Politische Gefangene in Venezuela?

Ideologie ist kein Freibrief für kriminelle Handlungen. Anwältin Eva Golinger zu aktuellem Appell von Amnesty International

Wenn Politiker und politische Akteure Verbrechen begehen, können sie sich dann hinter Vorwürfen der Verfolgung verstecken? Während internationale Organisationen mit Rückendeckung aus Washington die Regierung von Präsident Hugo Chávez wegen angeblicher politischer Verfolgung verurteilten, zeigen die Fakten den Unterschied zwischen Aktivismus und Kriminalität.

Amnesty International veröffentlichte Anfang April 2010 einen dringenden Appell wegen einer angeblichen heftigen politischen Verfolgung von fünf Personen durch die Regierung von Venezuela. Diese internationale Organisation für die Verteidigung der Menschenrechte behauptet:

"In den letzten Jahren hat die venezolanische Regierung offenbar ein Schema entwickelt, um abweichende Meinungen zu unterdrücken. Dabei bedient sie sich gesetzlicher und verwaltungstechnischer Maßnahmen, um RegierungskritikerInnen zu schikanieren und zum Schweigen zu bringen. Gesetze werden scheinbar missbraucht, um politisch motivierte Anklagen erheben zu können. Dies würde bedeuten, dass sich das Vorgehen der venezolanischen Regierung gezielt gegen ihre KritikerInnen richtet."

Was Amnesty International nicht verrät, sind wichtige Details zu den angeführten Personen sowie zu den Fakten hinter den Verbrechen, derer sie tatsächlich angeklagt sind.

Der dringende Appell von Amnesty sollte nach Meinung von Oswaldo Alvarez Paz, einem ehemaligen Gouverneur des Bundesstaates Zulia, zu dringendem Handlungsbedarf führen. Er selbst wurde im März 2010 verhaftet und wegen der "öffentlichen Anstiftung zu Kriminalität" und "Verbreitung falscher Informationen" angeklagt. Alvarez Paz, der im April 2002 an einem gescheiterten Staatsstreich gegen die venezolanische Regierung beteiligt war und immer wieder öffentlich zum gewaltsamen Sturz von Chávez aufforderte, hatte live im Fernsehen erklärt, dass die venezolanische Regierung terroristische Gruppen unterstütze und den illegalen Drogenhandel fördere. Im Rahmen seiner Ausführungen unterstützte Alvarez Paz die Anschuldigungen eines spanischen Gerichts und mehrerer rechtsextremer internationaler Organisationen, die für die internationale Verurteilung der venezolanischen Regierung eintreten.

Die Verteidigung von Alvarez Paz stützt sich auf die Begriffe der Freiheit und der Meinungsäußerung. Aber haben Bürger das Recht, nicht nur frei zu leben, sondern auch zum nationalen Fernsehen zu gehen und den Präsidenten einer Nation des Drogenhandels und Terrorismus zu beschuldigen, ohne Beweise präsentieren zu können? Könnte das auch in jedem anderen Land passieren, ohne Folgen? Stellen Sie sich einen ehemaligen Gouverneur in den Vereinigten Staaten vor, der zu NBC News geht und Präsident Barack Obama des Terrorismus und Drogenhandels beschuldigt ohne einen Beweis für solch gefährliche Behauptungen zu präsentieren. Diese Person würde sofort vom Geheimdienst festgenommen und strafrechtlich verfolgt werden. Sie würde den vollen Umfang des Gesetzes spüren, nicht nur für die Verbreitung falscher Informationen, sondern auch wegen Gefährdung des Lebens und des Bildes der US-Präsidentschaft.

In den meisten Demokratien, die das Recht auf freie Meinungsäußerung schätzen, sind den Menschen Einschränkungen auferlegt, wenn Äußerungen die Sicherheit einer Nation oder ihrer Repräsentanten gefährden könnten. Außerdem hat niemand die Freiheit, andere Personen zu diffamieren oder öffentlich ohne Beweise und ohne Folgen zu verleumden. Daher verletzt Alvarez Paz durch sein Auftreten nicht nur venezolanische Gesetze, sondern auch die internationalen Grundsätze der freien Meinungsäußerung. Die Freiheit der Meinungsäußerung ist nicht absolut im Rahmen des Völkerrechts - es werden Beschränkungen auferlegt, wenn Äußerungen die Rechte und die Sicherheit anderer eindeutig verletzen.

Aber in Venezuela glauben viele Personen über dem Gesetz zu stehen, vor allem jene aus der alten herrschenden Klasse, die die Nation im vergangenen Jahrhundert dominierte. Die meisten Beteiligten am April-Putsch zum Sturz der Regierung im Jahre 2002 beispielsweise wurden damals nicht für ihre Verbrechen angeklagt. So arbeiten sie weiterhin auf einen Sturz der Chávez-Regierung hin. Lediglich drei Kommissare der Polizei wurden von der Justiz für den April-Putsch von 2002 zur Rechenschaft gezogen. Ein Gericht kam zu dem Schluss, dass sie verantwortlich für das damalige Massaker unter demonstrierenden Venezolanern waren. Dennoch gaben die drei Kommissare der Polizei mit den Namen Ivan Simonovis, Lazaro Forero und Henry Vivas gegenüber internationalen Organisationen zu verstehen, sie wären politische Gefangene, weil sie Gegner von Präsident Chávez sind. Ihre Verurteilung wurde vor kurzem von einem Berufungsgericht in Venezuela bestätigt.

