Seit die demokratisch gewählte Regierung von Evo Morales durch das Militär am 10. November gestürzt wurde, durchlebt Bolivien einen Albtraum von politischer Unterdrückung und staatlicher rassistischer Gewalt. Laut einer im Juli veröffentlichten Studie der Internationalen Klinik für Menschenrechte der Rechtsfakultät der Harvard-Universität (HLS) und des University Network for Human Rights (UNHR) war dieser Monat "der mit der zweithöchsten Anzahl von durch staatliche Einsatzkräfte getöteten Zivilisten, seit Bolivien vor fast 40 Jahren zu einer Demokratie wurde".
Morales war der erste indigene Präsident Boliviens ‒ des Landes mit dem höchsten Anteil an indigener Bevölkerung auf dem gesamten amerikanischen Kontinent. Seine Regierung schaffte es, die Armut um 42 Prozent und die extreme Armut um 60 Prozent zu verringern, was in erster Linie den bolivianischen Indigenen zugute kam. Der November-Putsch wurde von einer weißen und mestizistischen Elite mit rassistischem Hintergrund angeführt, der es darum ging, die staatliche Macht wieder in die Hände derjenigen zu legen, die sie vor der Wahl von Morales 2005 für sich monopolisiert hatten. Der HLS- und UNHR-Bericht hebt den rassistischen Charakter der staatlichen Gewalt hervor und führt Aussagen von Augenzeugen an, die berichteten, wie die Sicherheitskräfte "eine rassistische und indigenenfeindliche Sprache" benutzten, wenn sie die Demonstranten angriffen; und er macht auch klar, dass die Opfer der beiden größten nach dem Putsch von den staatlichen Kräften verübten Massaker Indigene waren.
Was noch viel weniger Beachtung fand, aber gleichermaßen wichtig ist, um zu verstehen, wie die Demokratie in Bolivien im vergangenen November zerstört wurde, ist die Rolle, die die Organisaton Amerikanischer Staaten (OAS) bei diesem schrecklichen Verbrechen spielte.
Wie die New York Times am 7. Juni schließlich berichtete, hat die "fehlerhafte" Analyse der OAS unmittelbar nach den Wahlen vom 20. Oktober "eine Reihe von Ereignissen angestoßen, die die Geschichte der südamerikanischen Nation veränderten". Die Analyse der OAS "brachte Bedenken über Wahlbetrug vor ‒ und half, einen Präsidenten zu stürzen", wie die Times betonte.
Tatsächlich bildeten die Anschuldigungen der OAS die politische Grundlage für den Staatsstreich drei Wochen nach den Wahlen vom 20. Oktober. Und die Anschuldigungen wurden noch viele Monate lang nach dem Putsch ständig vorgebracht. In Bolivien gab die Wahlbehörde schon während der Stimmenauszählung eine vorläufige Zwischenbilanz bekannt, die weder offiziell ist noch das Ergebnis bestimmt. Als bei einem Stand von 84 Prozent ausgezählter Stimmen diese vorläufige Zwischenbilanz bekanntgegeben wurde, entfielen auf Morales 45,7 Prozent der Stimmen. Damit hatte er einen Vorsprung von 7,9 Prozent gegenüber dem zweitplatzierten Kandidaten. Dann wurde diese inoffizielle und unverbindliche Zählung für 23 Stunden unterbrochen, und als sie wieder aufgenommen wurde, war Morales' Vorsprung auf 10,2 Prozent gewachsen. Am Ende der offiziellen Auszählung betrug er 10,5 Prozent. Gemäß dem bolivianischen Wahlgesetz gewinnt ein Kandidat in der ersten Runde, wenn er 40 Prozent der Stimmen auf sich vereint und einen Vorsprung von mindestens 10 Prozentpunkten erzielt, wodurch eine zweite Runde mit Stichwahl unnötig wird.
