Der Skandal um den Mord an der populären linken Politikerin Marielle Franco aus Rio de Janeiro wirft ein Schlaglicht auf eine vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte Geschäftsanbahnungsreise in der nächsten Woche.
Die Reise soll interessierten deutschen Unternehmern Geschäfte auf dem Feld der "zivilen Sicherheitstechnologie" in Rio eröffnen. Unterlagen des Ministeriums stellen wachsende Ausgaben für die innere Repression in Rio in Aussicht, unter anderem für die Polizei. Diese ist, wie die Aufklärung des Mordes an Marielle Franco einmal mehr belegt, in schwerste Verbrechen involviert; Spuren weisen ins direkte familiäre Umfeld des Präsidenten, dessen Sohn Flávio Bolsonaro - als Senator für Rio in Brasília tätig - gute Beziehungen zu einem der Mordverdächtigen unterhielt. Der neue Gouverneur von Rio, Wilson Witzel, rechtfertigt Polizeimassaker; im ersten Monat seiner Amtszeit wurden fast doppelt so viele Menschen von der Polizei umgebracht wie im Vormonat. Witzel arbeitet eng mit der deutschen Industrie zusammen.
"Innovationspotenziale"
Die Geschäftsanbahnungsreise nach Rio de Janeiro und São Paulo, die die Deutsch-Brasilianische Auslandshandelskammer (AHK) Rio de Janeiro in der kommenden Woche im Rahmen eines Programms des Bundeswirtschaftsministeriums durchführt, zielt ausdrücklich darauf ab, die gesteigerten Aktivitäten der neuen Machthaber in Brasilien beim Ausbau der Repressionsapparate zu nutzen, um lukrative Aufträge für deutsche Firmen einzuwerben.
Unterlagen, die das Bundeswirtschaftsministerium für die Reisevorbereitung zur Verfügung stellt, weisen nicht nur auf neue Geschäftschancen im Bereich der Cybersicherheit, beim Brandschutz und bei der eingeleiteten weiteren Öffnung des privaten "Sicherheitsmarkts" für ausländische Unternehmen hin, sondern auch darauf, dass der Bundesstaat Rio de Janeiro die Investitionen die "öffentliche Sicherheit" um 15 Prozent auf 2,1 Milliarden Reais (fast 500 Millionen Euro) erhöhen will, um "die Modernisierung voranzutreiben und den Geheimdienst der Polizei neu auszustatten".1
Die Geschäftsanbahnungsreise wird nächsten Montag nach Einweisung der Interessenten durch Vertreter der deutschen Botschaft und des Generalkonsulats mit einem Rundgang durch das Centro Integrado de Comando e Controle (CICC) in Rio beginnen, eine Zentrale, in der die Polizeibehörden eng mit anderen Stellen kooperieren. Bei dem Rundgang sollen die "angewandten Technologien und Verfahren" vorgestellt werden; ein "Austausch zu zukünftigen Innovationspotentialen" ist geplant.2
Polizeimorde
Die Reise erfolgt zu einer Zeit, zu der heftige Skandale die Polizei und die politische Szene Rios erschüttern. Stadt und Bundesstaat Rio de Janeiro sind ohnehin von einer beispiellosen Polizeigewalt geprägt: Im Jahr 2017 kamen dort 1.127 Menschen durch Polizeischüsse zu Tode - mehr als ein Fünftel der Opferzahl in ganz Brasilien (5.012).3 Lediglich der kleine, von Gesetzlosigkeit geplagte Bundesstaat Amapá im Amazonasgebiet verzeichnete eine höhere Opferrate pro 100.000 Einwohner.
Menschenrechtsorganisationen klagen bereits seit vielen Jahren, Polizeieinheiten in Rio ermordeten vor allem afrobrasilianische Jugendliche aus den Armutsvierteln der Metropole.4 Hinzu kommen häufig enge Verflechtungen zwischen den Repressionskräften und dem organisierten Verbrechen.
