Chile / Politik

Chile vor Richtungswahl: Reformen oder Stillstand?

Sieben Kandidat:innen treten für die Präsidentschaft an. Ultarechter Kast und Linkskandidat Boric gelten als Favoriten. Stichwahl sehr wahrscheinlich

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Zerstörte Wahlplakate von rechten Kandidat:innen in Santiago. Die Wut auf die Politiker:innen der Regierung ist weiterhin groß
Zerstörte Wahlplakate von rechten Kandidat:innen in Santiago. Die Wut auf die Politiker:innen der Regierung ist weiterhin groß

Santiago. Am 21. November werden in Chile ein:e neue:r Präsident:in, eine neue Abgeordnetenkammer, die Hälfte des Senats sowie die Regionalräte gewählt. Für viele ist es eine Wahl zwischen Reformen und reaktionärem Stillstand.

"Ich denke, Fabiola Campillai wird eine der ersten von vielen Arbeiter:innen im zukünftigen Senat sein", meint Carmen Castillo. Sie hängt noch schnell eine Flagge auf und stellt die Stühle zurecht. Castillo ist eigentlich Lehrerin, doch sie hat sich entschieden bei der Wahlkampagne für die Parteiunabhängige Campillai mitzuarbeiten.

Campillai wurde weltweit bekannt, als im November 2019, während der Oktoberrevolte, ein Polizist eine Gasgranate auf sie schoss. Ihr Gesicht wurde entstellt, trotz zahlreicher Operationen verlor sie ihr Augenlicht und den Geruchssinn. Heute ist sie Kandidatin in der Arbeiter:innensiedlung Juan Antonio Rios. Ihre Worte werden von Nachbar:innen und ortsansässigen Freunden und Verwandten von Opfern der Polizeigewalt der letzten Jahre gehört.

Verantwortlich dafür ist der Präsident Sebastián Piñera, der trotz Menschenrechtsverletzungen und Korruptionsvorwürfen sein Amt normal zu Ende bringen kann. Im März 2022 muss er dieses an die Person weitergeben, die am 21. November oder spätestens bei einer Stichwahl am 19. Dezember gewählt wird. Dem Unternehmer Piñera drohen nationale und internationale Gerichtsverfahren.

Zur Wahl für die Präsidentschaft stehen sieben Kandidat:innen. Unter ihnen Altkommunist, Eduardo Artés, der wohl kaum mehr als ein Prozent erhalten wird, und der linke Dauerkandidat Marco Enriquez-Ominami, der Sohn des Generalsekretär der marxistischen Bewegung der revolutionären Linken (MIR), Miguel Enríquez, der 1974 von der Militärdiktatur umgebracht wurde. Auch er hat kaum Chancen.

Die Kandidat:innen mit realen Aussichten, in die Stichwahl vom 19. Dezember zu kommen, sind der ultrarechte Kandidat José Antonio Kast, der offizielle Kandidat der Regierungsparteien Sebastián Sichel, die Christdemokratin Yasna Provoste und der linksgerichtete ehemalige Studierendenführer Gabriel Boric.

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Carmen Castillo mit der Fahne von Fabiola Campillai
Carmen Castillo mit der Fahne von Fabiola Campillai

Eine:r der Zuschauer:innen der Wahlveranstaltung von Campillai ist Eduardo Fernandez. Er ist allgemein skeptisch gegenüber den Wahlen, da er findet, dass dort kein echter Wandel stattfinden wird. Doch er gibt am Beispiel seiner Gemeinde zu, seitdem ein linker Bürgermeister an der Macht ist, hat sich die Situation verbessert, die öffentliche Bildung ist besser geworden und die Wege sind im besseren Zustand.

Fernandez sagt, "Artés gefällt mir am besten, aber strategisch gesehen werde ich Boric wählen, damit auf keinen Fall Kast gewinnt". Obwohl die Wahlumfragen allgemein von schlechter Qualität sind, hat die zunehmende Stärke von Kast in den Umfragen eine gewisse Angst bei Aktivist:innen ausgelöst. Fernandez fügt an: "Würde er regieren, hätten wir einen Bolsonaro in Chile, das wäre gerade für Basisorganisationen sehr schlecht".

