Brasilien: Wird Gericht das Urteil gegen Lula annullieren?

Intercept-Leaks stellen Urteile im Korruptionsfall "Lava Jato" infrage. Staatsanwälte wollten Wahlsieg der PT verhindern. Schlappe für Regierung Bolsonaro im Senat

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"Moro und Dallgnol Kriminielle". Landesweit, wie hier in Belo Horizonte, kam es zu Protestaktionen gegen den Lava Jato-Richter Sergio Moro und den Staatsanwalt Deltan Dallagnol wegen ihrer Parteilichkeit im Prozess gegen Lula da Silva.
"Moro und Dallgnol Kriminielle". Landesweit, wie hier in Belo Horizonte, kam es zu Protestaktionen gegen den Lava Jato-Richter Sergio Moro und den Staatsanwalt Deltan Dallagnol wegen ihrer Parteilichkeit im Prozess gegen Lula da Silva.

Brasília. Die jüngsten Intercept-Leaks könnten zur Aufhebung von Urteilen im Lava Jato-Komplex führen. Auch der inhaftierte Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (PT) könnte von dem Skandal um die Absprachen zwischen dem damaligen Richter und heutigen Justizminister Sérgio Moro sowie Staatsanwälten der Korruptionsermittlungsbehörde "Lava Jato" profitieren und in diesem Jahr freikommen. Lula da Silva war im April 2018 wegen vermeintlicher Korruption zu mehr als acht Jahren Haft verurteilt. Lulas Verurteilung war national und international immer wieder als politisches Manöver bezeichnet worden, um den Wahlsieg des ultrarechten Jair Bolsonaro zu ermöglichen.

Die am Wochenende auf The Intercept Brazil veröffentlichten Chat-Mitschnitte eines Messenger-Dienstes stellen laut Rechtswissenschaftlern sowie Richtern des Obersten Bundesgerichts (STF) die bisherige Ermittlungsarbeit der Lava Jato-Behörde infrage. Aus den Leaks geht hervor, dass Moro als Richter die ermittelnden Staatsanwälte, insbesondere Staatsanwalt Deltan Dallagnol, im Verfahren gegen den früheren Präsidenten Lula da Silva anleitete. Ferner berieten sie die effektivste Vorgehensweise, um "eine Rückkehr der PT an die Macht" zu verhindern.

Nach Bekanntwerden der illegitimen und parteiischen Absprachen am Wochenende trafen sich die Richter des Obersten Bundesgerichts und des Obersten Gerichtshofs (STJ) noch Sonntagnacht zur Krisensitzung. Medienberichten zufolge diskutierten sie die Auswirkungen der Enthüllungen auf die Verfolgungen und Urteile in den zahlreichen Lava Jato-Prozessen. Uneinigkeit herrsche in Bezug auf Lulas Verfahren, berichtet die Zeitung Folha São Paulo. Ein Flügel hält eine Änderung des Urteils von Moro für unwahrscheinlich, da es von einer 2. Instanz bestätigt wurde. Ein anderer Flügel sieht den Prozess gegen Lula als kompromittiert, sollte sich bestätigen, dass Moro das Verfahren gezielt in eine Richtung gelenkt hat.

Weder Moro noch Dallgnol leugnen den Inhalt der enthüllten Nachrichten. Vielmehr verwies Moro auf "den kriminellen Ursprung" der geleakten Informationen durch Hacking.

Dennoch gehen Teile des Justizapparates auf Abstand zum heutigen Minister für Justiz. Bundesrichter Gilmar Mendes, der keineswegs als PT-Freund gilt, mahnte an, dass "ein Richter keine Ermittlungsbehörde anleiten kann". Noch am Montag folgte er dem Antrag von Lulas Verteidigung und eröffnete ein Verfahren, um eine mögliche Freilassung des Ex-Präsidenten zu prüfen. Im Dezember 2018 hatte er dies verhindert. Nun wird am 25. Juni die 2. Kammer des STF darüber verhandeln, ob Moro befangen war. Wenn die Richter dem Antrag Lulas folgen, könnten alle Entscheidungen Moros in Verfahren gegen Lula annulliert werden.

Lulas Nachfolger, der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Arbeiterpartei PT, Fernando Haddad, zeigte sich sicher, dass "der Fehler [Lulas Verurteilung] jetzt von höheren Gerichten korrigiert wird".

Verfassungsrechtler sind sich sicher, dass  die Audio-Dateien und Textnachrichten vor Gericht im Sinne des Angeklagten eingesetzt werden, auch wenn sie "kriminellen Ursprungs" sind. Die Dateien, die vor einigen Wochen von einer anonymen Quelle an The Intercept geschickt wurden, legen nahe, dass Richter und Staatsanwälte nicht wie unparteiische und unpolitische Akteure handelten, sondern nach ideologischen Überzeugungen und dass sie vor allem bestrebt waren, die Rückkehr der PT an die Regierung zu verhindern.