Dennoch werden die brasilianischen Repressionsbehörden mit deutschen Schusswaffen ausgestattet, etwa dem Sturmgewehr G36 oder der Maschinenpistole MP5 von Heckler & Koch. Die Lieferung von Schusswaffen nach Brasilien wird praktisch jährlich von der Bundesregierung genehmigt; allein 2016 segnete Berlin den Verkauf von 606 Gewehren sowie 674 Maschinenpistolen für mehr als 1,5 Millionen Euro in das Land ab. Dabei ist nicht nur unklar, bei wie vielen Polizeimorden deutsche Waffen zur Anwendung kommen. Fachkreise weisen zudem darauf hin, Waffen von Heckler & Koch seien "nicht selten in den Händen von Kriminellen zu finden".5
Aufklärung behindert
Ein Schlaglicht auf die Verhältnisse, in die das Bundeswirtschaftsministerium mit seiner Geschäftsanbahnungsreise vorstößt, wirft aktuell der Skandal um den Mord an der populären linken Stadträtin von Rio de Janeiro, Marielle Franco, am 14. März vergangenen Jahres. Franco war auf dem Rückweg von einer Veranstaltung in ihrem Auto erschossen worden; den Mördern fiel auch ihr Fahrer Anderson Gomes zum Opfer. Das Motiv war laut Überzeugung von Experten, Francos politische Basisarbeit im Westen von Rio zu stoppen; dort war sie mutmaßlich auf die systematische Veräußerung geraubter Ländereien durch kriminelle Banden gestoßen, die mit der Fälschung von Grundbucheintragungen und dem Verkauf der betreffenden Grundstücke ein Vermögen machen.6
Die Aufklärung des Mordes wurde von Anfang an von skandalösen Ereignissen behindert. So verschwand ein Überwachungsvideo, das zur Aufklärung hätte beitragen können, unter ungeklärten Umständen aus dem Besitz der Mordkommission7, während Verdächtige und Dutzende ihrer Kumpane immer wieder einer Verhaftung entkommen konnten - weil sie vorab von Polizisten gewarnt wurden8.
Der Sohn des Präsidenten
Hinzu kommt, dass eine zunehmende Zahl an Spuren zum Familienclan des brasilianischen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro führt, der bis zu seinem Amtsantritt am 1. Januar 2019 als Abgeordneter für Rio im Parlament in Brasília saß.
Der älteste Sohn des Präsidenten, Flávio Bolsonaro, der von Anfang 2003 bis Anfang 2019 als Abgeordneter im Parlament des Bundesstaates Rio de Janeiro tätig war und seit Anfang Februar den Bundesstaat als Senator in Brasília vertritt, ist nicht nur in dubiose Immobiliengeschäfte verwickelt. Er hatte auch Kontakt zu einem der Hauptverdächtigen im Mordfall Marielle Franco, dem einstigen Angehörigen einer Eliteeinheit der Militärpolizei Adriano da Nóbrega. Im Oktober 2003 tat sich Flávio Bolsonaro als Parlamentsabgeordneter in Rio mit besonderem Lob für Nóbrega hervor, im Juli 2005 verlieh er ihm die Tiradentes-Medaille, die höchste Auszeichnung des Parlaments.9 Später beschäftigte er Nóbregas Freund Fabrício Queiroz sowie die Mutter und die Ehefrau des 2014 entlassenen Ex-Militärpolizisten als Mitarbeiter. Queiroz und Nóbregas Mutter sollen Banküberweisungen für Flávios Bolsonaros Immobiliengeschäfte ausgeführt haben.
