Brasilien / Politik

Brasilien: Eine entscheidende Wahl

Emir Sader (Brasilien) und Juan Manuel Karg (Argentinien) zu den heute stattfindenden Präsidentschaftswahlen in Brasilien

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Offizielles Logo der Wahlen 2018 in Brasilien
Offizielles Logo der Wahlen 2018 in Brasilien

Von der Stärke Lulas zur Stärke von Haddad

Emir Sader

Seitdem Lula da Silva und die Arbeiterpartei (PT) festgelegt haben, Fernando Haddad zum Präsidentschaftskandidaten für Brasilien zu machen, um nicht neuen Sanktionen seitens des Obersten Wahlgerichtshofes zu unterliegen, richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf den Prozess der Übertragung aller Wählerstimmen von Lula auf Haddad. Während niemand daran zweifelte dass Lula, wenn er die Möglichkeit zu kandidieren hätte, bereits in der ersten Wahlrunde siegen würde, stellt sich die Frage des Wie und Wann der Verlagerung der riesigen Stimmenzahl von Lula zu Haddad.

Die gesamte Kampagne der Arbeiterpartei (PT) konzentriert sich auf die Formel Lula ist Haddad, Haddad ist Lula. Es ist ein Kampf gegen die Zeit, aber auch gegen die Schwierigkeiten der Information. Die Umfragen gaben Haddad zunächst ein niedriges Unterstützungsniveau, die neueren Erhebungen verwiesen bereits auf ihn als den Kandidaten Lulas nach dessen Rückzug. So lag Haddad in einer Umfrage erstmals mit 22 Prozent Unterstützung in Führung, Bolsonaro mit 15 Prozent auf dem zweiten Platz. Die Tendenz geht in Richtung einer anhaltenden Steigerung für Haddad bis zum Tag des ersten Wahlgangs am 7. Oktober.

Andere Symptome bestätigen diese Favoritenposition. Der sogenannte Markt beginnt die Möglichkeit einer Rückkehr der PT an die Regierung in Betracht zu ziehen.

Obwohl die brasilianische Unternehmerschaft diese Möglichkeit noch sehr zurückhaltend sieht, bei einem stetigen Rückgang der Kurse der Aktienmärkte und dem Anstieg des US-Dollar auf ein höherem Niveau als 2002 (dem Zeitpunkt des ersten Wahlsiegs von Lula), zeigen sich die internationalen Finanzorgane angesichts einer möglichen Regierung Fernando Haddads aufgeschlossener.

Andererseits beginnen sich die großen konservativen Zeitungen zu fragen, welche Positionen Haddad, wenn er denn gewählt würde, hinsichtlich der für sie sensiblen Themen wie dem neoliberalen Wirtschaftsmodell selbst, den Privatisierungen, einer Steuerreform u.a. einnehmen würde.

Ein weiteres neues Element ist die Erklärung von Ciro Gomes 1, der seit Beginn der Wahlkampagne mit der PT im Wettstreit ist, dass er, sollte Haddad die zweite Runde erreichen, für ihn stimmen wird.

Die PT ihrerseits konzentriert die Kundgebungen von Haddad auf den brasilianischen Nordosten und auf den Südosten. Die erstgenannte Region bringt die größte Unterstützung für die Kandidaten der PT auf, wie auch die meisten Gouverneure, die Haddad unterstützen. Der Südosten dagegen ist eine Region mit einer großen Anzahl von Wählern, bei denen die PT bislang die schlechtesten Ergebnisse erzielte.

Unterdessen sieht sich die Rechte in eine Situation verstrickt, die einem politischen Selbstmord gleichkommt. Sie hat es nicht vermocht, einen Kandidaten aufzustellen, der das verbreitete Gefühl der Ablehnung der Politik und der Politiker für sich nutzt und hat sich an die Kandidaten der alten Politik halten müssen. Unter diesen gelingt es dem Vertreter der PSDB, dem Ex-Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin ‒ der Kandidat, den Lula im Jahre 2010 besiegt hat ‒nicht recht, in die Gänge zu kommen und er stagniert bei den Umfragen auf einem Niveau von 5 Prozent der Präferenzen.

