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Fidel Castro: "Verurteilt mich, es hat keine Bedeutung. Die Geschichte wird mich freisprechen"

Anlässlich des 70. Jahrestages des Angriffs auf die Moncada-Kaserne dokumentiert amerika21 Auszüge aus der Verteidigungsrede von Fidel Castro

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In Kuba wird am 26. Juli 2023 der 70. Jahrestag des Sturms auf die Moncada gefeiert
In Kuba wird am 26. Juli 2023 der 70. Jahrestag des Sturms auf die Moncada gefeiert

Heute vor 70 Jahren, am 26. Juli 1953, begann mit dem Sturm auf die Moncada-Kaserne die kubanische Revolution, die mit der Flucht des Diktators Fulgencio Batista am 1. Januar 1959 siegte.

Die Angriffe auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba und die Carlos Manuel de Céspedes-Kaserne in Bayamo wurden schnell zurückgeschlagen, in den Gefechten fielen sechs Revolutionäre, in den folgenden Tagen ließ Batista mehr als 60 gefangen genommene foltern und erschießen. Fidel Castro wurde verhaftet und vor Gericht gestellt. Der damals 27-Jährige nutzte den Prozess, um eine Verteidigungsrede zu halten, die weltweit in Anlehnung an den letzten Satz "La historia me absolverá" (Die Geschichte wird mich freisprechen), bekannt wurde.

Nachdem die inhaftierten Revolutionäre am 15. Mai 1955 im Zuge einer Generalamnestie freikamen, gründeten sie zwei Monate später die politisch-militärische Bewegung 26. Juli (Movimiento 26 de Julio, M-26-7) die die tragende Rolle in der kubanischen Revolution spielte.

In den Auszügen, die wir dokumentieren, geht es vor allem um die Darstellung der Realität in Kuba, das Verständnis von dem  Begriff "Volk" sowie die Vorhaben einer revolutionären Regierung nach den Vorstellungen der damaligen Bewegung


In diesem Prozess geht es um mehr als nur um die Freiheit eines Individuums: hier wird um fundamentale Fragen gestritten, es wird über das Recht des Menschen, frei zu sein, zu Gericht gesessen, wir kämpfen um die Grundlagen unserer Existenz als freie und demokratische Nation.

(…) Es ist ein elementarer Grundsatz des Strafrechtes, dass die strafbare Tat genau mit dem Delikt zusammenfallen muss, das das Gesetz verdammt. Gibt es kein Gesetz, das genau auf den Streitpunkt zutrifft, so gibt es kein Delikt.

Der Paragraph, um den es sich hier handelt, sagt wörtlich: »Mit Freiheitsentzug von drei bis zehn Jahren wird bestraft, wer einen bewaffneten Aufstand gegen die verfassungsmäßigen Staatsgewalten veranlasst. Kommt der Aufstand zur Ausführung, so wird eine Freiheitsstrafe von fünf bis zwanzig Jahren ausgesprochen.«

In was für einem Land lebt der Herr Staatsanwalt? Wer hat ihm gesagt, dass wir einen Aufstand gegen die verfassungsmäßige Staatsgewalt verursacht haben?

Zwei Dinge springen ins Auge, Zunächst einmal ist die Diktatur, die die Nation unterdrückt, keine verfassungsmäßige, sondern eine verfassungswidrige Macht; sie wurde gegen die Verfassung, über die Verfassung hinweg eingeführt, sie ist eine Vergewaltigung der legitimen Verfassung der Republik.

Eine legitime Verfassung ist die, die direkt vom souveränen Volk ausgeht. Auf diesen Punkt werde ich später ausführlich eingehen, weil ich den Heucheleien, die die Feiglinge und Verräter erfunden haben, um etwas, das ich nicht rechtfertigen lässt, zu rechtfertigen, die Stirn bieten will.

Zweitens spricht der Paragraph von Gewalten, also im Plural, nicht im Singular, denn er meint eine Republik, die durch Legislative, Exekutive und Rechtsprechung, die sich gegenseitig im Gleichgewicht halten, regiert wird. Wir haben zur Rebellion gegen eine einzige illegitime Gewalt aufgerufen, die die Legislative und Exekutive der Nation usurpiert und zusammengezogen und eben das System zerstört hat, das der Paragraph, den wir hier analysieren, schützen sollte. (...)

