Krise in Venezuela: Die Sicht der Kommunen

Die Kommunen, die wenig mit der Regierung zu tun haben und nicht von der PSUV kontrolliert werden, sind heute am aktivsten

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Zur Kommune Altos de Lídice in der Gemeinde La Pastora in Caracas gehören sieben Consejos Comunales
Zur Kommune Altos de Lídice in der Gemeinde La Pastora in Caracas gehören sieben Consejos Comunales

Am 30. April hatte Oppositionsführer Juan Guaídó zu Straßendemonstration für die Unterstützung seines militärischen Putschversuchs gegen Präsident Nicolás Maduro aufgerufen. Es vergingen nur wenige Stunden, bis seine Anhänger das Hauptquartier der Kommune Indio Carucao im Südwesten von Caracas in Brand gesetzt hatten. Das Gebäude diente für Versammlungen der Anwohner und beherbergte ein von der Kommune betriebenes Textilunternehmen, das Projekte in der Gemeinschaft finanziert.

Atenea Jiménz von Nationalen Netzwerk der Kommunardinnen und Kommunarden (Red Nacional de Comuneras y Comuneros) kommentierte: "Wieder einmal beginnen faschistische Angriffe auf die Kommunen." Sie verwies allerdings auch darauf, dass Kommunardinnen und Kommunarden auch "von Regierungssektoren verfolgt werden", und bezog sich dabei auf die zehn am 11. Februar Inhaftierten, die eine staatliche Reisverarbeitungs-Fabrik im Gliedstaat Portuguesa besetzt hatten1. Der Protest erfolgte wegen der Weigerung des privaten Fabrikmanagements, mit lokalen Produzenten zusammenzuarbeiten. "Und warum passiert das?", fragte sie und antwortete: "Weil die Kommune der einzige Ort ist, der die Macht in Frage stellt. Sie ist einer der wenigen echten Plätze von unten für den Aufbau von Demokratie."

Macht von unten

Die Kommunen versuchen, die Nachbarschaftsräte (Consejos Comunales) zusammenzubringen, die in den Städten zwischen 200-400 und auf dem Land zwischen 20-50 Familien umfassen. Das Ziel ist, auf Nachbarschaftsebene Fragen der Wohnung, der Erziehung, der Gesundheit und des Zugangs zu Grunddienstleistungen zu lösen. Die Entscheidungen über Prioritäten und wie diese anzugehen sind, werden in Vollversammlungen der Anwohner getroffen.

Die Idee von Kommunen ist, dass lokale Nachbarschaften gemeinsam größere Projekte angehen und dank gemeinschaftlich betriebener, eigener Unternehmen selbstständig werden. Für Hugo Chávez stellten die Kommunen das Fundament eines kommunalen, auf partizipativer Demokratie beruhenden Staates dar.

Dem Kommunenministerium zufolge sind derzeit 47.000 Nachbarschaftsräte und fast 3.000 Kommunen registriert. Aber viele der Aktivisten, mit denen ich während meines März-Besuches sprach, gehen von niederigeren Zahlen aus. Jiménez erklärte: "Die Bewegung umfasst Kommunen, die sich über die letzten zehn Jahre konsolidiert haben." In dieser Zeit "hat es neue Kommunen und spannende Fortschritte gegeben, aber natürlich haben sich auch einige aufgelöst. Die Kommunen bleiben jedoch aktiv und haben ein bemerkenswertes Niveau der politischen und ideologischen Konsolidierung erreicht – und die Bereitschaft, weiterzumachen."

Selbstverwaltung

Gsus García von der Sozialistischen Kommune Altos de Lídice, die sieben Consejos Comunales hoch oben in der La Pastora-Gegend von Caracas vereint, erklärte, dass die Kommunen entstanden, weil "die Nachbarschaftsräte erkannten, dass sie die gleichen Probleme haben, die sie getrennt nicht lösen können." Er fügte an, dass es bei der Kommune "nicht einfach um gemeinsame Problemlösungen geht, wir streben darüber hinaus eine reale Selbstregierung an."

Während García anerkennt, dass die Kommunen aus dem Chavismus entstanden sind, hat die Kommune Altos de Lídice auch Mitglieder, die gegen Maduro sind: "Viele sind unzufrieden, es gibt viel Opposition. Und doch bringen sie sich in die Dynamik der Kommune ein; sie weisen sie nicht zurück, sondern akzeptieren sie, und nach und nach verstehen sie, dass wir zusammen mehr ausrichten. Sie sehen, dass wenn wir uns nicht zusammentun, wir alle deswegen leiden werden. Deshalb müssen wir geduldig sein und uns verstehen. Das Maß an Geduld hat mich überrascht. Ich denke, in jedem anderen Land mit Ereignissen wie die hier letztes und dieses Jahr wäre es schon zur Explosion gekommen."

