Venezuela

Chávez schwört auf Sozialismus

Der bolivarianische Prozess soll vertieft und radikalisiert werden

Im Wahlkampf hatte Hugo Chávez immer wieder mit einer "Vertiefung der Revolution" geworben. Bereits in den ersten Wochen nach der Wahl ließ er seinen Worten Taten folgen. Mit Dekreten will er Venezuela in den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" führen. Zudem wechselte er zahlreiche MinisterInnen aus, brachte die Gründung einer bolivarianischen "Einheitspartei" auf den Weg und kündigte an, dem oppositionellen Sender RCTV die Sendelizenz nicht zu verlängern. Droht Venezuela ein Abdriften in Richtung Autoritarismus?

Der Schwur war unüblich. Nach seiner Wiederwahl im vergangenen Dezember, mit einem robusteren Mandat als jemals zuvor, machte Hugo Chávez bei seiner Amtseinführung am 11. Januar einmal mehr klar, wohin sich Venezuela seiner Meinung nach entwickeln soll. Er schwor bei "Jesus Christus, dem größten Sozialisten der Geschichte", sein Leben dem Aufbau des Sozialismus in Venezuela widmen zu wollen. "Es ist die Zeit gekommen, die Privilegien und die Ungleichheit zu beenden und nichts und niemand kann den Wagen der Revolution aufhalten".

Schon bei der Vereidigung der 15 neuen und 12 alten MinisterInnen zwei Tage zuvor hatte Chávez keinen Zweifel daran gelassen, den "sozialistischen Wagen" nun drastisch beschleunigen zu wollen. Bis 2021 - dem 200-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit Venezuelas - solle das Land in den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" geführt werden. Als Antrieb nannte Chávez "fünf Motoren": die Gewährung einer zeitlich befristeten "revolutionären Vollmacht", eine "sozialistische Verfassungsreform", den massiven Ausbau der "Volksbildung", eine neue "Geometrie der staatlichen Machtverteilung" sowie eine "Explosion kommunaler Macht".

Die Gewährung von auf 18 Monate befristeten "revolutionären Vollmachten" durch das Parlament bezeichnete Chávez als ersten "Motor". Mit Hilfe von Präsidialdekreten soll vor allem die Transformation der Wirtschaftsstrukturen beschleunigt werden. Unter anderem zählt dazu die Nationalisierung strategischer Sektoren wie Energie und Telekommunikation.

Der zweite "Motor" ist die bereits zuvor angekündigte Verfassungsreform. Chávez beauftragte Parlamentspräsidentin Cilia Flores mit der Bildung einer Kommission, die Vorschläge erarbeiten soll, welche dann laut Verfassung sowohl vom Parlament (Zweidrittelmehrheit), als auch in einem landesweiten Referendum (einfache Mehrheit) ratifiziert werden müssen. Bereits bekannt ist das Vorhaben, die uneingeschränkte Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten einzuführen. Als neuen Plan nannte Chávez die Abschaffung der von ihm als "neoliberale Idee" bezeichneten Unab­hängig­keit der Zentralbank.

Durch den Ausbau einer "bolivarianischen Volkserziehung" als dem dritten Antriebsmodul, will Chávez die "alten Werte" des "Individualismus, Kapitalismus und Egoismus" zugunsten einer sozialistischen Ethik" überwinden. Weiter nannte der venezolanische Präsident eine "neue Geometrie der Macht" als vierten "Motor" seines Regierungsvorhabens. Hugo Chávez will hier die administrativen Strukturen der Gemeinden in Venezuela neu organisieren, um marginalisierte, ärmere Gebiete besser einzubinden und bürokratischen Aufwand zu minimieren.

Den fünften Antrieb, eine "Explosion kommunaler Macht", bezeichnete Chávez als den "stärksten Motor der neuen Phase". So möchte er den seit April letzten Jahren entstehenden Kommunalen Räten, die je nach Region von bis zu 400 Familien gebildet werden, mehr Entscheidungsmacht über kommunale Belange geben. Standen 2006 etwa 1,5 Milliarden US-Dollar für die Räte bereit, sollen es dieses Jahr fünf Milliarden sein. Bisher bestehen um die 13.000 Kommunale Räte im ganzen Land. Weitere Tausende sollen im Laufe dieses Jahres hinzukommen.

