossos pais stellt die Protagonistin ihr Leben und damit die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau in der modernen Gesellschaft in Frage

Eine Frau, Rosa, bestreitet den Lebensunterhalt für die Familie. Sie kümmert sich um ihre Kinder, um ihre Eltern, um den Haushalt. Ihrer eigentlichen Berufung als Theaterautorin kann sie nicht nachgehen. Stattdessen arbeitet sie als Werbetexterin für Badkeramik, während von ihrem Mann, der ständig auf Forschungsreisen fährt, "um den Urwald zu retten", kaum Unterstützung zu erwarten ist. Kein Wunder, wenn da mal die Milch auf dem Herd überkocht, während die vorpubertäre Tochter mit ihrer Mutter einen Streit ausficht.

Rosa ist Ende 30 und lebt mit ihrer Familie in São Paulo. Sie ist unglücklich über ihren Beruf und überfordert von den vielen Aufgaben. Ihr Mann beklagt sich über zu wenig Sex, bringt von sich aus aber kein Verständnis für Rosas Situation auf. Ein Eheleben, wie es der heutigen Gesellschaft entspricht? Es ist ihre eigene Frauengeneration, mit der sich Regisseurin Laís Bodanzky in ihrem vierten Spielfilm beschäftigt. In einer sehr natürlichen Form schildert sie die Konflikte ihrer Protagonistin Rosa mit sich selbst und ihrem Umfeld. Eine plötzliche Enthüllung ihrer Mutter bringt sie dann so sehr aus dem Gleichgewicht, dass sie die Rollenverteilung in ihrer Familie in Frage stellt.

Schon am Anfang des Films kündigt ein Gewitter, das die versammelte Großfamilie beim Essen im Garten überrascht, die Krise in der bisherigen Konstellation an. Die Kamera bleibt für einen Moment auf den verwaisten, regenüberströmten Tisch gerichtet. Ebenso ruhig hält sie später vor dem aufsteigenden Qualm einer Zigarette im Aschenbecher inne. Stillleben wie diese sind die besonderen ästhetischen Momente des Films, eine Unterbrechung des lauten, quirligen, von allen Seiten Aufmerksamkeit fordernden Lebens. Dem Publikum von Como nossos pais offenbart sich nach und nach, welche Einstellung zu diesem Leben sich die gleichzeitig so normalen und so einzigartigen Charaktere des Films erworben haben. Allein Rosa ist diejenige, die sich auf die Suche begibt, Neues ausprobiert und dabei zum Beispiel in einem Vater aus der Klasse ihrer Tochter einen zugewandten Zuhörer findet. Ja, Como nossos pais sei tatsächlich vom berühmten Songtitel der Sängerin Elis Regina, "Königin" der Música Popular Brasileira“, inspiriert, allerdings nur von der bittersüßen Melodie und nicht vom Text, räumt Bodanzky ein. Die Suggestivformel „wie unsere Eltern“ lässt sich indes nicht wortwörtlich darauf übertragen, dass Mutter und Tochter einander sehr ähneln würden. Die beiden zanken sich fortwährend, bis Rosa ihrer Mutter einmal recht und diese prompt zu verstehen gibt: "Da habe ich ja endlich mal was richtig gemacht." Ein Perspektivenwechsel, der die Frage aufwirft, warum Rosa sich fortwährend von ihrer Mutter provoziert fühlt.

Die Verbindung der beiden Frauen liegt offensichtlich mehr als im Charakter in ihrem Bedürfnis, sich nicht ein Leben lang für die Familie aufzuopfern und äußeren Bestimmungen zu fügen – ganz wie moderne Seelenverwandte von Ibsens Nora, auf die der Film wiederholt Bezug nimmt. Rosas Mutter, nikotinsüchtig, selbstbewusst, beinahe extravagant, ist zufrieden mit ihrem auch nicht makellosen Leben. Sie hat sich irgendwann von ihrem Mann scheiden lassen, dem liebenswerten, aber permanent mittellosen Künstler, der es immer wieder schafft, sich von den Frauen aushalten zu lassen. Ist es ein Zeichen von Stärke oder von Schwäche, die eigenen Bedürfnisse für die der anderen hintanzustellen? Was gilt umgekehrt für den Ausbruch aus den gefestigten Verpflichtungen? Am Ende von Como nossos pais entpuppt es sich, dass Vertrauen füreinander die unerlässliche Basis ist, um in der Beziehung die nötigen Kompromisse zwischen Familie, Selbstverwirklichung und Gleichberechtigung zu schließen.

Laura Haber

Wenn Sie über diesen Artikel mitdiskutieren wollen, nutzen Sie bitte die Kommentarfunktion auf unserer Facebook-Seite oder folgen Sie einfach diesem Link