Die Opposition behauptete, dass es eine Wahlfälschung gab, und ging auf die Straße. Die Wahlbeobachtungsmission (MOE) der OAS gab am folgenden Tag eine Presseerklärung heraus, in der sie ihre "tiefe Besorgnis und Überraschung über die drastische und schwer zu erklärende Veränderung des Trends bei den vorläufigen Ergebnissen nach Schließung der Wahlurnen" zum Ausdruck brachte. Sie lieferte jedoch keinerlei Beweise, um diese Anschuldigungen zu stützen, weil es einfach keine gab.
Das ist seitdem bei wiederholten Gelegenheiten durch eine Vielzahl von speziellen statistischen Untersuchungen nachgewiesen und dokumentiert worden, darunter die, auf die sich der Artikel der New York Times vom 7. Juni vorwiegend stützt. So wie es manchmal geschieht, wenn Zahlen zum Thema einer politischen Kontroverse werden, waren die statistischen Untersuchungen vor allem erforderlich, um andere – oftmals falsche – statistische Analysen zu widerlegen. Aber die Wahrheit war sehr klar ersichtlich und leicht anhand der sofort nach den Wahlen online verfügbaren Daten zu erkennen. Und tatsächlich zog das Zentrum für Wirtschafts- und Politikstudien (CEPR), dessen Ko-Vorsitzender ich bin, bereits einen Tag nach der Veröffentlichung diese Daten heran, um die anfänglichen Behauptungen der OAS zu widerlegen; und es hat in den nachfolgenden Monaten weiterhin eine Reihe von statistischen Untersuchungen und Dokumente erarbeitet, darunter ein umfangreiches Dokument, das den abschließenden Prüfbericht der OAS widerlegt.
Es gab keine unerklärliche Tendenzwende. Alles, was geschah, war, dass die Regionen, die die Auszählungsergebnisse später meldeten, mehr pro-Morales waren als die, die früher meldeten, und dem liegen unterschiedliche geographische und demographische Umstände zugrunde. Deshalb wuchs der Vorsprung von Morales an, als die letzten 16 Prozent der Stimmen ausgezählt waren, so wie er schon während der vorläufigen Zählungen ständig angestiegen war. Das ist ein ziemlich häufiges Phänomen bei Wahlen auf der ganzen Welt.
Aber nach ihrer ersten Presseerklärung erarbeitete die OAS drei weitere Berichte, darunter ihren vorläufigen Prüfbericht der Wahlergebnisse, ohne dabei je die offensichtliche Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Regionen, die ihre Wahlergebnisse später meldeten, eine politische Tendenz hatten, die sich von der in den Regionen unterscheidet, deren Ergebnisse früher gemeldet wurden. Das allein ist an sich schon ein erdrückender Beweis dafür, dass die OAS-Funktionäre nicht nur einfach bei ihren wiederholten Betrugsvorwürfen einen Fehler begingen, sondern dass sie tatsächlich wussten, dass ihre Anschuldigungen falsch waren. Es geht uns nicht in den Kopf, dass diese einfache Erklärung, die den meisten Leuten als erstes einleuchten würde und sich als richtig herausstellte, während all der Monate, die die Untersuchung dauerte, von den Wahlexperten nicht einmal in Erwägung gezogen wurde.
Am 2. Dezember veröffentlichten 133 Wirtschaftswissenschaftler und Statistiker einen Brief an die OAS, in dem sie feststellten, dass "das Endergebnis auf der Grundlage der ersten 84 Prozent der gemeldeten Stimmen ziemlich vorhersagbar war", und die OAS aufforderten, "ihre irreführenden Aussagen zu den Wahlen zurückzunehmen".
