Brasilien: Die agrarökologische Bewegung kämpft für ein Leben ohne Agrargifte

Die Entwicklung in Südbrasilien hin zu mehr Unabhängigkeit und gesunder Ernährung ist gefährdet. Die Lage für Indigene, Landlose und Kleinbauern ist bedrohlich

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Roque Gandin erntet in seinem Garten Maniok, ein Grundnahrungsmittel in Brasilien.
Roque Gandin erntet in seinem Garten Maniok, ein Grundnahrungsmittel in Brasilien.

Im Bundesstaat Paraná in Südbrasilien hat sich eine kleinbäuerliche, agrarökologische Landwirtschaft entwickelt, die Familien mit gesunden Nahrungsmitteln versorgt, ohne Einsatz von Pestiziden und chemischen Düngemitteln. In dieser Region ist dies nicht einfach, denn wie auch in anderen Teilen Brasiliens beherrscht der Anbau von gentechnisch veränderter Soja, Gen-Mais und Weizen in Monokultur weite Teile des Landes.

Unterstützt und gespeist wird die Verbreitung von Agrarökologie durch eine starke soziale Bewegung, hauptsächlich vorangetrieben von der Landlosenbewegung (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, MST). Mithilfe dieser Bewegung konnten sechs staatliche Universitäten im ländlichen Raum etabliert werden, die seit zehn Jahren Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, Landlosen und Indigenen einen Zugang zu höherer Bildung verschaffen und Agrarökologie lehren. Eine wichtige Errungenschaft, die unter der jetzigen Regierung von Jair Bolsonaro zerstört werden könnte. Auch viele andere Programme zur Unterstützung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft drohen finanziell ausgetrocknet zu werden.

Brasilien galt lange Zeit als Vorreiter in der Umsetzung von Agrarökologie. International ist der agrarökologische Ansatz auch von der Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) als zentrales Element zur Bekämpfung von Hunger und Armut anerkannt.

Noch funktioniert die agrarökologische Bewegung in Südbrasilien. Dieser Bericht zeigt ihre Beweggründe und ihren Kampf um Land und um ein Leben ohne Agrargifte.

Helena und Roque Goncalves Gandin haben sich ein kleines Paradies geschaffen. Auf ihren zehn Hektar Land bauen sie Zuckerrohr, Maniok, Reis, Süßkartoffeln, Bohnen, Mais, Erdnuss, Bananen, Orangen, Kirschen, Limetten, Pfirsiche, Bergamotte, Ananas, Trauben, Zwiebeln, Mate, verschiedenste Gemüse und Salate an. Große Araukarien spenden Schatten. Von März bis Juni werden die einheimischen Früchte Pinhão dieser Bäume geerntet. Es gibt Schweine, Hühner, Rinder, Schafe und Fische. Verarbeitet wird alles von ihnen auf dem Hof. Tiere werden geschlachtet, Schmalz hergestellt und Rohrzucker produziert.

Besonders schön ist ein Mandala-Beet gestaltet aus verschiedensten Pflanzen, in dessen Mittelpunkt Hühner gehalten werden. Diese runden Beete kommen aus der Permakultur, sind sehr vielfältig und ertragsreich.

Roque und Helena leben in Porto Barreiro, einem kleinem Ort in Südbrasilien im Bundesstaat Paraná. In ihrer Region sind sie Teil einer Bewegung, die Agrarökologie praktiziert. Dies ist kein leichtes Unterfangen. In Paraná wurden im Jahr 2019 auf 5,5 Millionen Hektar gentechnisch veränderte Soja (GV-Soja) angepflanzt1.

Auch ihre Nachbarn bauen GV-Soja und Tabak an. Lässt man seinen Blick über die Landschaft schweifen, sieht man die Zerstörung des Landes. Soja, Mais oder Weizen soweit das Auge reicht. Erschreckend ist es zu erfahren, dass es nicht nur die großen Landwirte und Agrarbetriebe sind, die auf dieses Geschäft setzen, sondern auch viele Kleinbauern diesem Modell folgen.

"Sie sagen, sie könnten es nicht anders machen", erklärt Helena. Sie möchten ihre Ernte auf einmal verkaufen und haben Angst, dass sie mit Agrarökologie weniger Geld verdienen. Dabei müssen sie alle ihre Lebensmittel kaufen.