Im nahe gelegenen Stadtteil 23 de Enero gibt die Kommune Panal 2021 mit acht Nachbarschaftsräten und ungefähr 3.600 Familien ein Beispiel für die Selbstregierung, die viele Kommunardinnen und Kommunarden anstreben. Cucaracho, ein Panal 2012-Aktivist, erklärte, dass die Kommune damit begann, dass Aktivisten Geld mit Tombolas und anderen Aktivitäten auftrieben. Sie hatte eine Weile Mitverwaltung mit staatlichen Mitteln für Projekte und ist jetzt selbstverwaltet.

Panal 2021 hat eigene Bäckereien, ein Verpackungsunternehmen für Textilien und Zucker sowie ein Lager und ein Verteilzentrum für Nahrungsmittel. Die Erlöse aus diesen kommunalen Unternehmen fließen in eine kommunale Bank und Mitgliederversammlungen beschließen über die damit finanzierten Gemeinschaftsprojekte.

Wie bei den meisten heute existierenden Kommunen war die Fähigkeit von Panal 2021, eigenes Einkommen zu generieren, entscheidend für ihre Weiterexistenz. Mit Beginn der Wirtschaftskrise hatte der Staat seine Geldüberweisungen an lokale Gemeinschaften weitgehend eingestellt.

Für Julian von der Revolutionären Strömung Bolívar und Zamora (Corriente Revolucionaria Bolívar y Zamora, CRBZ2) einer radikalen Widerstandsbewegung, die mit der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) verbunden ist, hat dies die Basisorganisierung beeinflusst: "Als die Regierung Projekte finanzierte, schuf sie gewisse Erwartungen und förderte die Teilnahme, da die Leute den Eindruck hatten, ihre Probleme könnten gelöst werden. Aber angesichts der starken existierenden Rentenkultur, trat das ein, was viele gesagt hatten: 'Wenn wir nichts kriegen, können wir nichts machen.' In diesen Fällen beschränken sich die Nachbarschaftsräte weitgehend auf die Verteilung von Regierungsdienstleistungen wie die Lieferung von Gasflaschen in ihrer Gemeinschaft. Der Fehler war, dass das Gewicht zu Beginn mehr auf die Beteiligung als auf die Entwicklung der Fähigkeit der Gemeinschaften zur Selbstorganisation gelegt wurde. Heute sind die Kommunen am aktivsten, die wenig mit der Regierung zu tun haben und nicht von der PSUV kontrolliert werden."

Spannungen

Die Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln in Zeiten der Krise hat für viele Kommunen Vorrang, auch in Caracas.

Panal 2021 hat sich mit Kommunen auf dem Land zusammengetan, um Essen in die Stadt zu bringen und es weit billiger als die privaten Supermärkte zu verkaufen. Atenea Jiménez sagte, viele andere Kommunen machten das Gleiche: "Das sind Systeme zum Austausch von Nahrung und Dienstleistungen zwischen Kommunen, die unterschiedlich gut funktionieren, sich aber verbessern."

Trotz – oder vielleicht wegen – ihrer Bedeutung ist die Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln ein Schlüsselelemente für Spannungen zwischen Staat und Kommunenbewegung.

Vor mehreren Jahren übergab das Nationale Netzwerk der Kommunardinnen und Kommunarden Präsident Nicolás Maduro einen Vorschlag für die Gründung eines landesweiten Kommunenunternehmens für die Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln. Die Idee war, dass alle Kommunemitglieder und Bauern ihre Produkte über ein von den Leuten selbst, nicht von privaten Zwischenhändlern kontrolliertes Unternehmen austauschen könnten, um sicherzustellen, dass billige Nahrungsmittel diejenigen erreichen, die sie benötigen. Jiménez sagte: "Unsere Vision des Unternehmens war, dass alles, was auf dem Land produziert wird, verteilt wird und nicht verloren geht, und wir erst danach importieren sollten, was wir nicht selber produzieren können – nicht umgekehrt."

Doch die Regierung begann mit den Komitees für die Versorgung und Produktion von Lebensmitteln (Comités Locales de Abastecimiento y Producción, Clap). Jiménez hält fest, dass trotz des "P im Namen für Produktion, diejenigen, die wirklich produzieren, nämlich die Bauern und Kommunarden", bei der Bildung der Komitees "nicht einbezogen" wurden. Diese werden stattdessen großteils von örtlichen PSUV-Offiziellen kontrolliert, und "alles, was die Clap verteilen, ist importiert." Das läuft für Jiménez darauf hinaus, "die existierenden Organisationen beiseite zu schieben, da sie schwerer zu kontrollieren sind, denn in einer Kommune muss ein Vorschlag in der Versammlung erörtert werden, während du bei den Clap den Leuten einfach sagen kannst, was Sache ist."