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Vier Abgeordnete des US-Kongresses, angeführt vom Abgeordneten Jan Schakowsky, intervenierten ebenfalls mit einem Brief bei der OAS, in dem sie elf grundsätzliche Fragen zu dem OAS-Bericht formulierten. Eine bezieht sich darauf, ob die Möglichkeit erwogen wurde, dass die Regionen, die als letzte meldeten, "in irgendeiner Weise anders sind, so dass die Wahrscheinlichkeit, für Evo Morales zu stimmen, größer war – im Vergleich zu den Wählern in typischen Wahlbezirken der ersten 84 Prozent der gemeldeten Stimmen?" Bis heute hat die OAS noch nicht darauf geantwortet.
Im Juli hielt der US-Kongress Informationssitzungen mit hohen OAS-Funktionären ab und konfrontierte sie mit einigen derselben Fragen; und es gab keinerlei substantielle Antwort darauf.
Da die ursprünglichen – und politisch entscheidenden – Betrugsvorwürfe zunehmend diskreditiert waren, griff die OAS auf "Unregelmäßigkeiten" bei den Wahlen zurück, um ihren Angriff auf die Legitimität des Wahlablaufs fortzusetzen. Aber es stellte sich heraus, dass diese Anschuldigungen, wie die auf statistischen Annahmen beruhenden, angesichts der Stimmenauszählung immer mehr in sich zusammenbrachen. Die OAS scheint entschlossen zu sein, ihre anfänglichen – und eindeutig falschen – Anschuldigungen der Unregelmäßigkeiten, die den Putsch herbeiführten, zu rechtfertigen.
Inzwischen hat Bolivien eine De-facto-Präsidentin, Jeanine Áñez, die die religiösen Praktiken der Indigenen als "Teufelswerk" abqualifiziert. Im Januar warnte sie die oppositionellen Wähler davor, "die Rückkehr der 'Wilden' an die Macht zu erlauben, in offensichtlicher Bezugnahme auf Morales' indigene Herkunft und die vieler seiner Parteigänger", so die Washington Post. Man ging davon aus, dass ihre Regierung eine "Übergangsregierung" sei, aber die Neuwahlen, gegenwärtig für den 18. Oktober anberaumt, sind dreimal verschoben worden. .
Die Mühlen der Justiz mahlen nach den von den USA unterstützten Staatsstreichen viel zu langsam. Und die Unterstützung seitens der Trump-Regierung ist ganz offen: Das Weiße Haus förderte das Narrativ vom "Wahlbetrug", und seine Orwellsche Erklärung nach Morales' Sturz lobte den Putsch: "Morales' Abgang bewahrt die Demokratie und bereitet den Weg dafür, dass die Stimme des bolivianischen Volkes gehört wird."
Senator Marco Rubio ist einer der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Politik der Trump-Regierung gegenüber Lateinamerika. Im vorliegenden Fall mischte er sich schon vor der ersten OAS-Presseerklärung in die Angelegenheit ein: "In #Bolivien deuten alle glaubwürdigen Indizien darauf hin, dass sich Morales nicht den nötigen Vorsprung verschaffen konnte, um eine zweite Runde bei den Präsidentschaftswahlen zu vermeiden", schrieb er am Tag nach der Wahl; und es gebe "gewisse Besorgnis, dass sich die Ergebnisse oder der Verlauf ändert, um das zu umgehen".
Laut Los Angeles Times "hatte Carlos Trujillo, US-Botschafter bei der OAS, das Wahlüberwachungsteam darauf eingeschworen, von einem allgemeinen Betrug zu berichten, und Druck auf die Regierung Trump ausgeübt, damit diese Morales' Rauswurf unterstützen möge".
Nun haben die US-Abgeordneten Jan Schakowsky und Jesús “Chuy” García den US-Kongress ersucht, "die Rolle der OAS in Bolivien während des vergangenen Jahres zu untersuchen und sicherzustellen, dass die Dollar der Steuerzahler nicht zum Sturz demokratisch gewählter Regierungen, zu gesellschaftlichen Unruhen oder Rechtsverletzungen beitragen".
Das wäre ein guter Anfang.
25. September 2020