Schleppende Aufarbeitung der schweren Polizeiübergriffe in Chile

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Weitestgehend straffrei: Polizeigewalt in Chile gegen Demonstrierende
Weitestgehend straffrei: Polizeigewalt in Chile gegen Demonstrierende

Santiago. Das Gericht hat nicht genügend Beweise dafür gesehen, das der Polizist Juan Felipe González Ganga den Schuss mit Schrotmunition aus nächste Nähe ins Gesicht eines 29-jährigen Demonstranten abgefeuert hat. Der Vorfall ereignete sich während der großen sozialen Proteste im Jahr 2019 in Chile. Helfer brachten den jungen Mann ins Stadtkrankenhaus, wo später ein teilweiser Sehverlust seines linken Auges festgestellt wurde.

Während Demonstranten oft gruppenweise ohne Berücksichtigung der jeweiligen Umstände von Haftrichtern in Gewahrsam genommen wurden und eine große Gruppe monatelang ohne Anklage in Untersuchungshaft verbrachte, wird gegen die Verantwortlichen der gewaltsamen Auflösung der Proteste nicht oder nur schleppend ermittelt.

Im diesem Fall sah der Anwalt des Opfers die Schuld des besagten Polizisten als erwiesen und verlangte dementsprechend 15 Jahre Haft wegen besonders schwerer Körperverletzung. Es gibt eine Videoaufzeichnung einer von der Gemeindeverwaltung installierten Überwachungskamera, die den Vorgang vollständig aufgezeichnet hat. Man sieht, wie aus einem Streifenwagen, in dem der Angeklagte saß, aus nächster Nähe auf den jungen Mann geschossen wird. Die Schrotteile aus seiner Kleidung und seinem Gesicht konnten eindeutig der Polizeiwaffe zugeordnet werden. Der Anwalt sagte zu dem Freispruch: "Die Justiz sucht jedwede Entschuldigung, um die Schuldigen nicht zu verurteilen".

Dieser Freispruch im einzigen Gerichtsverfahren in der Region La Araucanía hat System. Der Beobachter stellt Verfahrensverschleppungen fest, hunderte Anzeigen wurden erst gar nicht angenommen oder, wie in diesem Fall, enden Gerichtsverfahren mit Freisprüchen.

Im März 2020 lagen der Staatsanwaltschaft 6.568 Anzeigen von Menschenrechtsverletzungen vor, von denen 3.050 ohne Anklage blieben, die Verfahren vorläufig eingestellt wurden erst gar nicht ermittelt wurde. Die Staatsanwaltschaft erklärte: "Uns fehlen die Mittel".

Bis 2022 kam es zwar zu 13 Verurteilungen wegen Menschenrechtsverletzungen, dennoch steht die Anzahl der Verurteilten in keinem Verhältnis zum angerichteten Schaden. Alleine die schweren und schwersten Augenverletzungen mit teilweisem oder totalem Verlust der Sehkraft zählen 352 Fälle, wie der der später zur Senatorin gewählten Fabiola Campillai.

Bei der Verfolgung von Demonstranten, oft nur wegen Sachbeschädigung oder Widerstand gegen die Staatsgewalt, beklagte die Staatsanwaltschaft nie fehlende Mittel. Bis Dezember 2019, also zwei Monate nach Ausbruch der Proteste, war bereits in 41.075 Fällen ermittelt worden und die Justiz hatte 3.879 Verurteilungen ausgesprochen.

Präsident Gabriel Boric hat indes angeordnet, den Opfern, je nach schwere der erlittenen Verletzungen, eine Rente von bis zu umgerechnet etwa 550 Euro zu zahlen, wenn sie Arbeitsunfähigkeit nachweisen können.

Das Nationale Institut für Menschenrechte kritisiert, dass viele Opfer von einer Wiedergutmachung ausgeschlossen bleiben, da sie eine teilweise oder volle Arbeitsunfähigkeit nicht nachweisen können.