Der Begriff Territorialisierung bezeichnet in Venezuela die Praxis, die Politik dorthin zu bringen, wo die Menschen leben. Das ist zu einem besonders wichtigen Konzept im Bolivarischen Prozess geworden. Können Sie uns beschreiben, wie Otro Beta diese Territorialisierung fördert?
Gabriela Henríquez: Wir denken über das Barrio von innen heraus nach. Wir fördern keinen Klientelismus, die Menschen sind für uns keine bloßen Nummern. Otro Beta ist eine soziale Alternative, die im Territorium verankert ist. Deshalb sind für uns neben unserer Kultur- und Bildungsarbeit auch politische und organisatorische Initiativen sehr wichtig. Das gilt besonders jetzt, wo der Bolivarische Prozess einige schwierige Phasen durchläuft.
Wir sind ständig dabei, Allianzen mit lokalen Organisationen zu schmieden. Hier in unserem Zentrum Cacique Urimare arbeiten wir zum Beispiel eng mit den Kommunalen Räten und den Kommunen in der Gegend zusammen. Sie treffen sich sogar hier bei uns. Das alles macht Sinn: Wir setzen uns alle für Gemeinschaftlichkeit in der Gesellschaft ein.
Ich denke, dass junge Menschen von Natur aus rebellisch sind. Und obwohl wir glauben, dass Disziplin wichtig ist, werden unsere Prozesse nicht von oben, sondern von unten gesteuert. Hier sind es die jungen Menschen, die fragen, die bestimmen und gestalten. Otro Beta drängt sich den Menschen nicht auf – wir machen stattdessen, was wir "Praxis des Zuhörens" nennen.
All das hat Auswirkungen auf die Kommunalen Räte um uns herum: Viele junge Menschen arbeiten jetzt in selbstverwalteten Räumen und tun dies in mehr gleichberechtigter Weise.
Otro Beta macht keine Politik nur der Politik wegen, unsere Ziele sind nicht parteiisch. Vielmehr hoffen wir darauf, die Gemeinschaft in politische Räume einzubinden und dafür zu sorgen, dass junge Menschen ihre Aufsässigkeit in den Prozess einbringen.
Otro Beta war maßgeblich an der Entstehung der "Bewegung für Frieden und Leben" beteiligt. Erzählen Sie uns von diesem Projekt.
Henríquez: Im Jahr 2013 hatten wir ein Treffen mit Präsident Nicolás Maduro. Mit dabei waren marginalisierte Jugendliche, und sie konnten über ihre Situation reden, über die Gewaltprobleme im Barrio und ihre Vorstellungen von der Welt. So fing das damals an mit dem "Movimiento por la Paz y la Vida" [eine Initiative zur Bewältigung sozialer Probleme im Barrio].
Einer der Schwerpunkte des Programms war der Bau von Freizeiträumen für die Jugendlichen in den Barrios. Die "Bewegung für Frieden und Leben" half uns bei der Reparatur von 24 Sportplätzen und beim Bau von Tanzhallen. Darüber hinaus förderte sie betriebliche Produktionsprojekte, um den Jugendlichen Alternativen für den Lebensunterhalt zu bieten. So konnten wir 2013 und 2014 fünfhundert Arbeitsprojekten umsetzen. Die Regierung lieferte beispielsweise Hotdog-Wagen, half bei der Einrichtung von Friseursalons, Mechanikwerkstätten usw. All das hatte spürbare Auswirkungen auf das Leben der Jugendlichen, und sie sind heute noch sichtbar.
In ihren Anfangsjahren hat es die Bewegung für Frieden und Leben geschafft, die jungen Menschen zu erreichen und ihnen Alternativen zu zeigen. Leider wurde ihre ursprüngliche Politik wohl aufgrund von Änderungen in der Leitung und durch Personen entstellt, die die Ziele des Projekts nicht verstanden hatten.
Wir sind stolz darauf, eine treibende Kraft bei der Bewegung für Frieden und Leben gewesen zu sein, und dabei unsere Unabhängigkeit vom Staat behalten zu haben.
Heute liegt der Schwerpunkt von Otro Beta auf Bildung. Wann begann das?
Henríquez: Etwa 2015 erkannten wir, dass wir ein Defizit hatten: Bildung. Deshalb gingen wir die Allianz mit Inces ein (Instituto Nacional de Capacitación y Educación Socialista), um die technische Ausbildung zu fördern.
In der aktuellen Krise müssen die Kids in den Barrios nützliche Fähigkeiten erwerben. Sie haben nicht die Zeit, die Kinder der Mittelschicht vielleicht haben. Diejenigen, die bei uns lernen, erhalten einen Abschluss, mit dem sie in 60 Ländern der Welt arbeiten können.