Der Kandidat der extremen Rechten, Jair Bolsonaro, ist derjenige, der den zweiten Platz in den Umfragen einnimmt. Er hat jedoch das Problem, dass seine extremistischen Positionen seinem Zuwachs eine Grenze setzen und zugleich hat er das seltsame Attentat auf der Habenseite, das ihn aus der Kampagne gerissen hat. Man weiß tatsächlich nicht, wann er seine Wahlkampfaktivitäten, wenn überhaupt, wieder aufnehmen kann. Ein möglicher zweiter Wahlgang zwischen Haddad und Bolsonaro wird Fernando Henrique Cardoso und seine Partei PSDB wie auch andere Kandidaten, die vorgeben, sich den Positionen Bolsonaros nicht anzupassen, vor schwierige Entscheidungen stellen.

So zeigt sich das Szenario für einen Sieg von Fernando Haddad bei den Wahlen, der die PT in Brasilien wieder an die Regierung bringen würde, als sehr günstig. Sollte sich diese Möglichkeit bestätigen, wird sich die neue Regierung einem schweren Erbe stellen müssen, das von wirtschaftlicher Rezession und Arbeitslosigkeit und der Demontage des Staates, sowohl hinsichtlich der Privatisierungen wie auch bei den Ressourcen für die öffentliche Politik gekennzeichnet ist. Die von der Regierung Temer angehäufte Verschuldung ist gigantisch, die Zahl der Arbeitslosen liegt bei rund 27 Millionen Menschen, die Haushaltsmittel für sozialpolitische Programme sind für 20 Jahre eingefroren.

Daher die Aussage Lulas, dass ein sofortiges Widerrufsreferendum für die neue Regierung allererste Priorität haben sollte, um die Bevölkerung zu dem von der Regierung Temer aufgezwungenen Maßnahmepaket zu befragen. Abhängig von ihrer künftigen parlamentarischen Stärke erwägt die PT auch die Möglichkeit der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung, die neben anderer Maßnahmen auch die Demokratisierung der Medien und der Justiz sowie eine grundlegende Steuerreform zur Aufgabe haben sollte.

Quelle: http://www.cubadebate.cu/opinion/2018/09/19/de-la-fuerza-de-lula-a-la-fuerza-de-haddad/#.W6jX3hSYSb8


Eine entscheidende Wahl

Juan Manuel Karg

Häufig verwenden wir Sozialwissenschaftler, die wir mit dem journalistischen Umfeld kokettieren, bombastische Begriffe, um eine aufkommende Situation einzuordnen. Entscheidend, transzendental, eine Wende einleitend: diese ganze wertende Aufladung, die zuweilen von Minute zu Minute mehr übertrieben wird, könnte konkreten Sinn für die nächsten Präsidentschaftswahlen in Brasilien haben. Genau jetzt werden wir uns nicht in der Diagnose irren: was auch immer geschehen mag, dieses Land wird sich noch mehr verändern, als es sich schon verändert hat, zumindest seit Beginn der Mobilisierungen auf den Straßen, die ungeachtet einer tatsächlichen Verantwortlichkeit zur Amtsenthebung von Dilma Rousseff und ihrer Entfernung aus dem Palacio Planalto geführt haben ‒ und dies mit einem im Laufe der Zeit immer offensichtlicheren institutionellen Staatsstreich.