Soviel man auch zerren, zusammenziehen oder verbessern mag, nicht ein einziges Komma des Paragraphen 148 ist auf die Ereignisse vom 26. Juli anzuwenden. Lassen wir ihn auf sich beruhen und hoffen wir, dass er eines Tages auf die angewendet werden kann, die ihrerseits wirklich einen Aufstand gegen die verfassungsmäßigen Gewalten des Staates verursacht haben.

Es ist mit großem Nachdruck von der Regierung immer wieder betont worden, dass das Volk unserer Bewegung nicht geholfen hat. Ich habe niemals eine so naive und zugleich so böswillige Behauptung gehört. Sie wollen damit die Unterwürfigkeit und Feigheit des Volkes herausstellen. Es fehlt nicht viel, und sie sagen noch, das Volk stütze die Diktatur (...)

Wir waren sicher, dass wir auf das Volk rechnen konnten. Wenn wir Volk sagen, meinen wir nicht die etablierten und konservativen Schichten der Nation, denen jede Art von Unterdrückung, jede Diktatur, jeder Despotismus gerade recht kommt und die sich vor dem jeweiligen Herrn verneigen, bis sie sich die Stirn am Boden aufschlagen.

Wir verstehen, wenn wir vom Kämpfen reden, unter Volk die große unerlöste Masse, der alle Versprechungen machen und die von allen betrogen und verraten wird, die ein besseres und würdigeres und gerechteres Vaterland ersehnt; die von einem uralten Verlangen nach Gerechtigkeit bewegt wird, weil sie Generation um Generation Ungerechtigkeit und Spott ertragen musste, die sich große und weise Veränderungen auf allen Gebieten wünscht und die, wenn sie an etwas oder an jemanden, vor allem aber genügend an sich selber glaubt, bereit ist, selbst den letzten Blutstropfen dafür herzugeben.

Die erste Bedingung für die Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit einer Absicht ist eben die, die niemand erfüllt, nämlich mit vollkommener Klarheit und ohne Furcht zu sprechen. Die Demagogen und die professionellen Politiker bringen das Wunder fertig, überall und mit jedem gut zu stehen, und täuschen daher notwendigerweise alle über alles. Die Revolutionäre dagegen müssen ihre Ideen mutig vortragen, ihre Grundsätze definieren und ihre Absichten klar ausdrücken, damit sich niemand täuscht, weder Freunde noch Feinde.

Wir nennen, wenn es ums Kämpfen geht, die sechshunderttausend Kubaner Volk, die arbeitslos sind und sich ihr Brot auf ehrliche Weise verdienen wollen, ohne auswandern zu müssen; wir nennen Volk die fünfhunderttausend Landarbeiter, die in ihren elenden Bohíos leben, die vier Monate im Jahr arbeiten und für den Rest des Jahres ihr Elend mit ihren Kindern teilen, die nicht eine Handvoll Erde besitzen und die viel mehr Mitleid hervorrufen würden, wenn es nicht so viele steinerne Herzen gäbe; die vierhunderttausend Industriearbeiter und Lastenträger, deren Alterspensionen unterschlagen werden, denen man ihre Errungenschaften nimmt, deren Behausungen die höllengleichen Zimmer der Arbeiterquartiere sind, deren Gehalt von den Händen des Chefs in die des Wucherers übergeht, deren Zukunft Lohnkürzung und Entlassung, deren Leben unaufhörliche Arbeit und deren einzige Erholung das Grab ist; die hunderttausend Kleinbauern, die auf einer Erde leben und sterben, die nicht ihnen gehört und die sie traurig betrachten wie Moses das gelobte Land, um dann zu sterben, ohne dass es ihnen gelungen wäre, sie zu erwerben, die als Feudalsklaven einen Teil ihrer Erzeugnisse für ihre Parzellen bezahlen müssen, die ihr Stück Land nicht lieben, nicht verbessern, nicht verschönern, die keine Zeder und keinen Orangenbaum pflanzen können, denn sie wissen nicht, ob nicht eines Tages ein Gerichtsdiener mit der Landpolizei kommt, um ihnen zu sagen, dass sie fortgehen müssen; die dreißigtausend Lehrer und Professoren, die sich selbstlos für das bessere Schicksal der zukünftigen Generationen aufopfern, für das sie so unentbehrlich sind, und die so schlecht behandelt und bezahlt werden; die zwanzigtausend kleinen Händler, die mit Schulden überhäuft sind, von der Krise ruiniert und von einer Meute von freibeuterischen und käuflichen Funktionären vollends umgebracht werden; die zehntausend jungen Leute: Ärzte, Ingenieure, Anwälte, Tierärzte, Pädagogen, Zahnärzte, Apotheker, Journalisten, Maler, Bildhauer und so weiter, die mit ihren Abschlussexamen aus den Hörsälen entlassen werden und voller Kampfeslust und Hoffnung sind und sich dann in einer Sackgasse wiederfinden, wo alle Türen verschlossen und alle Ohren für Klagen und Bitten taub sind.