Praktisch haben laut Julián diese Komitees vielerorts die Kommunen als Zentren der Gemeinschaftsorganisierung überflügelt. "Es ist nicht so, dass die anderen Strukturen nicht existierten, aber die Clap haben die dynamischste Struktur, denn für viele steht das Essen im Mittelpunkt. In einigen Fällen haben die Clap die Kommunen geschwächt, und ich denke, das war absichtlich. Denn die Komitees sind der Partei verantwortlich, die Kommunen nicht."

"Die Partei spielte bei der Förderung der Kommunen und Consejos Comunales abgesehen von wenigen Ausnahmen nie eine Schlüsselrolle, sie konzentrierte sich mehr auf Wahlen und Regierungsarbeit. Aufgrund der den Kommunen eigenen Dynamik, die auf der Idee der Selbstregierung beruht, herrscht die Vorstellung vor, dass die Kommunarden permanent im Konflikt liegen mit der Partei, dem Bürgermeister oder dem Gouverneur."

"Kommunarden haben die Übergabe von Verantwortlichkeiten vom Gemeinderat an die Kommunen propagiert, um den Leuten den Beginn der Selbstorganisation zu ermöglichen. Dies sorgte für Spannungen zwischen der Kommunenbewegung auf der einen und der Partei und lokalen Verwaltungsfunktionären auf der anderen Seite, die keine Verantwortung zum Beispiel für Abfallentsorgung abgeben wollen, mit der sie oft ein Geschäft machen."

"Ich glaube, die Partei kam in Sachen Clap zum Schluss, dass sie sie aufbauen und kontrollieren musste. Sie konnte die Kommunen wegen ihrer demokratischen, herausfordernden, streitlustigen Art nicht kontrollieren, aber bestimmen, wer die Komitees leitet. Die existierende ausgeprägte rentistische und klientelistische Kultur brachte mit sich, dass die Leute zu den von der Regierung finanzierten und unterstützten Clap tendierten, die dann an vielen Orten zum Zentrum der Organisierung wurden."

Liebe-Hass-Beziehung

Gsus García resümiert: "Der Staat hat im jetzigen Chaos nicht die Möglichkeit, alle Probleme zu lösen, aber die Leute versuchen, wo immer eine Lösung zu finden. Und doch ist eines der größten Probleme des Staates, dass es ihm schwer fällt, Kompetenzen abzutreten, die Zügel loszulassen, damit die Leute ihre Probleme angehen können."

"Es existiert also eine Liebe-Hass-Beziehung zwischen dem Staat und den Kommunen. Aber bei allen Schwächen und Fehlern: Es ist unser Staat, unsere Regierung. Und gleichzeitig haben wir eine Beziehung, in der wir kämpfen müssen. Das können wir nicht abstreiten. Es gibt Dinge, die wir nicht erhalten, wenn wir Nahrungsmittel produzieren müssen in einer Situation, in der wir fast alle Nahrung importieren. Aber statt zu helfen, legt uns der Staat all diese bürokratischen Hindernisse in den Weg, wo doch alles, was wir zu machen versuchen, ist, den Leuten zu Essen zu verhelfen und mit dem Problem der unterernährten Kinder umzugehen."

"Aber uns ist bewusst, dass wir nur mit dieser Regierung machen können, was wir als Kommunen machen. Mit einer anderen Regierung hätten wir diese Möglichkeit nicht, erst recht nicht mit der rechtsradikalen Regierung, die Guaidó mit dem Putsch installieren will."

Was auch immer in Venezuela als Nächstes geschieht, Julián denkt, die in den letzten zwei Jahrzehnten aufgebaute starke Organisierung der Gemeinschaft wird nicht so leicht verschwinden. "Es gibt immer noch viel Stärke, ein hohes Niveau von Organisation. Wo immer du hinschaust, wirst du eine Kommune finden, eine Kooperative, irgendeine Form von Komitee oder Organisation. Würde die Regierung fallen, wäre die Organiserung immer noch da. Sie wäre für eine nächste Regierung schwierig abzuschaffen."

  • 1. Die Zehn Mitglieder einer Kommune im venezolanischen Bundesstaat Portuguesa sind nach mehr als zwei Monaten Haft Ende April wieder freigekommen. Sie waren im Lauf einer Auseinandersetzung um die Privatisierung der Reisverarbeitungsanlage Piritu des staatlichen Arroz-del-Alba-Unternehmens verhaftet worden
  • 2. Die Revolutionäre Strömung Bolívar und Zamora (Corriente Revolucionaria Bolívar y Zamora, CRBZ) ist die größte und radikalste landesweite Basisorganisation in Venezuela. Zu ihr gehören unter anderen die Bauernorganisation Frente Campesino, die nationale kommunale Front Simón Bolívar, die Bewegung Arbeitermacht, das Zentrum für Bildung und soziale Studien Simón Rodriguez sowie mehrere kommunale Städte und kommunale Räte