Auf Nationalisierungskurs

Im eigenen Land wie auch international hatten diese Bekanntmachungen heftige Reaktionen hervorgerufen. Insbesondere Chávez' Plan, den Umbau der wirtschaftlichen Strukturen Venezuelas mittels Dekreten voranzutreiben, hatte viel Aufruhr verursacht. Er kündigte zunächst an, "strategische Industrien" wie den Energiesektor sowie den erst 1991 privatisierten Telekommunikationsmonopolisten CANTV verstaatlichen zu wollen. Zudem solle der venezolanische Staat, wie beim Großteil der Ölförderung bereits üblich, auch eine Mehrheitsbeteiligung an den Ölförderprojekten im Orinokodelta erreichen, wo unter anderem Unternehmen wie Chevron, BP und ExxonMobil beteiligt sind.

Von den Verstaatlichungen wird, neben tausenden KleinanlegerInnen, auch ausländisches Großkapital betroffen sein. CANTV etwa gehört zu 28 Prozent dem US-amerikanischen Unternehmen Verizon, zu sechs Prozent der spanischen Telefónica und zu vier Prozent dem mexikanischen Medienmogul und reichsten Lateinamerikaner, Carlos Slim. Das Elektrizitätsunternehmen Elecar (Electricidad de Caracas), das den Großraum Caracas mit Strom versorgt und sich seit seiner Gründung 1895 in privater Hand befindet, gehört zurzeit mehrheitlich der US-amerikanischen AES. Die Regierung kündigte jedoch an, die AnlegerInnen "gerecht" entschädigen zu wollen.

Scharfe Kritik an diesen Plänen kam von der Opposition. Der Gouverneur von Zulia und Ex-Präsidentschaftskandidat Manuel Rosales sagte, Chávez habe "seine Botschaft der Liebe, die er im Wahlkampf angeboten hat, gegen die Botschaft der Gewalt und Aggression getauscht".

Da die Opposition die letzten Parlamentswahlen Ende 2005 boykottiert hatte und somit nicht in der Nationalversammlung vertreten ist, gilt die Zustimmung zum "Bevollmächtigungsgesetz" als reine Formsache. Es wäre bereits das dritte Mal, dass Chávez Sondervollmachten vom Parlament erhält. Nach seiner erstmaligen Wahl 1999 wurde Chavez eine Vollmacht zur Sanierung des Haushaltes bewilligt. Auf Grundlage der neuen Verfassung erhielt er zudem 2001 eine einjährige Ermächtigung, die er dazu nutzte, 49 Gesetze zu dekretieren. Präsidiale Sonder­vollmachten per "Bevollmächtigungsgesetz" sind nun keine Erfindung von Chávez. Für Venezuela ist es seit 1961 bereits das insgesamt neunte "Ley Habilitante" - die vor Chávez' Amtszeit verabschiedeten ernteten allerdings weit weniger öffentliche Entrüstung.

Keine Lizenz für "Putschistensender"

Zuvor hatte bereits die Ankündigung Chávez', die am 28. Mai dieses Jahres auslaufende Sendelizenz der Fernsehstation RCTV nicht zu erneuern, in Venezuela und international eine Welle der Empörung ausgelöst. Laut geltendem Gesetz obliegt es dem Staat, die Konzessionen zu erteilen. Schon Ende des Jahres 2006 warf Chávez dem Sender in einer Ansprache vor Militärs "putschistische" Berichterstattung und permanente Gesetzesverstöße vor. RCTV, das vor allem für die Übertragung von Telenovelas bekannt ist, war während des Putsches gegen Chávez im April 2002 neben Globovisión, Venevisión und Televen einer der Sender, welche die Ereignisse durch gezielte Falschinformation mit herbeigeführt hatten. Während Venevisión und Televen mittlerweile gemäßigter berichten, befinden sich RCTV und Globovisión noch immer in radikaler Opposition zu Chávez und schrecken nicht einmal vor Gewaltaufrufen zurück. Auch Globovisión könnte daher das gleiche Schicksal ereilen wie nun RCTV. Der Sender wird jedoch nicht geschlossen, wie weitläufig interpretiert und einfach gern behauptet wurde, sondern lediglich nicht mehr die öffentliche Sendefrequenz nutzen dürfen. Per Kabel oder Satellit wird man ihn weiterhin empfangen können.

Dennoch bezeichneten die Opposition, die katholische Kirche Venezuelas, die Organisationen Reporter ohne Grenzen und die Interamerikanische Pressegesellschaft (SIP) sowie der Generalsekretär der Organisation amerikanischer Staaten (OAS), José Miguel Insulza, die Maßnahme als Zensur und Einschränkung der Pressefreiheit. Insbesondere die Äußerungen Insulzas deutete Chávez als nicht hinnehmbare Einmischung in innere Angelegenheiten. Er nannte Insulza - den Venezuela ironischerweise bei seiner Wahl 2005 gegen den von den USA favoriserten mexikanischen Kandidaten Luis Ernesto Derbez tatkräftig unterstützt hatte - einen "wahrhaftigen Idioten" und forderte ihn zum Rücktritt auf.

