Chile zwischen Wut, Protest und Ausgangsperre

Am Samstagabend setzte der Präsident die Erhöhung der U-Bahn-Preise aus. Nur Minuten später verkündete der Standortgeneral eine nächtliche Ausgangssperre

chile_la_alegria_nunca_llego.jpg

Demonstranten am Samstag in Santiago
Demonstranten am Samstag in Santiago

Viele mögen sich fragen, warum die Erhöhung der Fahrpreise der U-Bahn von "nur" 30 Pesos (ca 3,8 Eurocent) soviel Proteste hervorruft. Soziale Ungerechtigkeit, Korruption, galoppierende Preissteigerungen in allen Bereichen und die moralische Verkommenheit vieler Institutionen sind der Hintergrund einer aufgestauten Wut, die nur eines letzten Tropfens bedurfte, um das Fass zum überlaufen zu bringen.

Einige Beispiele:

Nach Zahlen der Zentralbank sind die Haushalte bis zu 73 Prozent ihres Nettoeinkommens verschuldet und haben keinerlei Möglichkeit, ein Sparguthaben anzulegen.

Es fehlen mehr als 500.000 Wohnungen und in den letzten acht Jahren sind die Preise für Wohnungen um 67,8 Prozent gestiegen.

50 Prozent der Menschen mit 30 bis 35 Jahren Beiträgen, die 2018 in Rente gingen, haben eine Rente von etwa 290.000 Pesos. Das ist noch unter dem Mindestlohn von derzeit 300.000 Pesos (ca. 375 Euro), der ebenfalls nicht zum Leben reicht.

Im ersten Halbjahr 2018 sind mehr als 9.000 Personen verstorben, die auf der Warteliste für medizinische Behandlung standen.

Für viele Kranke sind Medikamente unerschwinglich und sie fragen sich, wie es möglich ist, dass die vom kommunistischen Bürgermeister Daniel Jadue ins Leben gerufene und inzwischen von mehr als 60 Gemeinden kopierten "Volksapotheken" die gleichen Medikamente 70 Prozent billiger verkaufen können.

Die Ungleichheit in Chile ist himmelschreiend. 10 Prozent der Bevölkerung teilen sich 66,5 Prozent des Nettoeinkommens Chiles, während sich 50 Prozent der ärmsten Familien gerade einmal 2,1 Prozent teilen.

Steuerhinterziehungen und in Steuerparadiesen "geparkte" Vermögen haben Rekordwerte. Dem Finanzamt gehen jährlich Millionen verloren, weil die Zollbehörden die Erzexporte nicht hinreichend kontrollieren kann. So wurde z.B. Molybdän als Kupfer steuerfrei ins Ausland geschmuggelt oder weniger als die tatsächliche Menge versteuert.

Auf der anderen Seite gab es jahrelange Preisabsprachen bei Windeln und Papierprodukten, Hähnchen und Medikamenten. Der italienische Energiekonzern Enel hat die kostenlose Modernisierung aller Stromzähler in der Zentralregion angekündigt, um dann Kosten stillschweigend und versteckt auf die monatliche Rechnung zu setzen.

Die moralische Verkommenheit wichtiger gesellschaftliche Institutionen hat das Vertrauen der Bevölkerung in sie tief erschüttert.

So hat der Finanzriese "Penta" jahrelang Politiker und Parteien mit Hilfe gefälschter Rechnungen bestochen und damit einen Steuerschaden von wenigstens 500 Millionen Pesos angerichtet. Die Parlamentsmehrheit weigert sich seit Jahren beharrlich, die Diäten von mehr als 23.000 US-Dollar zu kürzen. Gegen 158 Kirchenoberen wird wegen Kindesmissbrauch ermittelt, von denen inzwischen 23 verurteilt sind. Die Spitzen von Polizei und Armee haben Hunderte Millionen Steuermittel veruntreut. Kasinobesuche, Privatreisen, Luxuswagen und Wohnungen wurden aus nicht kontrollierbaren Mitteln mit Hilfe gefälschter Rechnungen finanziert. Polizei und Gefängnispersonal kommt immer häufiger wegen krimineller Machenschaften ins Gerede. Sie schmuggeln Drogen, sind gelegentlich Kopf von kriminellen Banden oder halten ihre schützende Hand über sie, wenn es einmal zu Ermittlungen kommt. Nicht zu schweigen vom Mord an Camilo Catrillanca, der vor einem Jahr hinterrücks von Einsatzpolizei erschossen wurde. War dieser fürchterliche Zwischenfall nicht genug, wurde versucht, ihn bis hinauf zum Innenminister und Präsidenten zu vertuschen und zu verdrehen.

Dann kam die Tariferhöhung. In den ersten Tagen fuhren Schüler massenhaft, ohne zu bezahlen. Dann schlossen sich die Studenten an und es kam zu einzelnen Besetzungen von U-Bahnstationen. Alles friedlich und ohne “Randale”. Die Regierung kriminalisierte die Aktionen vom ersten Tag an und in den U-Bahnstationen und Waggons kam es zu regelrechten Hetzjagden mit Verhaftungen durch die Militärpolizei. Erst danach kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen.

Um die Wogen zu glätten, annullierte Präsident Sebastian Piñera die Preiserhöhungen und bot einen Dialog an, um die aufgestauten Probleme zu diskutieren. Aber nur Minuten später wurden der Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre im Großraum Santiago, später auch in Valparaíso und Concepción verhängt. “Zuckerbrot und Peitsche” könnte man die Szene beschreiben.

Militärpatrouillen auf den Straßen und Ausgangssperre wecken böse Erinnerungen an die Militärdiktatur von Pinochet. Die Bevölkerung lässt sich jedoch nicht einschüchtern. Während Jugendliche Straßensperren errichten und sich Scharmützel mit der Polizei liefern, feuern die friedfertigen Demonstranten nur eine Straßenecke weiter die Jugendlichen, nicht selten ihre eigenen Kinder, mit wütenden Sprechchören und Topfschlagen an. Keiner geht nach Hause, so wie er/sie es noch vor einem Jahr gemacht hätte.

Am Sonntag um die Mittagszeit harrten einige Hundert Demonstranten am zentralen Plaza Baquedano stundenlang im Tränengasnebel aus und zwangen schließlich die aufgefahrenen fünf Schützenpanzer nebst einer Hundertschaft zum Rückzug.

Da blieb es auch nicht aus, dass die am meisten Radikalisierten, meist Jugendliche, schließlich Metrostationen, Banken und Supermärkte in Brand setzten. Daraufhin haben fast alle Einzelhandelsketten die Läden geschlossen, und es gibt keine städtischen oder regionalen Busse nach und von Santiago. Der internationale Flughafen ist weitgehend geschlossen.

Man muss aber mit einer Verurteilung dieser Gewalt vorsichtig sein. Nach Meinung vieler Soziologen greift kein Jugendlicher zu Gewalt, wenn er eine gute Schul- und Weiterbildung, qualifizierte und entsprechend entlohnte Arbeit sowie ein soziales Umfeld hat, welches ihm erlaubt, ein Lebensprojekt zu entwickeln. Das neoliberale System hat selbst den “Dünger” für diese Gewalt geliefert.

Wie geht es weiter? Für Montag ruft die Studentenorganisation Confech zu landesweiten Protesten auf. Die Vereinigung der Hafenarbeiter will ebenfalls ab Montag alle Häfen bestreiken und am Sonntag gingen die Proteste seit dem frühen Morgen weiter.