Millionen Menschen am 1. Mai in Lateinamerika auf der Straße

Informelle Wirtschaft, Vertreibung, Anstieg der Lebenshaltungskosten, Arbeitslosigkeit, extreme Armut und Kaufkraftverlust der Löhne machen Lateinamerika zu einer der ungleichsten Regionen der Welt

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1. Mai in San Salvador: Proteste gegen den sozialen, wirtschaftlichen, gesundheitlichen und bildungspolitischen Mangel
1. Mai in San Salvador: Proteste gegen den sozialen, wirtschaftlichen, gesundheitlichen und bildungspolitischen Mangel

Bogotá/San Salvador et al. In allen lateinamerikanischen Ländern haben am 1. Mai die organisierte Arbeiterschaft und soziale Bewegungen ihre Forderungen auf Demonstrationen und Kundgebungen zum Ausdruck gebracht. Bei unterschiedlichen Akzenten hatten die Forderungen jedoch als gemeinsames Thema die wirtschaftliche Not, die soziale Unruhen antreibt.

Während es in Chile, wo der Abschied von der Verfassung der Pinochet-Diktatur sich weiter verzögert, zu einigen Unruhen kam, verliefen die Demonstrationen in Kolumbien friedlich. Etwas Besonderes in diesem Jahr war die Rede von Präsident Gustavo Petro, in der er zur sozialen Mobilisierung aufrief, um Druck für bisher im Parlament blockierte Reformen der Regierung zu schaffen. "Es reicht nicht aus, an der Wahlurne zu gewinnen", rief er. "Ich lade euch ein, an vorderster Front für die Umgestaltung Kolumbiens zu kämpfen", sagte Petro.

In Bolivien, Brasilien und Venezuela verfügten die Regierungen zum 1. Mai Erhöhungen der Mindestlöhne und Sozialhilfen. Der bolivianische Präsident Luis Arce führte mit dieser Ankündigung den Marsch am Montag zusammen mit der Zentralgewerkschaft an, um sein Bündnis mit den Gewerkschaften zu stärken.

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Der Organisationsgrad der Arbeiterschaft in Bolivien ist hoch
Der Organisationsgrad der Arbeiterschaft in Bolivien ist hoch

In der Hauptstadt Venezuelas trugen die Demonstranten Schilder mit Slogans wie "Anständige Löhne und Renten jetzt!", viele skandierten: "Das ist keine Blockade, das ist Plünderung", eine Anspielung auf die US-Sanktionen, unter denen die Bevölkerung des Landes massiv leidet. Zuletzt im März letzten Jahres hatte die Regierung von Nicolás Maduro den Mindestlohn angehoben, dessen Wert in Lebensmitteln indes bereits wieder auf ein Sechstel geschrumpft ist.

In Argentinien richteten sich die Slogans gegen den Internationalen Währungsfonds, dessen Anpassungsmaßnahmen die Linke für die wirtschaftliche Krise und die Armut verantwortlich macht.

In El Salvador fanden die Mobilisierungen zum 1. Mai unter den Bedingungen des Ausnahmezustands statt, den Regierung und Parlament seit mehr als einem Jahr regelmäßig verlängern.

Die offizielle Begründung dafür ist die Bekämpfung der Bandenkriminalität und die Wiederherstellung von Sicherheit. In der Bevölkerung gibt es eine erhebliche Akzeptanz der Sicherheitspolitik, die in einem Jahr zu mehr als 65.000 Verhaftungen Verdächtiger bei einer Bevölkerung von 6,3 Millionen geführt hat. Die gesellschaftliche Spaltung hat zu zwei eigenen Blöcken bei den Manifestationen zum 1. Mai geführt.

An dem von regierungsnahen Gewerkschaften organisierten Marsch, der unter anderem die Wiederwahl von Präsident Nayib Bukele forderte, sollen etwa 10.000 Personen teilgenommen haben. Die Unidad Sindical Salvadoreña (USS), in der rund 250 Gewerkschaften zusammengeschlossen sind, führte den Marsch an.

Arbeitsminister Rolando Castro war in Vertretung des Präsidenten anwesend und erklärte, dass Bukele ihm aufgetragen habe, die "authentische Gewerkschaftsbewegung" zu begleiten, in Abgrenzung zu dem anderen Marsch, dem mehr als 50.000 Menschen gefolgt sein sollen, die gegen die hohen Lebenshaltungskosten, das Notstandsregime, Entlassungen und die Verhaftung tausender unschuldiger Menschen protestierten.

Hier waren auch Forderungen nach Anhebung des Mindestlohns zu hören, wie auch für das Einfrieren der Preise für Grundnahrungsmittel, die Achtung der Gewerkschaftsfreiheit, die Bekämpfung der Frauenmorde und die Überarbeitung des Rentensystems. Die Familien der Arbeiter und Arbeiterinnen leiden seit Jahren unter sozialem, wirtschaftlichem, gesundheitlichem und bildungspolitischem Mangel, wie in Reden vorgetragen wurde.

Führende Vertreter und Mitglieder der Parteien Nuestro Tiempo, Vamos, Farabundo Martí Para la Liberación Nacional (FMLN) und anderer Gruppen nahmen teil und riefen zur Bildung einer "Nationalen Front" mit einem gemeinsamen Kandidaten auf, der bei den Wahlen 2024 gegen Bukele antreten solle.

Diego Lorca, der Direktor der Internationalen Beobachtungsstelle für die Zukunft der Arbeit, die mit dem Lateinamerikanischen Zentrum für strategische Analyse (Clae) verbunden ist, hat zum diesjährigen Tag der organisierten Arbeiterschaft einige Daten zur lateinamerikanischen Situation ausgewertet.

Eine gewichtige strukturelle Besonderheit in der Region sei die Informalität der Arbeit, die laut der Internationalen Arbeitsorganisation aktuell 53 Prozent beträgt. Weiterhin würden Arbeitsplätze informell geschaffen, was ein hohes Maß an Unsicherheit für die Beschäftigen bedeutet.

Hinzu komme ein ernstes Problem, das weltweit zunimmt und die Arbeiterschaft in der Region direkt betrifft: die großen Karawanen von Migranten. Lorca führt einen Bericht der Interamerikanischen Entwicklungsbank an, dem zufolge in Lateinamerika 26 Prozent der weltweiten Migration stattfindet.

Ein Beispiel sind die Migrantenkarawanen, die sich hauptsächlich aus Menschen aus Honduras, Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Kolumbien und Venezuela zusammensetzen, die seit 2019 beobachtet werden und bis heute anhalten. Die Gründe, aus denen sich Menschen zur Migration entschließen, seien vielfältig, wie gewaltsame Auseinandersetzungen in den Herkunftsländern, Verfolgung oder Naturkatastrophen, aber der größte Teil der Migration sei armuts- und arbeitsbedingt.

"134 Jahre nach der Parole 'acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit und acht Stunden Ruhe' beobachten wir, wie die aktuelle Phase des digitalisierten Kapitalismus den Grad der Ausbeutung der Arbeiterklasse erhöht. Wir sehen, wie Arbeitslosigkeit, extreme Armut, die Vertreibung großer Massen von Arbeitnehmern, die in der informellen Wirtschaft oder in Migrantenkarawanen landen, der Anstieg der Lebenshaltungskosten, der Kaufkraftverlust der Löhne Lateinamerika zu einer der ungleichsten Regionen der Welt machen", fasst Lorca zusammen.