Erstens: Jair Bolsonaro, der mit einem immer weiter nach rechts driftenden Diskurs die Umfragen von Datafolha, Ibope und CNT/MDA anführt, ist das sichtbare Ergebnis des wachsenden Verfallsprozesses der Politik, den der kontinentale Riese durchlebt hat. Bolsonaro ist das Erbe des zügellosen Lava Jato2, eines irregulären und weit vom Rechtsstaat und den Institutionen, die er hervorbringen sollte, entfernten Verfahrens. Er repräsentiert jedoch für einen Teil der Bevölkerung, der bereits nicht mehr an die Fortschrittsverspechen glaubt, zugleich die Vorstellung von Ordnung, die auch in der Nationalflagge des Landes präsent ist3. Eine Ordnung der Rechten, aber immerhin eine Ordnung für einen Teil der Wählerschaft. (...)

Zweitens scheint sich der Zweitplazierte Fernando Haddad den letzten Umfragen zufolge als Alternative zum Aufstieg Bolsonaros zu konsolidieren. Tatsächlich steigt seine Kurve ähnlich der des Ultrarechten, während das "historische Versprechen" Marina Silva, die seinerzeit von dem Ecuadorianer Jaime Durán Barba 4 beraten wurde, bröckelt. Haddad ist der "Delegierte" von Lula und gewinnt an Unterstützung, weil er genau den Fortschritt verspricht, den der Gefangene in Curitiba während seiner beiden Präsidentschaften bereits als möglich gezeigt hatte; den Fortschritt, den Millionen von Brasilianerinnen und Brasilianern ersehnen ‒ Nostalgiker gegenüber einer Vergangenheit, die für immer gegenwärtig schien.

Die Herausforderung für die Arbeiterpartei besteht darin, Haddad vom akademischen Podest herunter zu holen – er ist Doktor der Philosophie und Verfasser zahlreicher Bücher – um ihn auf die Straßen des brasilianischen Nordostens zu bringen, dorthin, wo der Ruf nach einer weiter PT-Regierung ertönt, und ins Fernsehen. Seine Außendarstellung von den schriftlichen Darstellungen bis zu seinen Werbespots zu verändern, daran arbeitet ein Kommunikationsteam Tag und Nacht.

In den stets trügerischen Umfragen folgen ihm Ciro Gomes, dem Haddad intelligenterweise bereits einen Platz in seiner hypothetischen Regierung angeboten hat; Marina selbst; und der Kandidat der traditionellen Rechten, Geraldo Alckmin, dessen Werte in dem Maße fallen wie Bolsonaro aufsteigt. Offensichtlich handelt es sich um eine irreguläre Wahl – ein Kandidat ist im Gefängnis und wurde später ausgeschlossen, der andere wurde niedergestochen – und es zeigen sich einige zu verfolgende Varianten.

Die weibliche Wählerschaft (52 Prozent des Gesamtwählerverzeichnisses) könnte zur Sperrmauer gegen den Frauenhass des ultrarechten Kandidaten werden: eine Facebook-Gruppe mit der Bezeichnung "Frauen gegen Bolsonaro" hat in kurzer Zeit zwei Millionen Zugriffe erzielt und damit eine Perspektive aufgezeigt, die direkte Auswirkungen an den Wahlurnen haben könnte.

Dies wäre innerhalb des allgemeinen – institutionellen, politischen, wirtschaftlichen – Zusammenbruchs den Brasilien durchlebt, eine gute Nachricht. Wie es aussieht und ohne die geringste Übertreibung handelt es sich um eine entscheidende Wahl.

Quelle: https://www.pagina12.com.ar/143614-una-eleccion-decisiva

  • 1. Cirro Gomes ist Präsidentschaftskandidat der Mitte-links Partei Partido Democrático Trabalhista
  • 2. Korruptionsfall um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras. Seit dem Jahr 2014 wird im Rahmen der Operation "Lava Jato" (Autowäsche) gegen Manager des Konzerns und Politiker ermittelt
  • 3. Auf dem weißen Spruchband von Brasiliens Fahne heißt es: ordem e progresso (Ordnung und Fortschritt)
  • 4. Jaime Durán Barba ist ein Politik- und Imageberater aus Ecuador. Er arbeitete unter anderem ab 2011 für Mauricio Macri, seit Dezember 2015 Präsident von Argentinien