Illegale Freilassung von Häftlingen - Ein Recht?

Ein weiterer Fall, der in dem Appell von Amnesty International erwähnt wird: Maria Lourdes Afiuni, eine venezolanische Richterin, wurde am 10. Dezember 2009 verhaftet. Sie hatte einem Gefangenen geholfen, aus einem Gerichtssaal zu entkommen und aus dem Land zu fliehen. Die Richterin Afiuni erlaubte Eligio Cedeño, einem venezolanischen Banker, der wegen Korruption und Veruntreuung angeklagt und inhaftiert war, das Gericht durch eine Hintertür zu verlassen. Sie hatte Cedeños zu dieser Anhörung geladen, ohne die Staatsanwaltschaft zu informieren. Damit verletzte sie die Regeln für ein übliches Gerichtsverfahren. Als er dann bei ihr im Gerichtssaal erschienen war, lies sie ihn durch eine Hintertür heraus, so dass er seine Flucht nach Miami antreten konnte.

Richterin Afiuni wurde anschließend festgenommen und wegen Korruption angeklagt. Präsident Chávez zitierte den Fall öffentlich, als Beweis für Korruption in der Justiz, und forderte die Generalstaatsanwaltschaft auf, sich dem Problem anzunehmen. Doch der venezolanische Präsident war nicht verantwortlich für die Verhaftung der Richterin und ihre Verhaftung war nicht willkürlich, sondern sie basierte auf soliden Beweisen für richterliches Fehlverhalten und Amtsmissbrauch.

Gewalttätiger Protest und Korruption

Ein Artikel der New York Times griff die Chávez-Administration kürzlich frontal an und beschuldigte sie "der Unterdrückung von abweichenden Meinungen" durch die Verhaftung dieser Personen. Der Artikel bezieht sich auf den Fall von General a.D. Raul Isaias Baduel, einem ehemaliger Verteidigungsminister und Verbündeten von Chávez, welcher derzeit wegen Korruption inhaftiert ist. Der Times-Artikel versucht, Baduel als Opfer von Präsident Chávez darzustellen, aber erwähnt nicht, dass der ehemalige Militär in seinem Büro auf frischer Tat ertappt wurde, als er versuchte, mehr als 30 Millionen US-Dollar zu stehlen. Baduel hatte zudem als Verteidigungsminister Gewerbe, landwirtschaftliche Betriebe und Immobilien innerhalb und außerhalb von Venezuela fragwürdig erworben. Erst als er von Chávez zum Rücktritt gezwungen worden war und später wegen Korruption gegen ihn ermittelt wurde, behauptete General a.D. Baduel, er sei ein Opfer der politischen Verfolgung.

Richard Blanco, ein Oppositionsführer, wurde auch in dem Appell von Amnesty International angeführt. Auch in seinem Fall ist von einer Art politischer Verfolgung die Rede. Doch Blanco war am helllichten Tag während einer Protestveranstaltung nach einem gewalttätigen Angriff auf einen Polizisten festgenommen worden. Zudem soll er andere auf der Demonstration dazu angestiftet haben, eine Polizeiabsperrung zu durchbrechen und sich an dem gewalttätigen Proteste zu beteiligen. Sein Auftreten wurde live im Fernsehen übertragen und kann schwer bestritten werden.

Andere Oppositionsführer, denen Verbrechen wie Korruption zur Last gelegt werden, haben das Land verlassen, da sie nicht bereit waren, sich der Anklage zu stellen und sich den gerichtlichen Verfahren zu unterziehen. Einige dieser bekannten Personen erhielten Asyl in den USA oder Peru, beide Länder sind beliebte Zufluchtsorte für Kriminellen aus Lateinamerika.

Der ehemaliger Gouverneur von Zulia, Manuel Rosales, hatte in seiner Regierungszeit Millionen von Dollar angehäuft und sich massenhaft illegal Landbesitz einverleibt. Er floh im vergangenen Jahr vor der Justiz, als diese erste Anklagepunkte gegen ihn erhob. In Peru, wo ihm Asyl gewährt wurde, behauptet Rosales, er sei ein politisch Verfolgter der Regierung Chávez. Zu ihm gesellen sich andere korrupte und gewalttätige Kriminelle, darunter Nixon Moreno, der wegen versuchter Vergewaltigung einer Polizistin angeklagt wurde, und Oscar Perez, der wegen bewaffneter Gewalt und krimineller Aufwiegelung während Protesten im vergangenen Jahr angeklagt wurde.

Ideologie ist kein Freibrief für kriminelle Handlungen. Nach einer langen Zeit der Straflosigkeit in Venezuela beginnt die Justiz endlich damit, Gesetze anzuwenden, was diese auch trotz hohen Risikos um jeden Preis tun wird. Im November 2004 wurde der Bundesstaatsanwalt Danilo Anderson ermordet, als sein Auto von einer Bombe zerrissen wurde. Er war beauftragt mit der Untersuchung des April-Putsches 2002. Bis heute bleibt sein Fall ungelöst.


Dieser Artikel der US-venezolanischen Anwältin und Journalistin Eva Golinger erschien zuerst in englischer Sprache in der venezolanischen Wochenzeitung Correo del Orinoco International vom 08.04.2010.