Argentinien / Politik

Anschlag auf Vize-Präsidentin Cristina Kirchner wühlt Argentinien auf

Massen versammeln sich auf der Plaza de Mayo in der Hauptstadt. Tatmotiv bisher ungeklärt. Kritiker verurteilen "Hasskampagne" der vergangenen Wochen

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Der Plaza de Mayo, Ort mit Geschichte, wo sich am Freitag wieder zahlreiche Menschen versammelten
Der Plaza de Mayo, Ort mit Geschichte, wo sich am Freitag wieder zahlreiche Menschen versammelten

Buenos Aires. Stunde um Stunde haben sich gestern immer mehr Menschen auf dem Plaza de Mayo in Argentiniens Hauptstadt versammelt, um Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner ihre Solidarität zu bekunden und ein Ende der Gewalt im politischen Leben des Landes zu fordern.

Am Abend zuvor hatte sich ein Anschlag auf Kirchner ereignet, bei dem ein Mann aus nächster Nähe mit einer Pistole auf den Kopf der führenden linksperonistischen Politikerin zielte und abdrückte. Der Schuss löste sich allerdings nicht und die Politikerin nahm keinen Schaden.

Nach dem versuchten Mordanschlag riefen politische Gruppen, unterschiedliche Gewerkschaften und soziale Organisationen zu Protesten auf. Die Regierung unter Präsident Alberto Fernández erklärte den Freitag zum freien Tag und ermöglichte der Bevölkerung damit eine Teilnahme an den angekündigten Demonstrationen.

Bereits am Freitagmorgen versammelten sich zahlreiche Bürgerinnen und Bürger im Stadtzentrum von Buenos Aires und an anderen Orten des Landes. Im Laufe des Tages beteiligten sich immer mehr Menschen an den Demonstrationen, die weitestgehend friedlich abliefen.

Vor dem Hintergrund eines im Land und international höchst umstrittenen Korruptionsverfahrens gegen Kirchner wurde sie in den letzten Tagen regelmäßig beim Betreten und Verlassen ihrer Wohnung von zahlreichen Anhängern begrüßt. Eine solche Gelegenheit nutzte der Attentäter, um nah genug an die Vize-Präsidentin heran zu kommen und ihr eine Pistole ins Gesicht zu halten. Der Schuss ging aus bisher ungeklärten Umständen nicht los und der Angreifer wurde von anwesenden Aktivisten und Personenschützern niedergerungen.

Gegenüber amerika21 berichtete eine Augenzeugin: "Trotz des Vorfalls hat sie die Runde gemacht und Leute begrüßt, umarmt, Fotos schießen lassen und Bücher signiert. Von dem Attentat haben wir vor Ort nichts mitbekommen!" Und weiter: "Erst Zuhause hab ich die Nachrichten erhalten, die Videos von der Waffe in ihrem Gesicht gesehen".

Bei dem Täter handelt es sich um einen 35-jährigen Brasilianer, Sohn einer argentinischen Mutter, der bereits seit seinem sechsten Lebensjahr in Argentinien lebt. In seinem Haus soll Berichten zufolge noch weitere Munition gefunden worden sein. Ob es sich bei ihm um einen Einzeltäter oder möglicherweise einen Auftragsmörder handelt, wird derzeit noch geprüft. Als ein Anhaltspunkt für die Ermittlungen wird bislang genannt, dass er eine "Schwarze Sonne" ‒ international ein von Neonazis benutztes Symbol ‒ auf den Arm tätowiert hat.

Erste Indizien sollen auf einen Einzelgänger hinweisen, der durch die rechtsgerichteten Medien und ihren teils sehr gewalttätigen Diskurs gegen Kirchner beeinflusst wurde.

Mit wenigen Ausnahmen hat das gesamte politische Spektrum in Argentinien das Attentat verurteilt. Auch international kamen Solidaritätsbekundungen von zahlreichen Staatsoberhäuptern und Politikern.

So twitterte der Präsidentschaftskandidat für Brasilien, Lula da Silva: "Meine ganze Solidarität gilt der Genossin @CFKArgentinien, Opfer eines kriminellen Faschisten, der nicht weiß, wie man Unterschiede und Vielfalt respektiert. Cristina ist eine Frau, die den Respekt eines jeden Demokraten in der Welt verdient. Gott sei Dank ist sie unverletzt geblieben."

Auch Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro äußerte sich. Auf einer Wahlkampfveranstaltung beteuerte er, dass die Geschehnisse ihm leid täten und dass er "bereits eine Notiz" an Kirchner geschickt habe. "Das ist ein Risiko, das jeder eingeht", erklärte er und innerte daran, dass er selbst im Wahlkampf 2018 mit einem Messer attackiert wurde. "Ich bin 2018 fast gestorben und habe keine Linken gesehen, die um mich besorgt waren. Aber was soll's".

Der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Axel Kicillof, machte in einem Interview Hassaufrufe der Opposition und ihrer Medien verantwortlich und sparte auch Staatsanwalt Diego Luciani nicht aus. Dieser habe "neun Tage lang eine Kette von Lügen und Diffamierungen" gegen Kirchner losgelassen, "ohne einen einzigen Beweis zu liefern". Hierdurch sei es zu einem neuen Gipfel an institutioneller Gewalt durch die Justiz gekommen. Er rief alle Beteiligten auf, die Gelegenheit zu nutzen und die Hass- und Gewaltaufforderungen endgültig einzustellen.

Seit dem Bekanntwerden der Strafforderung von Luciani vor zwei Wochen in einem von weiten Teilen der Bevölkerung als politisch motiviert angesehenen Verfahren war die Situation im Land sehr angespannt (amerika21 berichtete).

Während die rechtsgerichteten Medien sich im Beifall für den Staatsanwalt und eine Verurteilung der Vizepräsidentin überschlugen und ein oppositioneller Abgeordneter sogar die Todesstrafe forderte, fanden in der Öffentlichkeit eine Reihe von Protestdemonstrationen und Solidaritätskundgebungen für Kirchner statt.

Vor der Wohnung der Vizepräsidentin im Stadtteil Recoleta versammelten sich in der Vergangenheit, unbehelligt von der Polizei, immer wieder kleine Gruppen von Kirchners Gegnern. Bereits am Abend nach der Strafforderung des Staatsanwalts war dies zu beobachten. Diese Gruppen wurden jedoch von einer größeren Menge ihrer Unterstützer vertrieben. Die zu spät eintreffende Polizei versuchte erfolglos, die Menschenmenge mit Tränengas, Wasserwerfern und dem Einsatz von Schlagstöcken vom Ort zu vertreiben.

Für die folgenden zwei Wochen verwandelten sich die Straßen um die Wohnung Kirchners zu einem Treffpunkt ihrer Anhänger, die Stimmung nahm zeitweilig Volksfestcharakter an. Die Versuche der rechtsgerichteten Stadtregierung von Horacio Rodriguez Larreta, die Gegend abzuriegeln, führten zu Straßenkämpfen, einem Konflikt zwischen Stadt- und Bundespolizei ‒ letztere für die Sicherheit der Regierungsmitglieder zuständig ‒ und einer richterlichen Intervention, die den Rückzug der Stadtpolizei anordnete.