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Proteste gegen geplante Rentenreform in Brasilien gehen in die nächste Runde

Kundgebungen in über 300 Städten. Polizei setzt Reizgas und Gummigeschosse gegen Streikende ein. Regierung legt neuen Entwurf vor

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Demonstration am Freitag in Florianópolis. In über 300 Städten fanden Streikaktionen statt
Demonstration am Freitag in Florianópolis. In über 300 Städten fanden Streikaktionen statt

São Paulo et al. Mit einem Generalstreik haben in Brasilien Hunderttausende gegen die Sparpläne des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro protestiert. Nach den Massenprotesten am 15. und am 30. Mai gegen die Kürzungen im Bildungsbereich, hatten Gewerkschaften und soziale Bewegungen nun zu einem landesweiten Streik aufgerufen. Er richtete sich gegen die geplante Rentenreform, die das Renteneintrittsalter deutlich erhöhen und Bezüge der ärmsten Rentner kürzen soll.

Mitarbeiter von Banken, Postfilialen, im Öffentlichen Verkehr, dem Energie- und Gesundheitssektor und der metallverarbeitenden Industrie sowie Angestellte bei Volkswagen und Mercedes Benz legten die Arbeit nieder. In São Paulo wurde eine Metrolinie komplett stillgelegt, weitere Linien und Busse fuhren mit Einschränkungen. Zahlreiche Schulen und Universitäten blieben ebenfalls geschlossen. Nach Schätzungen von Gewerkschaften waren dem Aufruf 45 Millionen Arbeiter gefolgt, die sich in verschiedenen Formen am Streik beteiligten.

Bereits in den frühen Morgenstunden blockierten Demonstranten wichtige Zufahrtsstraßen in den großen Städten, dabei kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. In Rio de Janeiro ging die Militärpolizei mit Reizgas vor, um die Proteste zu zerstreuen. In São Paulo wurden bei einer Straßenblockade sieben Studierende und drei Dozenten der staatlichen Universität USP verhaftet und 24 Stunden lang festgehalten. Rund 50.000 Menschen versammelten sich vor dem Sitz des Industrieverbandes FIESP und marschierten in Richtung Stadtzentrum. Die Polizei ging mit Tränengas gegen den hinteren Teil des Demonstrationszugs vor, ein Demonstrant soll ein Feuerwerk gezündet haben, berichtete die Zeitung Folha de S. Paulo.

In der Stadt Niteroi im Bundesstaat Rio de Janeiro fuhr ein PKW absichtlich in eine Straßenblockade. Nach Angaben der Lehrervereinigung der bundesstaatlichen Universität (UFF) wurden dabei zwei Dozentinnen und drei Studierende leicht verletzt.

Die Rentenreform gilt als eines der wichtigsten Projekte von Bolsonaro, der das derzeitige Rentensystem für die wirtschaftliche Rezession verantwortlich macht. Das Mindestalter für den Renteneintritt soll schrittweise erhöht werden, auf 62 Jahren für Frauen (derzeit 56 Jahre) und 65 Jahre für Männer (derzeit 61 Jahre). Zudem ist eine Beitragszeit von mindestens zwanzig Jahren für Frauen und Männer vorgesehen, das Recht auf hundert Prozent der Rente tritt ab einer Beitragszeit von 40 Jahren ein.

Wirtschaftsminister Paulo Guedes wollte mehr als 1,2 Billionen Real (270 Milliarden Euro) in einem Jahrzehnt einsparen: Mit harten Einschnitten bei den Leistungen für die bedürftigsten Rentner und Menschen mit Behinderungen sowie einem Wandel vom Umlagesystem (Lohnarbeiter finanzieren Rentner) zum Kapitaldeckungsverfahren (Beiträge werden pro Person für die Rente angespart). Die Deckungslücke betrug im vergangenen Jahr rund 44,3 Milliarden Euro. Proteste gab es auch, weil die Bezüge nicht mehr an die Inflation angepasst werden sollten und das Vorhaben einer privaten Rentenvorsorge die Türen öffnete. Derzeit berät eine Sonderkommission in der Abgeordnetenkammer über den Vorschlag.

Nach massiver Kritik vor allem von Gewerkschaften liegt nun ein überarbeiteter Entwurf auf dem Tisch, der auf einige Forderungen eingeht. Die Regierung reduziert darin ihr Sparvorhaben um ein Viertel. Das Umlagesystem bleibt bestehen, Landarbeiter sind teilweise von der Regelung ausgenommen. Für Frauen auf dem Land, die oftmals bereits mit 14 Jahren anfangen zu arbeiten, gilt weiterhin die Mindestzahl an Beitragsjahren von 15 und ein Mindestalter von 55 Jahren. Zudem wurde eine Änderung zurückgenommen, die die minimale Anzahl an Beitragsjahren für Männer und Frauen gleichsetzte und damit die mehrheitlich weibliche Erziehungs- und Pflegearbeit nicht berücksichtigt. Auch die Sozialhilfe für Bedürftige über 65 soll nicht berührt werden, ebenso bleibt der Inflationsausgleich bestehen.

Kritiker befürchten allerdings, dass diese Artikel in einem späteren Schritt wieder in den Gesetzestext aufgenommen werden.

Guilherme Boulos, Koordinator der Wohnungslosenbewegung, sieht trotz der Änderungen weiter Diskussionsbedarf: "Es ist gut, dass der Plan für ein Kapitaldeckungsverfahrung und der Angriff auf Renten für Landarbeiter rausgenommen wurde. Aber wir wollen auch, dass die Senkung der Invalidenrente oder das höhere Renteneintrittsalter wieder gestrichen werden", erklärte er.

Eine vollständige Abkehr von der Rentenreform gilt als unwahrscheinlich: Von den 49 Kommissionsmitgliedern sprechen sich derzeit 23 für den Vorschlag aus, elf sind dagegen, vier unentschlossen. Für den nächsten Schritt, die Abstimmung im Parlament, braucht es lediglich 25 Stimmen. Am 18. Juni wird erneut in der Kommission beraten, erst dann folgt der Schritt in die Abgeordnetenkammer. Verfassungsänderungen wie die geplante Reform des Rentensystems erfordern die Unterstützung von drei Fünftel der Abgeordneten. Im Falle einer Zustimmung folgt die Abstimmung im Senat.