Rio de Janeiro. In Brasilien hat De-facto-Präsident Michel Temer (MDB, früher PDMB) die innere Sicherheit des Bundesstaates Rio de Janeiro per Dekret dem Militär überantwortet. Der Beschluss vom Freitag sieht vor, dass die gesamten Zuständigkeiten der inneren Sicherheit von Rio de Janeiro unter das Kommando des Armeegenerals Walter Souza Braga Netto fallen. Damit sind dem Kommandierenden der Streitkräfte für Ostbrasilien das Ministerium für Sicherheit, die Polizeieinheiten, die Feuerwehr sowie das Gefängnissystem unterstellt. Die Regelung soll bis zum Jahresende gelten und stellt ein Novum in der Geschichte des Landes dar.
Zwar ist das Dekret bereits in Kraft, muss aber noch von den beiden Kongresskammern bestätigt werden. Deren Zustimmung Anfang der Woche wird angesichts der Mehrheiten der Regierungsparteien erwartet.
Die rechtkonservative Regierung Temer begründet die Entscheidung damit, die ausufernde Kriminalität und Gewalt bekämpfen zu wollen. "Das organisierte Verbrechen hat fast vollständig die Kontrolle über den Bundesstaat Rio de Janeiro genommen", so Temer in seiner Erklärung. Aus Sicht der Regierung erfordere der Moment "extreme Maßnahmen" und man wolle dem Verbrechen starke Antworten entgegensetzen.
Der Beschluss kommt einer Quasi-Entmachtung der Sicherheitsorgane des Bundesstaates gleich. Denn ab sofort verfügt Armeegeneral Braga Netto über die Kompetenzen, die bestehenden Institutionen neu zu strukturieren sowie Personal zu entlassen und einzusetzen. Einiges deutet also darauf hin, dass insbesondere die Korruption im staatlichen Apparat bekämpft werden soll.
Die Entscheidung ist in Absprache mit dem Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, Luiz Fernando Pez, ebenso MDB, in einer Krisensitzung getroffen worden. Gegenüber der Presse bestätigte Pez jedoch, ursprünglich nur um die Ausweitung der bisherigen Maßnahmen, also vor allem um eine Verstärkung der bestehenden Militärkräfte zur Unterstützung der Polizeieinheiten, gebeten zu haben. Die brasilianischen Streitkräfte operieren seit Juli 2017 an der Seite der Polizei in Favelas. Insgesamt sind 10.000 Soldaten zu Einsätzen entsendet worden. Die Bundesregierung hielt die nun komplette Übernahme der Amtsgeschäfte für notwendig. Auf die Korruption angesprochen wollte Gouverneur Pez diese nicht mit den Problemen von Rio de Janeiro in Verbindung setzen.
Die Entscheidung zur Entsendung des Generals wurde drei Tage nach Ende des Karnevals getroffen. Medienberichten zufolge soll es in diesem Jahr zu besonders vielen gewaltsamen Zwischenfällen und Straftaten im Umfeld der Feierlichkeiten gekommen sein. Tatsächlich nimmt die tödliche Gewalt in der Stadt Rio de Janeiro seit einem Höhepunkt 2009 wieder zu. Allein im vergangenen Jahr sei es durch Auseinandersetzungen im Drogenkampf zu 6.731 Toten gekommen, 100 davon Polizisten, berichtet der Nachrichtendienst Efe. Allein im vergangenen Januar wurden 22 Schusswechsel pro Tag verzeichnet.
Der Moment für den Beschluss hingegen deutet dennoch auf parteipolitische Motivationen hin. Kritiker argumentieren, die Maßnahme solle einzig die Handlungsfähigkeit der Regierung Temer unter Beweis stellen und die nach wie vor miserablen Umfragewerte der Regierungsparteien und ihrer Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im Oktober dieses Jahres aufbessern. Zuvor hätten Studien im Auftrag der Regierung ihr nahe gelegt, im Bereich innere Sicherheit punkten zu können. Neben der Gesundheit sei dies eine der größten Sorgen der Bevölkerung.
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Einer der Direktoren der Zeitung Voz da Comunidade aus Rios größtem Favela-Gebiet, dem Complexo do Alemão, Betinho Casas Novas, befürchtet, die Intervention werde zu noch mehr Gewalt für die Menschen in den sozial benachteiligten Regionen führen. "Die Favelas leiden bereits seit Jahren unter Militäreinsätzen. Allein im Complexo do Alemão sind seit 2013 81 Menschen durch Schießereien mit Sicherheitskräften ums Leben gekommen", so Casas Novas. "Würde es solche Interventionen in Bereichen wie Gesundheit und Bildung geben, wäre Rio nicht wie es ist."
Die Lokalabgeordnete Marielle Franco (PSOL) kritisierte, die Maßnahmen erweckten einen „falschen Eindruck von Sicherheit. Die Oberschichten werden denken, die Dinge verbessern sich durch die Militärs“, so Franco. „Aber es wird mehr tote schwarze Jugendliche geben und die Vergehen durch Angehörige der Streitkräfte werden durch die Militärjustiz behandelt werden.
Verteidigungsminister Raul Jungmann bekräftigte hingegen, der Rechtstaat bleibe bestehen. Juristisch legitimiert wird der Einsatz der Armee damit, dass es sich formal um eine Intervention der Bundesregierung und nicht um eine des Militärs handelt. Die Verfassung erlaubt in Ausnahmefällen den Eingriff in die Autonomie von Bundesstaaten durch die Zentralregierung.
Mit der Abstimmung über das Dekret im Kongress verschiebt sich zudem die Stimmabgabe über die hochgradig unpopuläre Rentenreform. Diese war für kommenden Dienstag vorgesehen. Bisher aber hatte die Regierung noch nicht die notwendige Mehrheit von 308 Abgeordneten hinter sich und war auf dem Weg, eines der größten neoliberalen Gesetzespakete ad acta legen zu müssen. Über den erzwungenen Aufschub der Entscheidung zeigte sich der rechtskonservative Parlamentspräsident und Vorreiter des Reformprojektes, Rodrigo Maia (DEM), erleichtert. So habe man bis Ende Februar Zeit, weitere Überzeugungsarbeit zu leisten, so Maia.