"Wir verkaufen das ganze Jahr über unsere Produkte", erzählt die Kleinbäuerin. Für Helena stehen die Gesundheit und die Versorgung der Familie mit gesunder Nahrung an erster Stelle. Sie hat sich für den agrarökologischen Weg entschieden, weil viele Familien nicht gesund waren und sie sich gefragt hat, warum man mit Gift anbauen soll, wenn Jahre zuvor alles ohne Pestizide angebaut wurde.

Kleinbauern kämpfen um Land und für ein Leben ohne Pestizide

Im Bundesstaat Paraná hat sich eine starke soziale Bewegung gebildet, die Alternativen zum agrarindustriellen Modell aufzeigen. Viele Familien wollen ein Leben ohne Agrargifte leben. Dafür kämpfen sie um Land und setzen auf einen vielfältigen Anbau mit Agroforst und traditionellem Saatgut. Viel zu dieser Entwicklung beigetragen hat die Landlosenbewegung MST2.

Der Kampf um Land prägt diese Region seit vielen Jahrzehnten. Hier ist das größte Gebiet der Agrarreform in Lateinamerika. 2019 leben mehr als 5.000 Familien in assentamentos (Siedlungen) und 4.000 Familien leben auf besetztem Land in acampamentos (Camps). Das heißt ihnen wurde das Land noch nicht von der brasilianischen Regierung zugeteilt und sie können jederzeit von der Polizei vertrieben werden.

Unter dem jetzigen Präsidenten Jair Bolsonaro hat sich die Lage für diese Menschen sehr zugespitzt und es ist ungewiss, ob oder wann sie endlich eigenes Land bekommen. Anfang 2019 hat Bolsonaro per Dekret jegliche Art von Landverteilung innerhalb des nationalen Programms für unbestimmte Zeit eingestellt3.

In der MST-Siedlung Assentamento 8 de Junho leben 105 Familien auf 1.477 Hektar Land. 10 Familien davon praktizieren Agrarökologie.

Seit 22 Jahren leben dort Darci und Marli Teresa da Silva gemeinsam mit einem Bruder und arbeiten seit 15 Jahren agrarökologisch auf 12,5 Hektar.

Ihre Geschichte zeigt, wie Familien sich mit Agrarökologie unabhängig machen können. Anfangs haben sie mit 15 Kühen konventionelle Milch produziert. Doch dies hat für sie nicht gut funktioniert, obwohl sie der größte Milchproduzent in der Siedlung waren. Noch heute müssen sie den Kredit abbezahlen, der damals für die Produktion notwendig war.

Darci erkannte das Problem. "Wir haben nur Milch produziert und nichts für die Ernährung der Familie", erzählt er. Daraufhin hat er eine Rechnung gemacht: Wieviel Geld müssen sie innerhalb von zehn Jahren für Einkäufe im Supermarkt ausgeben? "Es zeigte sich, dass das nicht der richtige Weg ist", so Darci.

Danach haben sie neu angefangen. Über die Landpastorale (Comissão Pastoral da Terra, CPT) kam ein Umdenken zu Agrarökologie.

Unterstützung bekam die agrarökologische Bewegung ab 2003 durch die Brasilianische Regierung unter Luiz Inácio Lula da Silva. Lula startete unmittelbar nach seinem Amtsantritt Fome Zero – das Programm Null Hunger. Dazu das Sozialprogramm Bolsa Familia, die Familienhilfe. Die Landlosenbewegung MST kämpfte gemeinsam mit Organisationen wie CEAGRO (Centro de Desenvolvimento Sustentável e Capacitacao em Agroecologia), CAPA (Centro de Apoio e Promocao da Agroecologia) und ASSESOAR (Associação de Estudos Orientação e Assistência Rural) für die Etablierung von Programmen zur Unterstützung der Familienlandwirtschaft4. Sie werden aus Deutschland von Brot für die Welt unterstützt.

Universitäten im ländlichen Raum

Und noch mehr wurde auf den Weg gebracht. Auf Druck der sozialen Bewegungen öffnete 2009 die staatliche Universität UFFS (Universidade Federal da Fronteira Sul) in Laranjeiras do Sul. Das Besondere daran ist, das die Universität in einer Siedlung der MST liegt und Zugang zu Bildung für bäuerliche Familien, Landlose, Indigene und speziell auch Frauen schafft. In Paraná ist sie eine von sechs staatlich geförderten Universitäten im ländlichen Raum mit Schwerpunkt Agrarökologie. Die Universität arbeitet eng mit CEAGRO und ASSESOAR zusammen, mit dem Ziel, die Landbevölkerung zu stärken und in Agrarökologie auszubilden.