Das ist das Volk - das Volk, das alles Unglück erleidet und daher fähig ist, mit seiner ganzen Wut zu kämpfen! Diesem Volk, dessen angstvolle Wege mit Täuschungen und falschen Versprechen gepflastert sind, wollten wir nicht sagen: "Wir schenken dir etwas", sondern: "Da hast du die Möglichkeit, jetzt kämpfe mit all deiner Kraft, damit die Freiheit und das Glück dein sei!"

In der Voruntersuchung dieses Prozesses müssen die fünf Gesetze der Revolution zu lesen sein, die unmittelbar nach der Einnahme der Moncada-Kaserne proklamiert und über den Rundfunk verbreitet worden wären. Es ist möglich, dass der Hauptmann Chaviano diese Dokumente absichtlich zerstört hat, aber mögen sie auch vernichtet sein, ich habe sie in meinem Gedächtnis aufbewahrt.

Das erste Gesetz gab dem Volk seine Souveränität zurück und proklamierte die Verfassung von 1940 als das wahre höchste Gesetz des Staates, bis das Volk beschließen würde, es zu modifizieren oder auszuwechseln; und zum Zwecke seiner Einführung und der exemplarischen Bestrafung aller, die es verraten haben, übernahm die revolutionäre Bewegung, da es keine vom Volk gewählten Organe gab, als zeitweilige Verkörperung dieser Souveränität, der einzigen Quelle legitimer Macht, alle Gewalten, die die Verfassung beinhaltet, außer der, die Verfassung selbst zu ändern: die Legislative, die Exekutive und die Rechtsprechung.

Diese Handlungsweise hätte nicht lauterer und freier von sterilem Scharlatanentum sein können: eine Regierung, die die Zustimmung der kämpfenden Masse hatte, wäre mit den nötigen Kompetenzen ausgestattet worden, um den Volkswillen und die wahre Gerechtigkeit wieder an ihren Platz zu setzen. Von diesem Augenblick an wäre die Rechtsprechung, die sich seit dem 10. März gegen die Verfassung und außerhalb der Verfassung gestellt hat, unverzüglich und restlos gereinigt worden, bevor sie wieder die Funktionen übernommen hätte, die das Grundgesetz der Republik ihr zuschreibt. Ohne diese Maßnahmen wäre die Rückkehr zur Legalität ein Schwindel, eine Heuchelei und ein Verrat mehr gewesen; man hätte damit ihren Schutz in die Hände derer gelegt, die sehr unrühmliche Kompromisse eingegangen waren. Das zweite Revolutionsgesetz übertrug allen Pachtbauern, Pächtern und Squattern, die Parzellen von 65 Hektar und weniger bewirtschafteten, ihr Land als unpfändbares und unübertragbares Eigentum und sah eine Entschädigung der bisherigen Besitzer durch den Staat unter Zugrundelegung der Zehnjahres-Durchschnittspacht vor.

Das dritte Revolutionsgesetz übertrug den Arbeitern und Angestellten das Recht, dreißig Prozent des Einkommens aller großen Industrie-, Handels- und Bergbauunternehmen einschließlich der Zuckerraffinerien für sich zu beanspruchen. Davon ausgenommen waren rein landwirtschaftliche Unternehmen in Anbetracht besonderer Gesetze für die Landwirtschaft, die eingeführt werden sollten.

Das vierte Revolutionsgesetz übertrug den Zuckerbauern das Recht auf 55 Prozent des Zuckerertrages bei einem Mindestanteil von neuntausend Zentnern für alle Kleinbauern, die drei oder mehr Jahre sesshaft waren.