Der linke Boric stellt sich hingegen als Vertreter der sozialen Bewegungen dar. Sein Wahlprogramm verspricht die Erfüllung vieler sozialer Forderungen der letzten Jahre: Ein einheitliches und öffentliches Gesundheitssystem für alle, eine solidarische Altersversorgung, Steuererhöhungen für Reiche und Unternehmen, Dialog und Anerkennung der indigenen Völker und Abschaltung aller Kohlekraftwerke bis zum Ende seiner Regierungszeit.

Kritiker:innen zweifeln an der Umsetzungsfähigkeit all dieser Versprechen. Gerade linke Akteur:innen hegen ein gewisses Misstrauen gegen Boric als Person, der während seiner Zeit als Parlamentarier zum Teil widersprüchliche Positionen hatte und keine klare politische Linie verfolgte. Der Wunschkandidat vieler Linker, der kommunistische Bürgermeister Daniel Jadue, hat in einer Vorwahl gegen Boric verloren. Nun sitzt die Kommunistische Partei in einer Koalition mit den Parteien der Frente Amplio, einem Wahlbündnis neuer linker Parteien, und unterstützt Boric.

Doch um regieren zu können, braucht es eine Mehrheit im Parlament. Am 21. November wird die gesamte Abgeordnetenkammer und die Hälfte des Senats neu gewählt, da hier die Amtszeit acht Jahre beträgt. Allein zu den Parlamentswahlen treten je nach Wahlkreis über zehn verschiedene Listen an. Hinter den wichtigsten Präsidentschaftskandidat:innen hat sich jeweils eine Liste formiert. Zusätzlich stellen verschiedene, meist linke Kleinstparteien, weitere Listen.

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Fabiola Campillai während ihrer Rede. Bei einem Wahlerfolg, wäre sie die erste blinde Senatorin in der Geschichte Chiles
Fabiola Campillai während ihrer Rede. Bei einem Wahlerfolg, wäre sie die erste blinde Senatorin in der Geschichte Chiles

Es scheint schwierig, dass eine Koalition eine Mehrheit im Parlament erlangen könnte. Vermutlich werden für die Stichwahl im Dezember neue Allianzen geschmiedet.

Im Gegensatz zu den Wahlen zum Verfassungskonvent gab es dieses Mal nicht die vereinfachte Möglichkeit parteiunabhängige Wahllisten zu gründen. Die größte Gruppe parteiloser – die Volksliste – hat sich zudem aufgrund mehrerer interner Skandale heillos zerstritten (amerika21 berichtete) und ist mittlerweile in der Bedeutungslosigkeit versunken. Auch Campillai war Teil dieser Gruppierung und tritt heute als unabhängige Kandidatin an.

Bei der Wahlveranstaltung erzählt Campillai, eigentlich brauchten sie 12.000 Unterschriften für eine Kandidatur, schlussendlich kamen mehr als 15.000 zusammen. Ein Zeichen dafür, dass auch sie es in den Senat schaffen kann. Castillo meint, sie brauchen mindestens 300.000 Stimmen.

Bei den Präsidentschaftskandidat:innen wird erwartet, dass auf linker Seite Boric in die Stichwahl kommt. Auf rechter Seite ist unklar, ob Kast oder Sichel mehr Zustimmung erhalten. Zwar führt Kast in den Umfragen, jedoch wurde sein Programm in der letzten Fernsehdebatte am vergangenen Montag von einer Journalistin auseinandergenommen. Der Kandidat war unfähig, sein eigenes Regierungsprogramm zu verteidigen, musste allgemeines Gelächter über sich ergehen lassen sowie die Frage: "Haben sie wirklich das Programm geschrieben?".

Je nach dem, ob Kast oder Sichel in die zweite Runde kommt, werden sich die rechten Parteien hinter einem der beiden aufstellen. Dies würde entweder zu einer ultrarechten oder gemäßigt rechten Opposition bei einer möglichen Regierung von Boric führen.