Parlament von Chile verabschiedet umstrittenes Polizeigesetz

Höhere Strafen bei Gewalt gegen Polizist:innen. Mehr Spielraum für Polizeigewalt. Vereinte Nationen: Gesetz nicht im Einklang mit Menschenrechtsnormen

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Schulterschluss zwischen Präsidenten Boric und dem Generaldirektor der Carabineros, Ricardo Yañez. Mit dem neuen Gesetz kann protestieren gefährlicher werden.
Schulterschluss zwischen Präsidenten Boric und dem Generaldirektor der Carabineros, Ricardo Yañez. Mit dem neuen Gesetz kann protestieren gefährlicher werden.

Valparaíso/Santiago de Chile. Das Parlament von Chile hat das Gesetzespaket Nain-Retamal verabschiedet. Es ist nach zwei in diesem Jahr getöteten Carabineros benannt. Das Gesetz soll die Strafen bei Gewalt gegenüber Ordnungskräften erhöhen und den Polizist:innen mehr Spielraum für den Einsatz von Schusswaffen geben. Kritiker:innen bezeichnen das Gesetz als "gatillo fácil", womit das Verhalten von Sicherheitskräften bezeichnet wird, die vorschnell von der Schusswaffe Gebrauch machen.

Die rechte Opposition feierte die Verabschiedung des Gesetzes. "Wer heute einen gatillo fácil hat, ist die organisierte Kriminalität. Wir möchten dafür sorgen, dass ihnen diese Möglichkeit entzogen wird, und dafür sorgen, dass die Polizei handeln darf mit dem dafür nötigen Respekt", sagte der Parlamentarier Javier Macaya von der ultrarechten Partei Unión Democráta Independiente.

Für Macarena Silva von der Menschenrechtsorganisation und Gedenkstätte Londres 38 ist das Gesetz ein schwerer Rückschritt. "50 Jahre nach dem Militärputsch verabschiedet das Parlament ein Gesetz, dass die Straflosigkeit der Polizei sucht und jeglichen sozialen Protest in Zukunft mit Gewalt verhindern kann", sagt sie gegenüber amerika21.

Die ursprünglich von der Opposition eingebrachte Gesetzesinitiative stieß zuerst auf Ablehnung von Seiten der Regierung, die für kurze Zeit erwog, von einem Präsidialveto Gebrauch zu machen. Allerdings führte die allgemeine politische Lage dazu, dass die Innenministerin Carolina Tohá davon absah. Sie bat stattdessen den Senat und das Parlament darum, verschiedene Passagen des Gesetzes zu ändern.

So wurden besonders umstrittene Artikel gestrichen, die Führungskräfte von jeglicher Haftung bei Fehlverhalten ihrer Untergebenen befreien und den Einsatz von Schusswaffen auch gegenüber unbewaffneten Personen erlaubt hätten. In letzter Minute konnte auch der Artikel entfernt werden, der es den Polizist:innen ermöglicht hätte, ihre Gefährdung selbst einzuschätzen und somit deutlich früher von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Diese freizügige Interpretation der Selbstverteidigung, im Gesetzestext "priviligierte Selbstverteidigung" genannt, hätte es ermöglicht, Schusswaffen bei Demonstrationen einzusetzen, aus denen Steine oder Molotowcocktails auf Polizist:innen geworfen würden.

Die Vereinten Nationen und bedeutende Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International kritisierten diese Auslegung von Selbstverteidigung als Aushöhlung des Rechtsstaates.

In seiner verabschiedeten Form sieht das Gesetz vor allem erschwerte Haftbedingungen für Personen vor, die Gewalt gegenüber Polizist:innen begangen haben, und gibt den Sicherheitskräften etwas mehr Freiraum zur "Selbstverteidigung", sofern sie ihre Leben oder das anderer in Gefahr sehen. Der Unterschied zur "priviligierten Selbstverteidigung" ist, dass nun bei einer juristischen Untersuchung nicht mehr allein das Wort der oder des beteiligten Polizist:in reicht, um die Gefährdung zu bestätigen.

Die Senatorin Fabiola Campillai, die selbst Opfer von Polizeigewalt wurde, sagte dazu, "als Carabineros mehr Handlungsspielraum bekommen haben, wurden Menschenrechte verletzt", und spielte damit auf die gewaltsame Unterdrückung der Proteste von 2019 an. "Unter diesem Gesetze hätte ich keine Gerechtigkeit erfahren“, so Campillai. Im November 2019, im Kontext der sozialen Revolte, schoss ein Polizist eine Tränengasgranate ins Gesicht von Campillai, die damals auf dem Weg zur Arbeit war. Im September 2022 verurteilte ein Gericht den Schützen Patricio Maturana zu zwölf Jahren Haft. Campillai ist aufgrund des Schusses blind und ohne Geruch- und Geschmackssinn.

Seit Monaten bestimmt das Thema über die öffentliche Sicherheit die Stimmung in der Gesellschaft und die Medien (amerika21 berichtete). Allein im vergangenen Monat wurden drei Polizist:innen bei der Ausübung ihres Dienstes erschossen. Die Führungsebene der Polizei pocht auf mehr Mittel und mehr Spielraum im Einsatz von Zwangsmitteln. Opposition und Teile der Regierung fordern die Ausrufung des Ausnahmezustandes in der Hauptstadt Santiago und den Einsatz des Militärs.

Der ehemalige Polizist und kritische Sicherheitsexperte Daniel Soto sieht das Problem woanders. In einem Interview mit der Tageszeitung La Segunda sagte er: "Carabineros haben eine Führungskrise innerhalb der Institution". Dies führe zu schlechter Ausbildung, viel zu gefährlichen Einsätzen einzelner Polizist:innen und einem Führungsstil, der nicht mehr aktuell sei. Mit den derzeit eingebrachten Gesetzen würde das Grundproblem der öffentlichen Sicherheit nicht gelöst und der Polizeigewalt mehr Spielraum gegeben.

Die Regierung von Präsident Gabriel Boric wird derweil von der rechten Opposition und der Führungsebene der Polizei vor sich hergetrieben. Nach dem letzten Polizistenmord vom 5. April kündigte sie weitere 1,5 Milliarden Dollar für die Bekämpfung von Kriminalität an und einen verstärkten Polizeieinsatz in den am meisten betroffenen Gemeinden. Die ursprünglich zu Beginn der Amtszeit angekündigte Polizeireform ist endgültig vom Tisch.