Das fünfte Revolutionsgesetz verfügte die Beschlagnahme aller unter welcher Regierung auch immer unterschlagenen Güter und ebenso der Güter ihrer Rechtsvertreter und Erben, soweit es sich um testamentarisch vererbtes oder ohne Testament unstatthaft erworbenes Vermögen handelte, und zwar durch Sondergerichte mit dem uneingeschränkten Recht der Einsicht in alle Bücher, die der Untersuchung nützlich sein könnten, damit man auf diese Weise die Aktiengesellschaften, die im Handelsregister des Landes geführt werden oder die hier Geschäfte machen und von denen hinterzogene Gelder verborgen werden könnten, unter Kontrolle bekäme; es war vorgesehen, ausländische Regierungen um Auslieferung von Personen und Beschlagnahme von Vermögen zu ersuchen.

Die Hälfte der wiedergewonnenen Gelder sollte in die Pensionskasse der Arbeiter fließen und die andere Krankenhäusern, Obdachlosenheimen und Häusern der Wohlfahrt zur Verfügung gestellt werden.

Es sollte außerdem erklärt werden, dass die kubanische Politik in Amerika eine der engen Solidarität mit den demokratischen Völkern des Kontinents sein würde, und dass die politisch Verfolgten der blutigen Diktaturen, die unsere Brudernationen unterdrücken, im Vaterlande Martís nicht wie heute Verfolgung, Hunger und Verrat zu erwarten hätten, sondern großzügiges Asyl, Brüderlichkeit und Brot. Kuba sollte ein Bollwerk der Freiheit und nicht ein schändliches Kettenglied des Despotismus sein.

Diese Gesetze wären sofort proklamiert worden, und ihnen wären, nach Abschluss der Kämpfe und nach sorgfältigem Studium ihres Inhalts und ihrer Bedeutung eine weitere, ebenfalls fundamentale Gesetzesserie gefolgt, wie die Bodenreform, die Unterrichtsreform und die Verstaatlichung des Elektrizitätstrusts und des Telefontrusts, wobei dem Volk der ungesetzliche Überschuss der Tarife zurückerstattet worden und den Staatsfinanzen die unterschlagenen Steuern zugeflossen wären.

Alle diese - und andere - Verordnungen hätten sich die strikte Erfüllung zweier wesentlicher Artikel unserer Verfassung zur Leitschnur genommen; der eine verlangt die Ächtung des Großgrundbesitzes und die Einführung eines gesetzlichen Maximums an Landbesitz, das einer Person oder Gesellschaft für eine bestimmte Art der landwirtschaftlichen Nutzung gestattet sein soll, und die Verordnung von Maßnahmen, die nach und nach das Land den Kubanern zurückgeben sollen; und andere befiehlt dem Staat kategorisch, alle Mittel, die ihm zur Verfügung stehen, einzusetzen, damit jeder, der ohne Arbeit ist, eine Anstellung findet, und jedem, der körperlich oder geistig arbeitet, eine anständige Existenz zu garantieren. Keine unserer Verordnungen kann daher als verfassungswidrig gebrandmarkt werden.

Die erste vom Volk gewählte Regierung, die unmittelbar anschließend gebildet werden sollte, hätte sie respektieren müssen, nicht nur, weil sie eine moralische Verpflichtung gegenüber der Nation gehabt hätte, sondern weil es keine Macht der Welt gibt, die einem Volk, das endlich die Eroberungen macht, die es seit Generationen ersehnt, diese wieder entreißen könnte.

Das Problem des Bodens, das Problem der Industrialisierung, das Wohnungsproblem, das Problem der Arbeitslosigkeit, das Problem der Volksgesundheit: das sind die sechs konkreten Punkte, auf deren Lösung sich entschlossen alle unsere Anstrengungen gerichtet hätten, zugleich mit der Eroberung der öffentlichen Freiheit und der Demokratie.

Vielleicht hört sich diese Darstellung kalt und theoretisch an, wenn man die entsetzliche Tragödie nicht kennt, der unser Land in diesen sechs Punkten unter dem demütigendsten politischen Druck ausgeliefert ist.

85 Prozent der kleinen kubanischen Landwirte zahlen Pacht und leben unter der beständigen Drohung, dass ihnen ihre Parzellen gekündigt werden können. Mehr als die Hälfte des besten bebauten Landes befindet sich in den Händen von Ausländern.

