Chile: Diskussion um "politische Gefangene" neu entfacht

Mutmaßlich aus politischen Gründen Inhaftierte werden in Chile zum Politikum. Linke fordern sofortige Freilassung. Fabrik aus Protest besetzt

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Protestierende besetzen Industrieareal in Padre Hurtado, um auf politische Gefangene aufmerksam zu machen
Protestierende besetzen Industrieareal in Padre Hurtado, um auf politische Gefangene aufmerksam zu machen

Santiago. Noch immer befinden sich zahlreiche Protestierende der großen Revolte 2019 in Haft. Vergangenen Donnerstag führten Familienangehörige und politische Aktivist:innen deshalb eine symbolische Besetzung eines alten Industriegeländes bei Santiago durch, um für die Freilassung der ihres Erachtens "politischen Gefangenen" zu protestieren. Es ist nicht die einzige Aktion in diesem Zusammenhang: Seit Tagen finden im ganzem Land Solidaritätsbekundungen statt.

Auftrieb bekam die Diskussion, nachdem nach der Wahl der verfassungsgebenden Versammlung am 16. Mai die "Lista del Pueblo" (LP/Liste des Volkes) verkündete, sie würden ohne die Freilassung der politischen Gefangenen nicht beginnen, die neue Verfassung zu schreiben. Camila Zarate, Mitglied des Verfassungskonvent und der LP, sagt, "es wäre unethisch und ein Verrat, diejenigen zu vergessen, die es ermöglichten, dass wir heute eine neue Verfassung schreiben".

Gleichzeitig wird derzeit in beiden Parlamentskammern über ein Gesetzesprojekt diskutiert, welches die meisten Gefangenen aus der sozialen Revolte freilassen soll. Innerhalb der Opposition genießt das Projekt allgemeinen Zuspruch, während die Regierung die These der politischen Gefangenen zurückweist.

Verónica Urrutia, selbst Mutter von einem mutmaßlich politischen Gefangenen, der seit mehr als einem Jahr im Hausarrest auf seinen Prozess wartet und davor ein halbes Jahr im Gefängnis saß, erklärt gegenüber amerika21 die Hintergründe. Laut ihr wurden die meisten Gefangenen während der Proteste von Oktober 2019 festgenommen und sitzen über mehrere Monate oder sogar Jahre in Untersuchungshaft. Urrutia meint, "die Polizei fälscht Beweise und kommt damit meist vor Gericht nicht durch". Das Problem, so Urrutia, ist allerdings, dass die Justiz trotzdem der Untersuchungshaft stattgibt und die Verfahren über Jahre verschleppt. Diese Art der Gefangenschaft könne mit einer politischen Haft gleichgesetzt werden.

"Da die Justiz keine Verbesserung verspricht, suchen wir jetzt diese politische Lösung eines Gesetzes zur Freilassung", erklärt Urrutia. Sie ist froh über die politische Unterstützung, die sie erfährt. Vor einigen Tagen nahm sie an einer Besichtigung eines Gefängnis in Santiago teil. Mehrere Parlamentarier:innen der Opposition waren dabei und suchten ein Gespräch mit der Gefängnisleitung. Urrutia erzählt, "es wurde wenig Konkretes beschlossen. Die Gefangenen leben in unerträglichen Zuständen, es gibt zu wenig Essen, das Wasser und der Strom fallen zeitweise aus und die Jungen frieren aufgrund fehlender Decken und Heizkörper". Derzeit ist in Chile Winter mit nächtlichen Temperaturen um den Gefrierpunkt.

Während linke Präsidentschaftskandidat:innen, wie Daniel Jadue und Gabriel Boric, die Freilassung der politischen Gefangenen fordern, veröffentliche die rechte Zeitung El Mercurio am Samstag ein Interview mit dem ehemaligen Präsidenten und Christdemokraten Eduardo Frei Ruiz-Tagle. Dieser unterstützt die Haltung der Regierung und behauptete "in Chile gibt es keine politischen Gefangenen". Die besagten Personen, seien einfache Kriminelle, die Läden geplündert und Häuser in Brand gesteckt hätten.

Genaue Zahlen zur Anzahl der politischen Gefangenen gibt es nicht. Laut offiziellen Zahlen wurden im Rahmen der sozialen Revolte von 2019 über 5.000 Personen festgenommen. Wie viele immer noch in Untersuchungshaft oder Hausarrest sitzen ist unbekannt. Gleichzeitig kommen regelmäßig neue Verhaftete hinzu. Diese werden bei Demonstrationen oder Aktionen der Polizei gegen angebliche kriminelle Banden festgenommen. Es gibt Gerichtsverhandlungen bei denen allerdings bekannt wird, dass Beweise durch die Polizei manipuliert wurden und Angeklagte durch Polizist:innen in Zivil angestiftet wurden, bei Gewalttaten mitzumachen.

Urrutia vertraut darauf, dass das Gesetzesprojekt in den kommenden Monaten angenommen wird. Sollte dies nicht geschehen, liegt ihre Hoffnung in der Wahl einer der linken Präsidentschaftskandidaten. Die Wahlen finden im November statt, der Amtsantritt des neuen Staatsoberhaupt soll im März stattfinden. Urrutia konnte bereits ein Gespräch mit dem Kommunisten Daniel Jadue führen, "er hat uns versprochen, als einer seiner ersten Amtshandlungen als Präsident die Gefangenen zu amnestieren", sagt sie.