Das Blatt hat sich gewendet

Offener Brief von Edward Snowden an die brasilianische Bevölkerung

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Edward Snowden
Edward Snowden

Vor sechs Monaten bin ich aus dem Schatten der US-Regierungsbehörde National Security Agency (NSA) herausgetreten, um mich der Kamera eines Journalisten zu stellen.

Ich habe der Welt Beweise vorgestellt und bewiesen, dass einige Regierungen ein weltweites Überwachungssystem errichten, um heimlich aufzuzeichnen, wie wir leben, mit wem wir sprechen und was wir sagen.

Ich bin in dem Wissen vor die Kamera getreten, dass mich diese Entscheidung meine Familie und mein Land kosten wird, und dass ich mein Leben riskieren würde. Ich war von der Idee motiviert, dass die Bürger dieser Welt es zu verstehen verdient haben, in welchem System sie leben.

Meine größte Sorge dabei war, dass niemand meinen Warnungen Gehör schenken würde. Noch nie war ich so froh, mich derart geirrt zu haben. Die Reaktionen in einigen Ländern war für mich eine echte Inspiration. Brasilien ist eines dieser Länder.

Bei der NSA war ich mit wachsender Besorgnis Zeuge von der Überwachung ganzer Bevölkerungen, ohne Verdachtsmomente, was eine der größten Herausforderungen für die Menschenrechte unserer Zeit darstellt.

Die NSA und andere Spionagebehörden haben uns erklärt, dass sie unser Recht auf Privatsphäre aufgehoben und den Einbruch in unser Leben für unsere eigene "Sicherheit" – für Dilmas "Sicherheit", für die Sicherheit von Petrobras – unternommen haben. Und dies, ohne die Öffentlichkeit in auch nur einem der Länder befragt zu haben, nicht einmal in ihrem eigenen. 

Wenn Sie heute in São Paulo mit dem Handy telefonieren, kann die NSA Ihren Aufenthaltsort bestimmen, was sie auch macht: Sie machen das bei Menschen rund um den Globus über fünf Milliarden Mal täglich.

Wenn jemand in Florianopolis eine Webseite besucht, speichert die NSA ein Protokoll vom Zeitpunkt und dem Nutzerverhalten. Wenn eine Mutter in Porto Alegre ihren Sohn anruft, um ihm bei seiner Universitätsprüfung viel Glück zu wünschen, dann kann die NSA das Anrufprotokoll für fünf Jahre oder mehr speichern.

Für den Fall, dass sie dem Ansehen einer Zielperson schaden wollen, können sie sogar nachvollziehen, wer eine Affäre hat oder Pornos anschaut.

US-amerikanische Senatoren sagen, Brasilien brauche sich keine Sorgen zu machen. Es handele sich nicht um "Überwachung", sondern um "Datensammlung". Sie behaupten, dies geschehe für Ihre Sicherheit. Doch sie irren.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen legalen Programmen, rechtmäßiger Spionage und Strafverfolgung – bei denen Individuen auf Grundlage eines nachvollziehbaren, individualisierten Verdachts ins Visier geraten – und solchen Programmen, bei dem mit Massenüberwachung ganze Bevölkerungen einem alles sehenden Auge unterworfen werden, wo Kopien davon für immer gespeichert werden.

Bei diesen Programme ging es nie um Terrorismus: Es geht um Wirtschaftsspionage, gesellschaftliche Kontrolle und diplomatische Manipulation. Es geht um Macht.

Viele Senatoren aus Brasilien sind auch dieser Ansicht und sie haben mich daher für ihre Nachforschungen um Hilfe gebeten, ob es zu Straftaten gegen brasilianische Bürger gekommen ist.

Ich habe mich bereit erklärt zu helfen, wo immer es möglich und rechtens ist. Aber leider hat die Regierung der Vereinigten Staaten hart daran gearbeitet, meine dahingehenden Möglichkeiten einzuschränken. Sie sind soweit gegangen, das Flugzeug von Präsident Evo Morales zur Landung zu zwingen, um zu verhindern, dass ich nach Lateinamerika reise!

Solange mir kein Land dauerhaftes politisches Asyl gewährt, wird die US-Regierung versuchen, mich am Sprechen zu hindern.

Vor sechs Monaten habe ich aufgedeckt, dass die NSA die ganze Welt abhören wollte. Jetzt hat die ganze Welt aufgehorcht und spricht darüber. Und der NSA gefällt nicht, was sie da hört.

Die Kultur uneingeschränkter und weltweiter Überwachung steht durch ihre Offenlegung in öffentlichen Debatten und durch ernsthafte Untersuchungen auf allen Kontinenten kurz vor einem Kollaps.

Erst drei Wochen ist es her, dass Brasilien das Menschenrechtskomitee bei den Vereinten Nationen dazu bewegt hat, erstmals in der Geschichte anzuerkennen, dass die Privatsphäre nicht da aufhört, wo das digitale Netz anfängt, und dass die Massenüberwachung Unschuldiger eine Menschenrechtsverletzung ist.

Das Blatt hat sich gewendet, und wir können endlich eine Zukunft erkennen, in der wir Sicherheit genießen können, ohne unsere Privatsphäre zu opfern. Unsere Rechte dürfen nicht durch eine Geheimorganisation eingeschränkt werden. Und US-amerikanische Beamte sollten niemals über die Freiheiten brasilianischer Bürger bestimmen dürfen. 

Sogar die Verteidiger der Massenüberwachung, jene, die nicht davon überzeugt werden können, dass unsere Überwachungstechnologie unsere demokratischen Kontrollen gefährlich ausgehebelt hat, stimmen jetzt zu, dass die Überwachung von Demokratien durch die Öffentlichkeit diskutiert werden muss.

Mein Gewissensakt begann mit einem Statement: "Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich sage, alles, was ich tue, jeder, mit dem ich spreche, jeder Ausdruck von Kreativität oder Liebe oder Freundschaft aufgezeichnet wird. Das ist etwas, was ich nicht unterstützen möchte und nichts, was ich mit aufbauen will, und mit dem ich leben kann."

Einige Tage später erfuhr ich, dass mich meine Regierung staatenlos gemacht hat und mich einsperren will. Der Preis für meine Worte war mein Reisepass. Aber ich würde diesen Preis wieder bezahlen: Ich will nicht derjenige sein, der ein Verbrechen zugunsten politischer Bequemlichkeit ignoriert. Ich bevorzuge es, ohne Staat zu sein als ohne Stimme.

Sollte ich Brasilien eines mit auf den Weg geben können, dann dies: Wenn wir uns alle gegen Ungerechtigkeit und für die Verteidigung der Privatsphäre und grundlegenden Menschenrechte verbünden, dann können wir uns sogar gegen die mächtigsten Systeme der Welt verteidigen.