Vereinigt für die Revolution

Schon Ende letzten Jahres hatte Chávez das Projekt einer Vereinigten Sozialistischen Partei (PUSC) auf den Weg gebracht, um die 23 Chávez unterstützenden Parteien zu vereinen. Ziel der neuen Partei sei der Aufbau des Sozialismus "von unten", wie Chávez beteuerte. Wer sich allerdings als Partei erhalten wolle "wird die Regierung verlassen", so der venezolanische Präsident. Noch ist nicht klar, wer sich dem Projekt anschließen wird. Chávez' eigene Partei MVR (Bewegung Fünfte Republik), die mit Abstand stärkste Kraft innerhalb des Bündnisses, wird ohne Zweifel den Kern der neuen Partei bilden. PPT (Vaterland für Alle) und Podemos (Wir können), die bedeutendsten der kleineren Parteien fordern jedoch eine tiefer gehende Diskussion über das Thema. In seine zweite reguläre Amtszeit startet Chávez mit einem etwa zur Hälfte erneuerten Kabinett. Der wohl prominenteste Wechsel betrifft die Vizepräsidentschaft. Der langjährige Chávez-Vertraute José Vicente Rangel, der schon seit 1999 unterschiedliche Ministerposten innehatte, wird von Jorge Rodriguez abgelöst, dem Ex-Präsidenten des Nationalen Wahlrates CNE. Jesse Chacón nimmt als Innen- und Justizminister seinen Hut und übernimmt das neu geschaffene Telekommunikationsministerium. Chávez begründete die Wechsel mit der Notwendigkeit "Bürokratie, Korruption und Ineffizienz" zu bekämpfen. Persönliche oder politische Gründe lägen nicht vor. Der scheidende Vizepräsident Rangel betonte, dass er und die anderen Minister zwar die Regierung, aber "nicht die Revolution verlassen".

Demokratie oder Autoritarismus?

Eines sollte klar sein: Die starke Polarisierung sowohl innerhalb der venezolanischen Gesellschaft als auch in der Debatte über die Beurteilung Venezuelas wird in nächster Zeit wohl kaum abnehmen. Gerade erst sind zwei für gewöhnlich viel beachtete Studien mit völlig gegensätzlichen Ergebnissen erschienen. Während die US-amerikanische Organisation Freedom House in ihrem am 17. Januar veröffentlichten Jahresbericht "Freedom in the World", Venezuela mit Russland auf eine Stufe stellt und beide Länder als "eindeutig Richtung Autoritarismus fortschreitend" ansieht, scheint die venezolanische Bevölkerung selbst dies völlig anders zu sehen. Bei der Ende letzten Jahres erschienenen repräsentativen Erhebung des chilenischen Umfrageinstitutes Latinobarómetro, welches jährlich den Zustand der lateinamerikanischen Demokratien zu messen versucht, erzielte Venezuela - wie bereits im Vorjahr - äußerst gute Ergebnisse. So erhielt das Land sowohl bei der Frage ob Demokratie jeglicher anderen Regierungsform vorzuziehen sei als auch bei der Bewertung der real existierenden Demokratie im eigenen Land jeweils den höchsten Wert nach Uruguay. Laut der Studie ist der Prozentsatz der BürgerInnen, die mit der Demokratie in ihrem Land zufrieden sind, seit 1998 - der erstmaligen Wahl Hugo Chávez' - in keinem anderen lateinamerikanischen Land stärker gestiegen als in Venezuela (von 32 auf 57 Prozent). Auch das zeitlich befristete Regieren per Dekret wird wohl nichts an diesen Werten ändern. Chávez wird voraussichtlich nichts beschließen, was nicht sowieso eine Mehrheit hätte. Vor knapp zwei Monaten wurde er zudem ausdrücklich dafür gewählt, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts voranzutreiben. Aber selbst wenn er im Sinne der Bevölkerungsmehrheit handelt, ist es bedenklich, deren Willen durch ein Bevollmächtigungsgesetz in reale Politik umzusetzen. Zumal das zu 100 Prozent von chavistas gebildete Parlament die geplanten Reformen ohnehin abnicken würde. Durch die Gewährung der Vollmachten wird darüber dort im Einzelnen allerdings nicht einmal mehr diskutiert werden.

Auch wenn Venezuela weit davon entfernt ist, eine Diktatur zu sein: Dass derzeit kaum Mechanismen zur Begrenzung der Macht des Präsidenten bestehen, sollte die Bevölkerungsmehrheit auch dann nicht hinnehmen, wenn dieser in ihrem Sinne entscheidet. Denn darauf, dass er dies auch 2021 noch tun wird, kann schlicht kein Verlass sein.