In unserer größten Provinz, in Oriente, reichen die Ländereien der United Fruit Company und der West Indian von der Nord- bis zur Südküste. Es gibt 200.000 Bauernfamilien, die nicht eine Elle Land besitzen, auf der sie ein bisschen Gemüse für ihre hungernden Kinder pflanzen könnten, und gleichzeitig liegen in den Händen mächtiger Interessenverbände etwa 4 Millionen Hektar fruchtbaren Landes brach. Da Kuba überwiegend ein Agrarland ist, da die Stadt vom Land abhängt, da das Land die Unabhängigkeit erkämpft hat, da die Größe und der Wohlstand unseres Landes ohne einen gesunden und starken Bauernstand, der sein Land liebt und zu bebauen versteht, und ohne einen Staat, der ihn schützt und führt, nicht zu denken ist - wie ist es möglich, dass dieser Zustand der Dinge bestehen bleibt?

Etwas Nahrungsmittel-, Holz- und Textilindustrie ausgenommen, produziert Kuba noch immer vor allem Rohmaterial. Wir exportieren Zucker und importieren Bonbons, wir exportieren Leder und importieren Schuhe, wir exportieren Eisen und importieren Pflüge... Alle Welt ist sich einig darüber, dass es dringend nötig ist, das Land zu industrialisieren, dass wir eine Metallindustrie brauchen, eine Papierindustrie, eine chemische Industrie, dass Viehzucht und Ackerbau verbessert werden müssen, ebenso Technik und Ausbau unserer Lebensmittelindustrie, damit sie der vernichtenden Konkurrenz der europäischen Käse-, Kondensmilch-, Spirituosen- und Ölindustrie sowie der nordamerikanischen Konservenfabrikation standhalten kann, dass wir Handelsschiffe brauchen, dass der Tourismus eine Quelle enormen Reichtums sein könnte; aber die Besitzer des Kapitals verlangen, dass die Arbeiter am Hungertuch nagen, der Staat legt die Hände in den Schoß, und die Industrialisierung kann warten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.

Ebenso ernst oder noch schlimmer ist die Wohnungstragödie. Es gibt in Kuba 200.000 Bohíos und Hütten; 400.000 Familien auf dem Lande und in der Stadt leben in den alten Sklavenbaracken, in Arbeiterquartieren und Bidonvilles ohne die elementarsten Vorbedingungen für Hygiene und Gesundheit; 2,2 Millionen Bewohner unserer Städte zahlen Mieten, die ein Fünftel bis ein Drittel ihrer Einkünfte verschlingen; und 2,8 Millionen Menschen auf dem Lande und in den Vorstädten haben kein elektrisches Licht.

Hier geschieht das gleiche: wenn der Staat die Mieten senken will, drohen die Besitzer damit, die gesamte Bautätigkeit einzustellen; tut der Staat nichts, so bauen sie, solange sie mehr Mieten erzielen können, und danach bauen sie nicht einen Stein mehr, mag auch der Rest der Bevölkerung unter freiem Himmel leben; ähnlich macht es das Elektrizitätsmonopol, es legt Leitungen bis dahin, wo es einen befriedigenden Profit erwarten kann, und danach ist es ihm gleich, ob die Leute für den Rest ihres Lebens im Dunkeln sitzen.

Der Staat legt die Hände in den Schoß, und das Volk lebt weiter ohne Häuser und ohne Licht. Unser Unterrichtssystem passt wunderbar zu allem vorhergehenden: Wozu braucht man Landwirtschaftsschulen in einem Land, wo der Kleinbauer nicht Herr seiner Erde ist? Was sollen Industrie- und Technikschulen in einer Stadt, wo es keine Industrie gibt? Alles wird von der gleichen absurden Logik bestimmt: wo es das eine nicht gibt, kann es das andere auch nicht geben. In jedem beliebigen kleinen europäischen Land existieren mehr als zweihundert Fachschulen für industrielle und technische Ausbildung; in Kuba sind es nicht mehr als sechs, und die jungen Leute werden mit ihren Diplomen entlassen und finden keine Anstellung. Die kleinen öffentlichen Schulen auf dem Lande werden von weniger als der Hälfte der schulpflichtigen Kinder, die barfuß, halbnackt und unterernährt in den Unterricht kommen, besucht und oft ist es der Lehrer, der von seinem Gehalt das nötige Material besorgen muss.

