Suche nach Verschwundenen unter der Diktatur wird in Chile Staatsangelegenheit

"Nationaler Plan für die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit" vorgelegt. Rechte Opposition boykottiert offizielles Gedenken zum 11. September

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Angehörige von Verschwundenen bei dem offiziellen Akt am 30. August
Angehörige von Verschwundenen bei dem offiziellen Akt am 30. August

Santiago. Chiles Präsident Gabriel Boric hat in einem feierlichen Akt die Suche nach den während der Militärdiktatur (1973 ‒ 1990) verschwundenen Anhängern von Salvador Allende und Systemgegnern zur Staatsangelegenheit erklärt.

Boric und der Minister für Justiz und Menschenrechte, Luis Cordero, unterzeichneten auf der Plaza de la Constitución in Anwesenheit von Vertretern der drei Staatsgewalten, der Zivilgesellschaft und von Angehörigen der Opfer des Verschwindenlassens das entsprechende Dekret.

Die rechten Oppositionsparteien boykottierten die Veranstaltung.

Seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 wurde versucht, die während der Militärdiktatur begangenen Verbrechen aufzuklären und den Opfern eine Wiedergutmachung zukommen zu lassen. Beides blieb auf halbem Weg stecken. Zwar wurde eine bedeutende Anzahl Geheimdienstagenten und ihre Befehlshaber rechtskräftig verurteilt, sie beziehen jedoch bis heute hohe Renten und haben ihre militärischen Ränge behalten. Im Jahr 2017 wurde bekannt, dass 95 ehemalige Generäle und Offiziere, die unter anderem wegen Mordes, Folter und dem Verschwindenlassen von Personen verurteilt wurden, monatliche Rentenzahlungen von bis zu 4.700 US-Dollar beziehen. Sie sitzen ihre Strafe zudem im Sondergefängnis Punta Peuco ab, wo sie privilegierte Haftbedingungen und eine Vorzugsbehandlung genießen.

Die überlebenden Opfer der Diktatur wurden mit Stipendien, kostenloser Gesundheitsversorgung und einer Rente auf Lebenszeit von heute etwas mehr als 224 US-Dollar entschädigt.

Bis heute ist aber das Schicksal von 1.162 Menschen unaufgeklärt, die entführt und ermordet wurden, ohne dass man weiß, was wirklich geschah. Es ist nur belegt, dass sie von Geheimdiensten, bei Militärrazzien und willkürlichen Polizeiaktionen verhaftet wurden, manchmal gibt es noch Hinweise auf ihren Internierungsort, danach verliert sich jede Spur.

Die Aufarbeitung dieser Fälle soll nun Staatsangelegenheit werden, um den Angehörigen Antworten zu geben und, wo möglich, juristische Gerechtigkeit zu üben.

Der vorgelegte "Nationale Plan für die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit" sieht zunächst die amtliche Erfassung der Vermissten als "abwesend durch erzwungenes Verschwinden" vor, damit alle staatlichen Behörden bei eventuellen Erkenntnissen oder Zweifeln eigene Informationen mit den gemeldeten Personen abgleichen können.

Die als Opfer anerkannten Menschen waren mit der Geheimhaltung ihrer Aussagen in den von der katholischen Kirche geleiteten Kommissionen Rettig y Valech für Anerkennung und Wiedergutmachung einverstanden. Damit sollte die Veröffentlichung persönlicher, traumatischer Erlebnisse verhindert werden. Durch eine Sperrfrist von 50 Jahren wurden aber auch beschuldigende Aussagen in die Archive verbannt. Man geht davon aus, dass die Akten Hinweise auf Täter und Umstände von Verbrechen enthalten, die jetzt mit ausdrücklichem Einverständnis der Betroffenen für Ermittlungen zugänglich gemacht werden können.

Die Regierung Boric schlägt in dem Plan auch eine staatliche "Politik der Erinnerung und Mahnung" vor, um die Finanzierung von Denkmälern, Erinnerungstafeln und Erinnerungsorten zu verbessern und abzusichern.

Zudem sollen jetzt alle bisher geheimen Gesetze, Anordnungen und Erlasse aus Zeiten der Diktatur öffentlich zugänglich gemacht werden. Man verspricht sich dadurch Aufschluss über bisher unbekannte Funktionsmechanismen der Diktatur.

Die Vertreter der rechten Opposition waren eingeladen, blieben aber demonstrativ der Veranstaltung fern, angeblich hatten sie keine Einladung erhalten. Lediglich der Vertreter der ebenfalls rechten Renovacion Nacional bestätigte den Erhalt, sagte aber aus Termingründen ab.

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Boric und Cordero unterzeichneten das Dekret auf der Plaza de la Constitución
Boric und Cordero unterzeichneten das Dekret auf der Plaza de la Constitución

Der rechte Senator Ivan Moreira brachte seine Ablehnung mit der Bemerkung, "Wenn sie 50 Jahre nicht aufgetaucht sind, werden sie jetzt auch nicht auftauchen", zum Ausdruck.

Aus der Regierungskoalition und von Menschenrechtsgruppen gab es breite Zustimmung zu dem Vorhaben. Die Rektorin der Universidad de Chile, Rosa Devés, sagte volle akademische Unterstützung der Hochschule bei den bevorstehenden Forschungen zu.

Inzwischen gehen die politischen Auseinandersetzungen zum Gedenken 50. Jahrestages des Putsches am 11. September weiter. Die rechte Opposition wird den offiziellen Gedenkveranstaltungen, zu denen Staatsoberhäupter und wichtige Persönlichkeiten aus aller Welt erwartet werden, demonstrativ fernbleiben.

Da sie die von der Regierung vorgeschlagene gemeinsame Erklärung "Verpflichtung von Santiago“ aller politischen Parteien und Staatsgäste nicht unterstützen wollen, veröffentlichten sie einen offenen Brief, in dem sie Menschenrechtsverletzungen und Gewalt in der politischen Auseinandersetzung allgemein ablehnen, ohne jedoch auf den Militärputsch einzugehen.

Am Donnerstag haben indes alle noch lebenden ehemaligen Staatsoberhäupter Chiles seit dem Ende der Diktatur ‒ Eduardo Frei (1994‒2000), Ricardo Lagos (2000‒2006), Michelle Bachelet (2006‒2010 und 2014‒2018), Sebastián Piñera (2010‒2014 und 2018‒2022) ‒ sowie der amtierende Boric die Erklärung "Verpflichtung: Immer für die Demokratie" unterzeichnet, um so Geschlossenheit trotz unterschiedlicher politischer Vorstellungen zu zeigen.

Kommunistische Parlamentsabgeordnete haben derweil der US-Botschaft in Santiago einen Brief an US-Präsident Joe Biden übergeben, in dem sie die USA auffordern, Schadensersatz für ihre Beteiligung am Militärputsch zu leisten.