Diese gemeinsamen Anstrengungen fruchteten und es wurden wichtige Ausbildungsprogramme zur Umsetzung von Agrarökologie gestartet. CEAGRO unterstützte von 2011 bis 2015 3.000 Familien dabei, ihren Anbau auf Agrarökologie umzustellen.

Rosimari und Ronaldo Sandro Dapont aus Ampere kamen über ihren Nachbarn dazu, einen Kurs zu Agrarökologie bei ASSESOAR zu machen. Vorher haben sie Tabak angebaut und hatten 2.000 Hühner für die Eierproduktion. Gereicht hatte ihr Einkommen damals nicht und Ronaldo musste zusätzlich noch in der Stadt arbeiten. Seit 2019 haben sie umgestellt und machen seitdem Agroforst, bauen Obst und Gemüse an. Sie haben fünf Kühe und stellen Milch und Käse her. Stolz sind sie auf ihren neuen Hühnerstall, den sie mit Hilfe von ASSESOAR gebaut haben. Sie warten nur noch auf 150 traditionelle Hühner, die bald kommen sollen.

Rosimari und Ronaldo sind zufrieden mit ihrem agrarökologischen Leben. "Es ist viel Arbeit, aber wir sind froh ohne Pestizide leben zu können", so Ronaldo. Es fehlt allerdings aktuell an Unterstützung durch die brasilianische Regierung.

Für alle Familien ist diese Unterstützung dringend notwendig. Es reicht nicht aus "nur" agrarökologisch zu produzieren. Es müssen auch lokale Märkte geschaffen werden, wo die Produkte verkauft werden können.

In Parána wurde viel erreicht. Zahlreiche Bauernmärkte konnten sich entwickeln und Kooperativen sind entstanden. Besonders wichtig ist das nationale Schulspeisungsprogramm (PNAE), das Gemeinden verpflichtet, mindestens 30 Prozent der Lebensmittel in den Schulen von agrarökologischen Familienbetrieben zu kaufen.

Dies gilt auch für die Bäckerei der Kooperative Coperjunho. Hier werden an manchen Tagen 240 Kilogramm Kekse für die Schule in Laranjeiras do Sul gebacken und ausgeliefert. 20 Frauen sind hier seit 2005 beschäftigt und backen mit einfachen Geräten Brote, Kekse und Gebäck. Für viele Frauen ist dies die Möglichkeit, selber Geld zu verdienen, sich zu organisieren und ihr Leben zu gestalten. Oft sind sie es, die den Anstoß geben, auf gesunde Nahrung zu setzen.

Unterstützung ist dringend notwendig

Diese positive Entwicklung in Südbrasilien hin zu mehr Unabhängigkeit und gesunder Ernährung ist aktuell gefährdet. Unter Bolsonaro gab es schon einschneidende finanzielle Kürzungen. Professor Antonio Andrioli, der bis April 2019 noch Vize-Direktor der UFFS in Chapecó war, erzählt von zahlreichen Schwierigkeiten an den sechs Universitäten. Neben den Geldkürzungen wird einfach das Personal ausgetauscht, so dass immer weniger agrarökologische Interessen an den Universitäten vertreten werden können.

Auch ist die Lage für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, Landlose und Indigene bedrohlich. In der Nähe von Laranjeiras do Sul kam es erst im Oktober zu einer gewaltsamen Vertreibung durch die Militärpolizei in einem Camp von Landlosen.

Der brasilianische Präsident unterstützt aktiv eine Ausweitung der Sojaanbauflächen und Viehhaltung. In den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit wurden 290 neue Pestizide zugelassen5.

In Südbrasilien liegt es vor allem an der starken sozialen Bewegung, dass zurzeit überhaupt noch Agrarökologie gefördert wird. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die gewachsenen regionalen Strukturen. So will der Bundesstaat Paraná bis 2030 100 Prozent Bio an den Schulen erreichen. Sie alle brauchen dringend mehr internationale Unterstützung und Aufmerksamkeit.

In Deutschland haben 60 Organisationen in einem Positionspapier6 ihre Forderungen an die Bundesregierung für die Unterstützung von Agrarökologie in der Handels-, Agrar- und Entwicklungspolitik formuliert.

Mireille Remesch ist Entwicklungspolitische Referentin der Agrar Koordination, war im Oktober in Paraná und führte Gespräche mit Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, Landlosen, Indigenen, Studierenden und Professoren der UFFS über die Umsetzung von Agrarökologie in Südbrasilien.