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In Kuba wird der 26. Juli als Beginn der Revolution mit einem landesweiten Feiertag begangen
In Kuba wird der 26. Juli als Beginn der Revolution mit einem landesweiten Feiertag begangen

Kann man so etwa eine großes Vaterland aufbauen?

Von einem so großen Elend kann einen nur der Tod befreien; und da allerdings hilft der Staat: beim Sterben. Neunzig Prozent der Landkinder werden von Parasiten aufgefressen, die aus der Erde unter die Nägel ihrer nackten Füße dringen. Die Gesellschaft erregt sich voller Mitgefühl, wenn ein Kind entführt oder ermordet wird, aber sie bleibt verbrecherisch gleichgültig angesichts des Massenmordes, der an Tausenden und Abertausenden von Kindern begangen wird, die jährlich sterben, weil kein Geld da ist. [...] Und wenn ein Familienvater vier Monate im Jahr arbeitet - wovon soll er Kleider und Medikamente für seine Kinder kaufen? Sie werden also rachitisch heranwachsen, mit dreißig Jahren haben sie keinen gesunden Zahn im Mund, sie werden zehn Millionen Reden gehört haben und schließlich elend und enttäuscht sterben. In die immer überfüllten staatlichen Krankenhäuser kommt man nur auf Empfehlung eines politischen Magnaten, der dem Unglücklichen und seiner ganzen Familie ihre Wahlstimmen abverlangt, damit es in Kuba auf ewig so oder schlimmer weitergehe.

Unter diesen Voraussetzungen wird man sich nicht wundern, dass von Mai bis Dezember eine Million Menschen arbeitslos sind und dass Kuba mit seiner Bevölkerung von fünfeinhalb Millionen Einwohnern zur Zeit mehr Arbeitslose hat als Frankreich und Italien mit je vierzig Millionen.

Wenn Sie, meine Herren Richter, einen Angeklagten wegen Diebstahls verurteilen, so fragen Sie nicht danach, wie lange er schon ohne Arbeit ist, wieviele Kinder er hat, an welchen Tagen der Woche er etwas zu essen hatte und an welchen nicht, Sie kümmern sich nicht im geringsten um die sozialen Bedingungen des Milieus, in dem er lebt. Sie schicken ihn ohne weitere Überlegungen ins Gefängnis.

Nicht die Reichen kommen dahin, die Lagerhäuser und Läden anzünden, um die Versicherungsprämien zu kassieren, mögen auch ein paar Menschen dabei mitverbrennen, denn sie haben Geld im Überfluss, um Anwälte zu bezahlen und Richter zu bestechen. Sie schicken den Unglücklichen, der aus Hunger stahl, in den Kerker, aber nicht einer der Hunderte von Dieben, die dem Staat Millionen geraubt haben, hat jemals eine Nacht hinter Gittern verbracht: Zu Silvester dinieren Sie mit ihnen in irgendeinem aristokratischen Lokal, und sie genießen Ihre Hochachtung. (...)

Die Zukunft der Nation und die Lösung ihrer Probleme darf nicht mehr von den egoistischen Interessen einer Handvoll Finanzgewaltiger abhängen, nicht mehr von den kalten Gewinnkalkulationen, die zehn oder zwölf Magnaten in ihren mit Klimaanlagen versehenen Büros anstellen. Das Land darf nicht länger ein paar goldene Kälber kniefällig um Wunder anflehen, die ebenso wie das im Alten Testament, das der Zorn des Propheten vernichtete, kein einziges Wunder tun.

Die Probleme der Republik lassen sich nur lösen, wenn wir darauf die gleiche Energie und Ehrlichkeit, den gleichen Patriotismus verwenden, den unsere Befreier aufgebracht haben, um die Republik zu schaffen. Und das geht nicht mit Politikern vom Schlage eines Carlos Saladrigas, dessen Politik darin besteht, alles zu lassen, wie es ist, und der sein Leben lang Dummheiten schwätzt von der »absoluten Freiheit der Unternehmer«, von den »Sicherheiten für Investitionskapital«, vom »Gesetz von Angebot und Nachfrage«. Diese Minister würden in einem Palast an den 5th Avenue vergnüglich plaudern, bis von denen, die heute nach schnellen Lösungen verlangen, nicht einmal mehr der Staub ihrer Knochen übrig ist. Und in der heutigen Welt löst sich kein soziales Problem von selbst.