Nachbarschaften
Zwei Festnahmen, die am 12. März im Zusammenhang mit dem Mord getätigt wurden, sind geeignet, nicht nur den Sohn des Präsidenten, sondern Jair Bolsonaro selbst in Bedrängnis zu bringen. Der ehemalige Militärpolizist Élcio Vieira de Queiroz wird verdächtigt, das Tatauto gefahren zu haben; der Militärpolizist im Ruhestand Ronnie Lessa soll geschossen haben, nach Angaben der Ermittler mit einer MP5 von Heckler & Koch. Im Internet kursieren Fotos, die Queiroz - er wurde 2015 wegen krimineller Aktivitäten entlassen - und Jair Bolsonaro in freudiger Umarmung zeigen. Lessa wiederum wohnt in einem Hochhauskomplex ("Vivendas da Barra") in Rios strandnahem Nobelviertel Barra da Tijuca, in dem auch der Präsident ein Apartment hat. Jairs vierter Sohn Renan Bolsonaro unterhielt zeitweise eine Liebesbeziehung zu Lessas Tochter. Lessa, der für seinen Hass auf Linke bekannt ist, erhielt laut Berichten einige Monate nach dem Mord 100.000 Reais (knapp 23.000 Euro), die in bar auf sein Konto eingezahlt wurden.10 Der Leiter der Mordkommission hatte seine Festnahme zwei Tage vorgezogen, um das Durchsickern von Hinweisen sowie ein Abtauchen der Verdächtigen zu verhindern. Am Tag nach der Festnahme wurde er beurlaubt und vom neuen Gouverneur von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, zu einem Austauschprogramm nach Italien entsandt.11
"Wichtig für die Industrie"
Witzel, der als ultrarechter Hardliner gilt und im Wahlkampf Bolsonaro unterstützte, hat vor allem mit Äußerungen zur Polizeigewalt in Rio von sich reden gemacht. So hat er ein Massaker der Polizei, bei dem 13 Jugendliche und junge Männer nach Art einer Hinrichtung ermordet wurden, für "legitim" erklärt.12 Zudem hat er wiederholt bekräftigt, die Polizei solle keine Bedenken haben, in Rios Armenvierteln von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Tatsächlich haben Polizisten im Januar, dem ersten Monat von Witzels Amtszeit als Gouverneur, 160 Menschen getötet - 82 Prozent mehr als im Monat zuvor.13
Ob Witzel persönlich für Gespräche mit der deutschen Unternehmerdelegation zur Verfügung steht, die am kommenden Montag in Rio eintreffen wird, ist unklar. Tatsache ist, dass er am 15. März an der Jahreshauptversammlung der AHK Rio de Janeiro teilnahm, dass er offenbar gute Beziehungen zu Roberto Cortes unterhält, dem Leiter von Volkswagen Caminhões e Ônibus14, und dass er sich am 6. und 7. März zu ausführlichen Gesprächen mit Unternehmern in Berlin aufhielt, um deutsche Investitionen in Rio anzuwerben. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) gab sich zufrieden: Rio de Janeiro sei, erklärte der zuständige Vertreter der Organisation, "sehr wichtig" für die deutsche Industrie.15
- 1. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Mittelstand Global: Factsheet Brasilien. Stand 11.12.2018.
- 2. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Mittelstand Global: Zivile Sicherheitstechnologien und -dienstleistungen in Brasilien. Markterschließungsprogramm für deutsche Unternehmen 01.-05. April 2019.
- 3. 5.000 Tote bei Einsätzen der Polizei. taz.de 11.05.2018.
- 4. Candelária massacre. amnesty.org 21.07.2018.
- 5. Arma que matou Marielle tem rastro obscuro até a Alemanha, ativistas exigem fim de vendas ao Brasil. defesanet.com.br 16.05.2018.
- 6. Marcelo Godoy: Milicianos mataram Marielle por causa de terras, diz general. brasil.estadao.com.br 14.12.2018.
- 7. Mario Schenk: Erste Festnahmen im Mordfall Marielle Franco in Brasilien. amerika21.de 22.12.2018.
- 8. Mario Schenk: Brasilien: Polizisten von Rio de Janeiro schützen Mörder von Marielle Franco. amerika21.de 03.03.2019.
- 9. Bruno Abbud, Igor Mello, Vera Araújo: Cronologia: Flávio Bolsonaro empregou parentes e homenageou ex-PM foragido. oglobo.globo.com 23.01.2019.
- 10. Eva von Steinburg: Der Bolsonaro-Clan und die Miliz von Rio: Verdächtige Nähe. amerika21.de 18.03.2019.
- 11. Giniton Lages foi surpreendido ao ser afastado do caso Marielle. extra.globo.com 13.03.2019.
- 12. Clara Barata: Governador defende massacre da polícia em favela do Rio de Janeiro. publico.pt 14.02.2019.
- 13. Roberta Jansen: Polícia do Rio matou 160 pessoas em janeiro, segundo maior patamar para o mês desde 1998. brasil.estadao.com.br 22.02.2019.
- 14. Der Fall Volkswagen, Wilson Witzel - und Marielle Franco. kooperation-brasilien.org 08.03.2019.
- 15. Wilson Witzel (PSC/RJ) apresenta oportunidades do Estado para empresários alemães. psc.org.br 07.03.2019.