Verfassungsentwurf in Chile vorgelegt

Neoliberaler Staat soll durch das Modell eines "sozialen und demokratischen Rechtsstaates" ersetzt werden. Prinzipien der Plurinationalität und des Naturschutzes nehmen großen Raum ein

boric_verfassungsentwurf.jpg

Präsident Gabriel Boric nahm am Montag den Verfassungsentwurf entgegen
Präsident Gabriel Boric nahm am Montag den Verfassungsentwurf entgegen

Santiago. Der Verfassungskonvent in Chile hat den lang erwarteten Entwurf für eine neue Verfassung vorgelegt. Dem Entwurf waren zwölf Monate Beratungen unter Einbeziehung von Vorschlägen aus der Gesellschaft vorangegangen. Über den Text des Grundgesetzes wird am 4. September in einem landesweiten und obligatorischen Plebiszit abgestimmt.

Am Montag wurde der finale Text bei einer offiziellen Zeremonie dem amtierenden linken Präsidenten Gabriel Boric vorgestellt. Die Übergabe des Verfassungsentwurfs an Boric und das offizielle Ende der Arbeit der verfassungsgebenden Versammlung wurden von Kundgebungen und Mobilisierungen verschiedener Gruppen im ganzen Land begleitet.

Nach der abschließenden plenaren Sitzung des Verfassungskonvents erklärte Tammy Pustilnick, eine der Koordinator:innen des Konvents: "Wir sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Von den 538 Anträgen für Konkretisierung, über die im Plenum abgestimmt werden musste, wurden nur vier für die ständigen Artikel abgelehnt, so dass wir sagen können, dass der Harmonisierungsausschuss seine Aufgabe erfüllt hat." Man werde einen "kohärenten, systematisierten und klar formulierten Text für die Volksabstimmung vorlegen".

Der Entwurf enthält neben Kapiteln zur Gewaltenteilung u.a. auch Kapitel zu Natur und Umwelt, demokratischer Beteiligung, guter Regierungsführung und öffentlichem Dienst und zur regionalen staatlichen und territorialen Organisation. Vor allem territoriale und kulturelle Fragen und eine Neuorganisation staatlicher Institutionen in Bezug auf das Wahlrecht, die Einrichtung von Regionalkammern statt eines Senats und eine mögliche Auflösung der umstrittenen Carabineros de Chile, waren in den vergangenen Monaten stark diskutiert worden (amerika21 berichtete).

Der erste Artikel des Textes definiert Chile als "sozialen und demokratischen Rechtsstaat", der "multinational, interkulturell, regional und ökologisch" ist. Als wichtiger neuer Verfassungsgrundsatz wird in dem Entwurf festgehalten, den derzeitigen "subsidiären" neoliberalen Staat durch ein Modell eines Rechtsstaats zu ersetzen, in dem sich der Staat aktiv für das Wohlergehen der Menschen einsetzt und der die Pluralität Chiles anerkennt.

In den zwei Monaten bis zum Plebiszit haben Chilen:innen jetzt Zeit sich über die Inhalte des neuen Verfassungstextes zu informieren. "Der 4. September wird ein historischer Tag sein, unabhängig vom Ausgang des Plebiszits. Deshalb arbeiten wir daran und werden dies auch weiterhin tun, sicherzustellen, dass die Abstimmung in Kenntnis der Sachlage erfolgt", sagte Ministerin Camila Vallejo dazu auf einer Veranstaltung. Dort stellte sie als Abschluss der ersten Phase der Informationskampagne ein Video der Regierung vor, das über den Prozess der Erarbeitung, die Verfassungsgeschichte und den Inhalt des neuen Textes informiert.

Unterstaatssekretärin Valeska Naranjo erklärte, dass in der ersten Phase der landesweiten Informationskampagne insgesamt 118 Informationsmodule eingerichtet wurden. "Das Plebiszit ist für alle Wahlberechtigten obligatorisch. Mit der Verabschiedung des Verfassungstextes beginnt nun eine neue Etappe, und als Regierung rufen wir dazu auf, sich über zuverlässige Quellen zu informieren", fügte Naranjo hinzu.

Vor diesen Kampagnen haben soziale Bewegungen und unabhängige Medien bereits frühzeitig angefangen, Strategien für die Information über den Verfassungsentwurf zu entwickeln. Ihnen kommt auf Grund der konservativ dominierten Medienlandschaft und vor dem Hintergrund eines anhaltenden Misstrauens in die Regierung eine besondere Rolle zu.

Die verfassungsgebende Versammlung wurde im Oktober 2019 nach dem sozialen Aufstand initiiert. Aufgabe des Konvents war es, einen Entwurf zu erarbeiten, der die aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammenden neoliberalen Verfassungsnormen ersetzt und die rechtliche Grundlage für weitere soziale Transformationsprozesse ändert. Die Versammlung war paritätisch besetzt, hatte eine festgelegte Anzahl von Sitzen für indigene Vertreter:innen und umfasste mehrheitlich Personen ohne traditionellen parteipolitischen Hintergrund.

In den vergangenen Monaten hatten die Rechte und die alte Oligarchie mit Unterstützung der Medien kräftig mobilisiert und mit Desinformationskampagnen massiv Stimmung gegen die neue Verfassung gemacht (amerika21 berichtete). Beobachter:innen glauben, dass sie, wenn sie schon innerhalb des Konvents keine Chance auf Einflussnahme auf den Inhalt des Textes durch eine Sperrminorität geltend machen konnten, jetzt versuchen werden, den Prozess im letzten Schritt, dem Plebiszit, zu kippen.

Sollten die Chilen:innen am 4. September für die Annahme des neuen Verfassungstextes stimmen, wäre dies ein historisches Ereignis für das Land. Nicht nur wegen der relativ progressiven Artikel der Verfassung, sondern vor allem auch wegen dem Druck von der Straße zum Start des verfassungsgebenden Prozesses und der Art, wie die Verfassung erarbeitet wurde.