Kolumbien: "Primera Línea" sucht Schutz bei der OAS-Menschenrechtskommission

Mindestens 250 Mitglieder der "Ersten Linien" verhaftet. Angehörige der Bewegung sehen darin hinsichtlich bevorstehender Wahlen eine Strategie

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Aktion der Blauschilde bei Messe für Rüstungsgüter. Anspielung auf die "Falsos Positivos": "Wie viele Positivos muss ich für Ihre Sicherheit ermorden?"
Aktion der Blauschilde bei Messe für Rüstungsgüter. Anspielung auf die "Falsos Positivos": "Wie viele Positivos muss ich für Ihre Sicherheit ermorden?"

Bogotá. Die "Blauschilde" haben eine Verfolgungskampagne der kolumbianischen Regierung angeprangert und bei der Interamerikanische Menschenrechtskommission CIDH Schutzmaßnahmen beantragt. Die "Blauschilde" sind seit 2019 als Teil der Protestbewegung des südamerikanischen Landes aktiv und gehören zu den "Ersten Linien" (Primeras Líneas), die mit Helmen und selbstgebastelten Schutzschilden Mitprotestierende vor der Polizeigewalt beschützen.

Sie beklagen massive physische Angriffe, Überwachung, Drohungen und Kriminalisierung. Sie machen die Regierung von Iván Duque, die Regierungspartei Centro Democrático, die Polizei unter der Leitung von Luis Vargas und die Staatsanwaltschaft unter der Leitung von Francisco Barbosa für die Verfolgung verantwortlich.

Tatsächlich verkündete Verteidigungsminister Diego Molano letzte Woche die Verhaftung von 250 Mitgliedern der "Ersten Linien" landesweit. Dabei lautet die häufigste Anklage der Staatsanwaltschaft Terrorismus und Verabredung zu einem Verbrechen. Die Massenverhaftungen sollen in den letzten Monaten in Bogotá, Paipa, Cali, Manizales und Medellín stattgefunden haben, berichtet die Aktivistin der Blauschilde "Simona".

Parallel zur Verhaftungswelle laufe seit Ende Juli eine Verleumdungskampagne gegen die "Ersten Linien", nachdem sie zwei Monate lang tagtäglich die Proteste der "sozialen Explosion" gegen die Repression durch die Polizei und zivile Bewaffnete verteidigt hatten. Medien und staatliche Stellen würden fast jeden Tag Nachrichten über sie bringen, in denen sie als "Vandalen" und "Terroristen" abgestempelt werden.

Auch Protestteilnehmer:innen, die mit den "Ersten Linien" Hand in Hand Menschenrechtsarbeit und Berichterstattung während der Attacken der Polizei geleistet haben, werden verfolgt und verhaftet. In einem Interview mit der Journalistin María Jimena Duzán nannten "Simona" und ihre Mitstreiterin "Natalia" mehrere Fälle. Zum Beispiel die Menschenrechtlerin aus Boyacá, Juliana Higuera Quintero, die sich unter anderem für die Opfer der Polizeigewalt engagierte. Sie wurde als Mitglied der möglicherweise erfundenen Struktur "Radikale organisierte Gruppe der Schildträger" wegen Verabredung zu einem Verbrechen und Terrorismus angeklagt.

Ebenfalls wegen Terrorismus wurde der 25-Jährige Grundschullehrer Juan Fernando Torres aus Medellín angeklagt, weil er Polizisten, die Protestierende misshandelten, beschimpfte und sie mit seinem Handy aufzeichnete. Seine Schimpfworte hat die Justiz als Befehle interpretiert, die die Protestierenden zu "größeren Beschädigungen an öffentlichen und privaten Gütern" anregen sollten. Torres erwarten bis zu 22 Jahre Gefängnis, sollte er verurteilt werden.

Ein weiteres Beispiel sind Jhonatan Cortés und Karol Cepeda aus dem Bogotá-Stadtbezirk Suba, wo die Protestbewegung besonders stark ist. Sie wurden wegen Terrorismus, Verabredung zu einem Verbrechen, Mordversuch und Störung des öffentlichen Verkehrs angeklagt. Unter anderem hätten sie ein Video davon gemacht, wie Angehörige der Polizei im August einen Bus anzündeten. Zunächst hieß es aber in allen Medien, Protestierende hätten den Bus verbrannt.

Tatsächlich hatte der Vorsitzende des "Solidaritätskomitees für politische Gefangene", Franklin Cepeda, im Gespräch mit amerika21 angeprangert, die Regierung instrumentalisiere gerade die Staatsanwaltschaft, um "einen Kreuzzug" gegen die Protestbewegung zu führen. In Kolumbien gilt der alte persönliche Freund von Iván Duque und jetzige Generalstaatsanwalt, Francisco Barbosa, als regierungsnah. Laut "Simona" sei die Strategie der Regierung, genau diejenigen ins Gefängnis zu schicken, die sich gegen sie stellen, um "ein freies Feld" vor den bevorstehenden Wahlen zu haben.

Währenddessen schreiten die Ermittlungen gegen Angehörige der Polizei und zivile Bewaffnete kaum voran, die Protestierende attackiert oder auf sie geschossen haben. Wenn die Justiz gegen sie ermittelt, werden sie nicht verhaftet. Der grüne Stadtrat von Bogotá, Diego Cancino, twitterte darüber: "Warum werden die Jugendlichen wegen ihrer Chats angeklagt, ihre Häuser durchsucht, sie selbst verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, aber die Streifenpolizisten und Polizeikommandanten, die wegen Mordes angeklagt sind, befinden sich auf freiem Fuß?"

"Es ist unmöglich, keine Angst vor dieser narco-paramilitärischen Regierung zu spüren", gesteht "Simona". "Ja, es gibt Angst, aber wir bleiben auf der Straße", versichert sie.