Eine von der Unterstützung des Volkes und der Achtung der Nation getragene Revolutionsregierung würde, nachdem sie die Institutionen von käuflichen und korrupten Funktionären gereinigt hätte, sofort an die Industrialisierung des Landes gehen und dazu durch die Nationalbank und die Bank zur Förderung von Industrie und Landwirtschaft das tote Kapital mobilisieren, das zur Zeit mehr als eine Milliarde und fünfhundert Millionen Pesos beträgt; sie würde die Untersuchung, Leitung, Planung und Realisierung dieser großen Aufgabe Technikern und ändern absolut sachverständigen Männern anvertrauen, die keiner Art von politischer Manipulation unterworfen sind.

Eine Revolutionsregierung würde, nachdem sie den hunderttausend kleinen Landwirten, die heute Pacht zahlen, das Eigentum an ihren Parzellen übertragen hätte, darangehen, das Problem des Bodens ein für allemal zu lösen. Sie würde erstens, wie es die Verfassung vorschreibt, ein gesetzliches Maximum an Landbesitz für jeden Typ von landwirtschaftlicher Unternehmung einführen, was darüber hinausgeht, enteignen, die Ländereien, die der Staat usurpiert hat, zurückfordern, Sümpfe und sumpfige Gebiete trockenlegen, riesige Baumschulen anlegen und Zonen für die Aufforstung reservieren; sie würde zweitens den Rest des Landes unter die Bauernfamilien unter Bevorzugung der kinderreichsten verteilen, sie würde landwirtschaftliche Genossenschaften gründen, die die gemeinsame Nutzung kostspieliger Einrichtungen und Kühlanlagen und eine einheitliche technische Leitung des Anbaus bzw. der Viehzucht ermöglichen und schließlich der Landbevölkerung Geld, Ausrüstung, Schutz und Ausbildung zukommen lassen.

Eine Revolutionsregierung würde das Wohnungsproblem lösen, indem sie zunächst einmal die Mieten entschlossen um 50 Prozent senkte; Häuser, die nur von ihren Besitzern bewohnt sind, würden von allen Steuern befreit, dafür die Steuern für Miethäuser verdreifacht; die höllischen Arbeiterquartiere würden abgerissen und an ihrer Stelle moderne vielstöckige Häuser gebaut, außerdem der Wohnungsbau auf der ganzen Insel in einem nie gesehenen Ausmaß gefördert, wobei der Grundsatz wäre: Das Ideal auf dem Lande ist die eigene Parzelle für jede Familie, das Ideal in der Stadt das eigene Haus oder die eigene Wohnung für jede Familie. (…)

Schließlich würde eine Revolutionsregierung eine durchgreifende Reform unseres Unterrichtssystems vornehmen, das in Übereinstimmung mit den vorhergehenden Reformen gebracht werden muss, um die Generationen, die dazu berufen sind, in einem glücklicheren Vaterland zu leben, entsprechend auszubilden. (...)

Woher soll das notwendige Geld kommen? Wenn es nicht mehr unterschlagen wird, wenn es keine käuflichen Beamten mehr gibt, die sich zum Nachteil der Staatsfinanzen von den großen Unternehmen bestechen lassen, wenn die enormen Mittel der Nation wieder in Umlauf gebracht sind und keine Panzer, Bombenflugzeuge und Kanonen mehr in diesem Land ohne Grenzen gekauft werden, die nur dazu dienen, das Volk zu bekämpfen, wenn man das Volk erzieht statt es zu töten, dann wird es Geld im Überfluss geben.

Kuba könnte das Dreifache seiner jetzigen Bevölkerung wunderbar ernähren, es gibt keinen Grund dafür, dass seine Bewohner im Elend leben müssen. Die Märkte müssten von Produkten überquellen; die Speisekammern in den Häusern müssten voll sein; alle Arme könnten arbeiten und produzieren.