Unter anderem diskutierten die Staatsanwälte der Lava Jato, wie man ein Interview mit der Kolumnistin Mônica Bergamo der Folha de São Paulo und dem inhaftierten Lula da Silva verhindern oder in seiner Wirkung minimieren könne. Kurz vor der Präsidentschaftswahl, am 3. Oktober 2018, hatte der Oberste Bundesrichter Ricardo Lewandowski das Interview genehmigt. Daraufhin sei unter den Staatsanwälten "ein Klima der Empörung und Panik ausgebrochen", beschreibt The Intercept Brasil die interne Kommunikation.

So machte Staatsanwältin Laura Tessler im Gruppenchat deutlich, dass "das Pressegespräch [mit Lula] noch vor der Stichwahl, Haddad zum Sieg verhelfen kann". Eine Kollegin nannte die Genehmigung zum Interview widerwärtig. Die Staatsanwälte fürchteten, Lulas Popularität könnte sich auf Haddad übertragen und zu dessen Wahl beitragen.

The Intercept zufolge diskutierten sie mehrere Optionen, um das Interview zu verhindern. Einige plädierten dafür, es auf die Zeit nach der Wahl zu verschieben. Andere bevorzugten eine Pressekonferenz, um den Fokus des Interviews zu brechen. Weitere sprachen sich dafür aus, Interviews mit anderen berühmten Haftinsassen, wie Drogendealern, zu genehmigen. Auf diese Weise sollte die Aufmerksamkeit für Lula minimiert und dieser gleichsam in eine Reihe mit gewöhnlichen Kriminellen gestellt werden. Als später ein Eilantrag der rechtsliberalen Partei Partido Novo das Interview verhinderte, feierten sie dies als Erfolg.

Eine andere Chat-Sequenz zwischen Staatsanwalt Deltan Dallagnol und dem nicht identifizierten Kontakt "Carol PGR" [Procuradoria-Geral da República, etwa Bundesanwaltschaft] verdeutlicht die politische Überzeugung der Justizbeamten. Carol PGR: "Deltan, mein Freund! Ich bin sehr besorgt wegen einer möglichen Rückkehr der PT [an die Regierung]. Aber ich habe viel gebetet, damit Gott unsere Bevölkerung erleuchte und uns ein Wunder rette". Deltan Dallagnol antwortete: "Danke Dir Carol! Ja, bete! Das brauchen wir als Land." Laut Intercept zog sich der Austausch zwischen den beiden um Stunden hin. Die Diskussion habe mehr gemein gehabt mit einem Treffen zwischen Anti-PT-Strategen, als mit einer Unterhaltung unter vermeintlich unparteiischen Staatsanwälten, urteilt die Rechercheplattform.

Die Vorwürfe gegen Dallagnol und Moro belasten derzeit auch die Regierung von Präsident Jair Bolsonaro. Dieser hält zwar vorerst an seinem Justizminister und Wahlermöglicher fest. In der Öffentlichkeit vermied er es bislang, Stellung zu beziehen. Am Dienstag brach er eine Pressekonferenz ohne Begründung ab, nachdem Journalisten ihn zur Causa Moro befragten. Vize-Präsident und Ex-General Hamilton Mourão (PRTB) versuchte die Leaks zu disqualifizieren: Die Dialoge seien aus dem Kontext gerissen. "Privatgespräch ist Privatgespräch" so Mourão.

Doch die Regierungsmehrheit bröckelt. Im Kontext der Enthüllungen lehnte der Senatsausschuss für Recht und Verfassung das Gesetzesvorhaben der Regierung zur Lockerung des Waffenbesitzes am gestrigen Mittwoch überraschend ab. Das Gesetz fällt in den Zuständigkeitsbereich Moros. Dieser will nun dem Ausschuss kommende Woche zu den Leaks Rede und Antwort stehen. Unterdessen fordert der einflussreiche brasilianische Anwälte-Verband (OAB) von Moro und Dallagnol, ihre Ämter bis auf Weiteres niederzulegen.

Der Regierung Bolsonaro droht am morgigen Freitag die bisher größte Herausforderung, wenn Gewerkschaften, soziale Bewegungen und linke Gruppen und Parteien zum ersten Generalstreik gegen die Rentenreform aufrufen. Der Skandal um die vermeintlichen Korruptionsbekämpfer beschert dem Streik womöglich einen noch größeren Zulauf.