Brasilien / Kultur

"Oscar" löst in Brasilien Euphorie und Erinnerung an Widerstand aus

Familiengeschichte von "Verschwundenem" findet großen Anklang. Film habe "Brasilien verändert". Drehort soll Haus der Erinnerung werden

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"Der Stolz Brasiliens": Dieses Bild der Hauptdarstellerin Torres postete Lula auf X
"Der Stolz Brasiliens": Dieses Bild der Hauptdarstellerin Torres postete Lula auf X

Brasília/Los Angeles. Der Film "Ainda estou aqui" (Für immer hier) des brasilianischen Regisseurs Walter Salles ist in Los Angeles mit dem Oscar in der Kategorie "Bester internationaler Film" ausgezeichnet worden.

Die franko-brasilianische Koproduktion erzählt das Leben der Politikergattin Eunice Paiva, die in den 1970er Jahren, unter der Militärdiktatur, ihren "verschwundenen" Ehemann Rubens, einen oppositionellen Verleger und ehemaligen Abgeordneten sucht. Die bis dahin unpolitische Mutter wird zur Aktivistin für Indigenen- und Menschenrechte und findet heraus, dass ihr Mann zu den circa 10.000 "Desaparecidos" gehört, die von den Militärs unter zum Teil weiter ungeklärten Umständen verhaftet oder entführt, gefoltert und ermordet wurden.

Es handelt es sich um die Verfilmung des gleichnamigen autobiografischen Romans von Marcelo Rubens Paiva, dem Sohn von Rubens und Eunice Paiva. Als Eunice sind die Schauspielerinnen Fernanda Torres und Fernanda Montenegro zu sehen, die in Brasilien beide – Mutter und Tochter – Kultstatus genießen.

Der erste nach Brasilien verliehene Oscar hat, ausgehend von den emotionalen Dankesreden von Regisseur und Hauptdarstellerin, in Kultur und Politik des Landes riesige Begeisterung hervorgerufen. In den Städten brachen Jubelstürme aus, in Rio de Janeiro wurde die Parade der Sambaschulen am Sonntagabend kurz angehalten, um den Oscar-Erfolg bekannt zu geben.

Die Würdigungen betonen stets die politische Dimension des Films, den in Brasilien bisher rund fünf Millionen Menschen im Kino gesehen haben.

Das Werk "zeigt Brasilien und der Welt, wie wichtig der Kampf gegen den Autoritarismus ist", sagte Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva gegenüber Medien: "Heute können wir noch stolzer darauf sein, Brasilianer zu sein. Stolz auf unser Kino, unsere Künstler und vor allem auf unsere Demokratie".

Auch das Außen- und Kulturministerium äußerten sich: Der Film "erzählt die Geschichte des Widerstands und des Kampfes um Gerechtigkeit" und bekräftige die "Rolle der Kultur als Instrument der Erinnerung und Reflexion".

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Brasilianische Kritiker:innen loben daneben vor allem die Darstellung der Familiengeschichte. "Das ist das Großartige an dem Film: Wie es uns gelingt, zusammenzukommen mit dieser Familie". Das Besondere sei, dass der Film  "vor allem denjenigen, die nicht genau wissen, was Diktatur war, den Schrecken des Verlusts eines Menschen und die Tragweite der Schrecken eines derartigen Regierungssystems verständlich macht". 

Des weiteren beleuchtet der Film, dass unter Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) eine "Wahrheitskommission" eingerichtet wurde, die sich um Aufklärung der Verbrechen der Diktatur bemühte. Rousseff regierte Brasilien von 2011 bis 2016 und war in den 1970er-Jahren selbst politische Gefangene.

Schon während der Produktion von "Ainda estou aqui" wurde das Verschwinden von Rubens Paiva und anderen Personen zur erneuten Untersuchung freigegeben. Ende Januar wurde nun bekannt gegeben, dass die Sterbeurkunde von Paiva und von weiteren 202 "Verschwundenen" in dem Sinne korrigiert wird, dass ihr Tod "gewaltsam" war und "vom brasilianischen Staat verursacht" wurde.

Der Film sei für die junge Generation "eine Erinnerung daran, wie die Diktatur aussah und welche Unterdrückungsmethoden sie verfolgte" betont Emir Sader, ein in Brasilien bekannter linker Soziologe, in der argentinischen Tageszeitung Página 12. Er stellt auch heraus, dass der Regisseur wiederholt progressive Themen behandelt: In "Central do Brasil" (1998) schreibt eine Frau Briefe, um Analphabet:innen den Austausch mit ihren Verwandten im Nordosten zu ermöglichen, bevor Handys verbreitet waren. 2004 verfilmte er in "Diarios de motocicleta" die Motorradreise des jungen Ernesto Guevara durch Südamerika. "Brasilien ist seit Ainda estou aqui sowie seinem nationalen und internationalen Erfolg ein anderes Land geworden" begeistert sich Sader.

Der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Eduardo Paes, will nun Hauptdarstellerin Fernanda Torres am kommenden Samstag bei der Parade der siegreichen Sambaschulen ehren und sie auf dem Kostümwagen der Stadt fahren lassen.

Paes kündigte zudem an, am Drehort ein "Haus des brasilianischen Kinos" einzurichten. Die Immobilie in dem am Fuße des berühmten Zuckerhuts gelegenen Stadtteil Urca soll von der Stadt erworben und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. "Wir werden das Haus zu einem Ort der bleibenden Erinnerung an die Geschichte von Eunice Paiva und ihrer Familie machen sowie zu einer Hommage an die beiden großartigen Frauen, die Brasilien stolz machen – Fernanda Torres und Fernanda Montenegro", informierte er in den Medien.

In Deutschland ist der Film ab dem 13. März in den Kinos zu sehen.