Brasilien steht vor Elendswelle in Folge der Corona-Infektionen

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Gegen den Corona-Virus verteilt die Wohnungslosenbewegung MTST Desinfektionsmittel, hier in Maceió. Präsident Jair Bolsonaro nennt den Virus "eine kleine Grippe".
Gegen den Corona-Virus verteilt die Wohnungslosenbewegung MTST Desinfektionsmittel, hier in Maceió. Präsident Jair Bolsonaro nennt den Virus "eine kleine Grippe".

Brasília. In schnellen Schritten breitet sich die Corona-Pandemie in Brasilien aus. Am Dienstag zählte das Gesundheitsministerium 2.201 bestätigte Infektionen und 46 Tote infolge einer Covid-19-Erkrankung. Demnach hat sich die Anzahl der bestätigten Fälle in den vergangenen drei Tagen verdoppelt.

Der wachsenden Zahl von Kranken ist Brasiliens Gesundheitssystem angesichts kaum vorhandener Beatmungsgeräte und Intensivbetten nicht gewachsen. "Ende April wird das Gesundheitssystem zusammenbrechen", teilte Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta am Samstag mit. Der Höhepunkt von Neuansteckungen werde erst für Ende August erwartet. Um einen Kollaps zu verhindern, müssten Bewegungen eingeschränkt werden, forderte Mandetta im Beisein des Präsidenten Jair Bolsonaro. Dieser hält davon jedoch wenig.

Es werde keinen Kollaps geben, versicherte er später: "Schließlich macht sich das 'Grippchen' bei 60 Prozent der Bevölkerung nicht bemerkbar", so der Präsident gegenüber dem Sender CNN Brasil. Wiederholt wandte er sich gegen die Quarantäne-Maßnahmen der einzelnen Bundesstaaten zur Einschränkung der Pandemie. Nachdem Bundesstaaten, die besonders vom Virus betroffen sind, den Verkehr auf Autobahnen und Flughäfen wegen mangelnder Kontrollen teilweise eingestellt hatten, veranlasste Bolsonaro, diese wieder zu öffnen.

Am Wochenende ordneten angesichts schnell steigender Corona-Fälle die rechtskonservativen Gouverneure von São Paulo, João Doria (PSDB), und von Rio de Janeiro, Wilson Witzel (PSC), die Quarantäne an. Seit Dienstag sind der Großteil der Geschäfte sowie Sportstätten, Restaurants oder Kirchen geschlossen. Für diesen Vorstoß bezeichnete Bolsonaro die beiden Gouverneure als "wahre Arbeitsplatzvernichter". Dabei warf er den beiden, die ihm politisch nahestehen, vor, sich gegen ihn verschworen zu haben. Gouverneur Doria sei ein "Spinner", der sich in der Krise profilieren wolle. So entwickelt sich der unterschiedliche Einsatz von Maßnahmen zur Bekämpfung von Corona zum Machtkampf zwischen Bolsonaro und dem rechts-konservativen Establishment im Land.

Zudem wurde deutlich, dass Bolsonaros Einsatz für die arbeitende Bevölkerung rein rhetorisch ist. Am Sonntag erließ er ein Gesetz (MP 927), wonach Arbeitgeber die Verträge mit den Angestellten für die kommenden vier Monate ignorieren könnten. Dies hätte bedeutet, dass sie keinen Lohn mehr zahlen müssten oder Angestellte jederzeit entlassen könnten. Nach massiven Protesten ruderte der Regierungschef noch am selben Tag zurück. Per Twitter teilte er mit, auf den umstrittenen Artikel 18 zur Vertragspause zu verzichten. Dennoch ist es weiterhin möglich, Personen im Krankheitsfall oder bei Infektion fristlos zu entlassen.

Gleichzeitig strich die Regierung entgegen ihrer bisherigen Ankündigungen in 158.000 Fällen die Sozialhilfe "Bolsa Familia". Inmitten der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Krise trifft das die Ärmsten der Armen. Über 30 Millionen neue Arbeitslose werden wegen der Corona-Welle vor allem in den unteren Einkommensgruppen erwartet. Insbesondere Tagelöhner wie Straßenverkäufer und Hausangestellte sind von Kontaktsperren und Quarantäne besonders betroffen. Laut einer Studie können 72 Prozent der Favela-Bewohner nicht auf Ersparnisse zurückgreifen. Jeder Dritte werde in der Quarantäne Probleme bekommen, ausreichend Lebensmittel zu kaufen, warnt das Institut Data Favela. Daher fordern Menschenrechtsorganisationen vom Obersten Bundesgericht (STF) die Rücknahme der Verfassungsänderung PEC 95, mit der 2016 alle Sozialausgaben eingefroren worden waren.

Derweil protestierten auch am Wochenende wieder Millionen kontaktfrei gegen den Präsidenten. Am Sonntagabend kam es zum achten "Panelaço", bei dem die Menschen von ihren Fenstern und Balkonen lautstark auf Töpfe schlagen oder auf den Straßen hupen. Mehr als 275.000 Personen haben bisher eine Petition für ein Amtsenthebungsverfahren des Präsidenten unterzeichnet, das von Abgeordneten der linken Partei PSOL, namhaften Intellektuellen und sozialen Bewegungen getragen wird.