Nein, das ist nicht unbegreiflich. Unbegreiflich ist, dass es Menschen gibt, die sich hungrig schlafen legen, solange es noch eine Handvoll unbebautes Land gibt; unbegreiflich ist, dass Kinder ohne ärztliche Hilfe sterben, dass dreißig Prozent unserer Landbevölkerung nicht ihren Namen schreiben kann und neunundneunzig Prozent nichts von kubanischer Geschichte weiß; unbegreiflich ist, dass die meisten Familien auf dem Lande unter schlechteren Bedingungen leben als die Indianer, die Columbus traf, als er das schönste Land entdeckte, das Menschenaugen je gesehen haben. (…)

Bis hierher habe ich mich fast ganz auf die Tatsachen beschränkt. Da ich aber nicht vergesse, dass ich vor einem Gericht stehe, werde ich jetzt darlegen, dass nur auf unserer Seite das Recht ist und dass die Strafe, die man meinen Kameraden auferlegt hat und die man mir auferlegen will, weder vor der Vernunft noch vor der Gesellschaft noch vor der wahren Gerechtigkeit zu rechtfertigen ist.(…)

Bedenken Sie, dass Sie jetzt über einen Angeklagten zu Gericht sitzen, dass aber Sie selbst nicht einmal, sondern viele Male gerichtet werden - so oft die Gegenwart der vernichtenden Kritik der Zukunft unterworfen werden wird. Dann wird das, was ich hier sage, viele Male wiederholt werden, nicht weil es aus meinem Munde zu hören war, sondern weil das Problem der Gerechtigkeit ewig ist und weil das Volk über alle Meinungen der Gelehrten und Theoretiker hinweg einen tiefen Sinn dafür hat. Die Völker besitzen eine einfache, aber unversöhnliche Logik, der alles Absurde und Widersprüchliche zuwider ist, und wenn es ein Volk gibt, das Privilegien und Ungleichheit aus tiefster Seele verachtet, dann ist es das kubanische. Es weiß, dass die Justiz als eine Jungfrau mit Waage und Schwert dargestellt wird. Wenn es sieht, wie die Justiz sich vor den einen feige beugt und gegen die anderen wütend die Waffe schwingt, so wird es diese Justiz für eine Hure halten, die mit einem Dolch fuchtelt. Meine Logik ist die einfache Logik des Volkes. [...]

Ich schließe meine Verteidigungsrede, aber ich tue es nicht, wie es die Juristen gewöhnlich tun, indem ich die Freiheit des Angeklagten fordere; ich kann sie nicht fordern, wenn meine Kameraden schon auf der Isla de Pinos in schändlicher Gefangenschaft sitzen.

Schickt mich zu ihnen, damit ich ihr Los teile, denn es ist verständlich, dass in einer Republik, deren Präsident ein Verbrecher und Räuber ist, die anständigen Männer tot oder gefangen sind.

Den Richtern gilt mein ehrlicher Dank, dass sie mir ohne kleinlichen Zwang gestattet haben, mich frei auszudrücken; ich trage Ihnen nichts nach, ich erkenne an, dass Sie in gewisser Weise human gewesen sind, und ich weiß, dass der Präsident dieses Gerichtes, ein Mann untadeligen Lebenswandels, seinen Widerwillen gegen einen Zustand der Dinge nicht verbergen kann, der ihn zwingt, ein ungerechtes Urteil zu fällen.

Es bleibt dem Gerichtshof noch ein ernsteres Problem zu lösen: die Straftat der siebzig Morde, das heißt des größten Massakers, das uns bekannt geworden ist; die Schuldigen befinden sich auf freiem Fuß und sind bewaffnet, so dass sie eine dauernde Bedrohung für das Leben unserer Bürger darstellen; wenn nicht das ganze Gewicht des Gesetzes auf sie fällt, aus Feigheit oder weil das Gericht es verhindert und nicht geschlossen zurücktritt, dann tut mir Eure Ehre leid, und ich beklage den beispiellosen Makel, der auf die Rechtsprechung fallen wird.

Was mich selbst betrifft, so weiß ich, dass der Kerker hart sein wird wie nie zuvor für einen Menschen, verschärft durch Drohungen, durch gemeine und feige Wut, aber ich fürchte ihn nicht, wie ich den Zorn des elenden Tyrannen nicht fürchte, der meinen siebzig Brüdern das Leben raubte.

Verurteilt mich; das hat nichts zu bedeuten; die Geschichte wird mich freisprechen.

16. Oktober 1953