Was sehr wichtig ist, denn es ist nicht nur ein Abschluss und ein Beruf, den sie haben: Es ist eine Art Reisepass, der es ihnen ermöglicht, sich in der Welt leichter zu bewegen. Und das ist wichtig, weil es jungen Menschen gangbare Alternativen bietet. Wir müssen auch anerkennen, dass die Krise und die Blockade viele junge Menschen in die Migration gezwungen haben.
Welche Art von Bildung bieten Sie hier bei Otro Beta an?
Henríquez: Otro Beta ist eine antikapitalistische Bewegung. Deshalb ist das, was wir anbieten, "Anti-Maquila"-Bildung. Die Kids bekommen eine Ausbildung und einen Abschluss für eine wirtschaftliche Alternative außerhalb des kapitalistischen Kreislaufs von Gewalt und Armut.
Unser Nationales Erziehungsprogramm orientiert sich am Prinzip der emanzipatorischen Bildung. Der Kosmetik-oder Mechaniklehrer könnte zum Beispiel ein Gespräch über Politik, Geschichte, über Kommunen oder was immer anfangen, aber auf gleichberechtigte Weise. Wir zwingen niemandem Visionen auf, wir arbeiten nur daran, kollektives Nachdenken auszulösen. Wir verwenden die Zwiebeltheorie: Wir gehen dem Thema Schritt für Schritt auf den Grund, indem wir Schichten abtragen.
Die politische Bildung ist hier eine Konstante. Wir bieten Kurse an in Elektrizität, Kochen, Maniküre, in Streetdance, in urbaner Landwirtschaft usw. Alle unsere Kurse sind jedoch umfassend und vielschichtig.
In den letzten beiden Jahren haben Sie begonnen, Beratung und Begleitung für Opfer von geschlechtsbezogener Gewalt anzubieten. Erzählen Sie uns mehr darüber.
Henríquez: Einer unserer strategischen Grundsätze ist der Feminismus, und wir entwickeln jetzt eine solide Linie antipatriarchaler Arbeit.
Die Figur der Mutter hat eine zentrale Rolle im Barrio. Dennoch handelt es sich um eine patriarchale Gesellschaft und die machistische Gewalt ist groß. Schon früh lernten wir, dass viele Frauen von Machismo betroffen sind, aber nirgendwo Hilfe bekommen. Angesichts dieser Situation haben wir ein Programm ins Leben gerufen, das Opfern dieser Gewalt psychologische Beratung und Rechtshilfe bietet.
Die Barrio-Kultur ist matrimonial, aber dennoch machistisch. Das bedeutet, dass die Opfer von Machismo-Gewalt schweigen, um nicht abgeurteilt zu werden. Daran denken wir, wenn wir Bildungsprogramme aufbauen. Wir wissen, dass wir mit gesellschaftlichen Tabus brechen müssen, damit den Frauen geholfen werden kann.
Zurzeit betreuen wir im Bundesstaat Miranda 120 Frauen pro Monat. Zusätzlich zu dieser Arbeit hat Otro Beta sich der “Ruta Verde” (Grüner Weg) angeschlossen. Das ist eine Initiative, die viele Gruppen zusammenbringt, die sich für die Entkriminalisierung von Abtreibung einsetzen, und die drei Forderungen stellt. Erstens: Frauen sollen nicht das Kind einer Vergewaltigung bekommen müssen. Zweitens: Wenn das Leben der Frau in Gefahr ist, sollte sie selber entscheiden können. Drittens: Wenn das Leben des Fötus in Gefahr ist, sollte ebenfalls die Frau entscheiden können. Diese Entscheidung sollte ausschließlich von der Schwangeren getroffen werden.
Der Fall Vannesa Rosales hat dies alles sehr deutlich gemacht. Vannesa wurde neun Monate lang inhaftiert, weil sie einem zwölfjährigen Mädchen, das Opfer einer Vergewaltigung war, bei der Abtreibung half. Und der Vergewaltiger ist immer noch frei! Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen! Aus diesem Grund engagiert Otro Beta sich bei Ruta Verde.
Es gibt rechtliche Unklarheiten und kulturelle Hintergründe, die die Rechte der Frauen in Venezuela beeinträchtigen. Wir feiern zwar die Beteiligung der Frauen am Bolivarischen Prozess, aber wir kämpfen immer noch um das Recht, über unsere Körper zu entscheiden.
Die traditionelle linken und kommunistischen Parteien neigen zu der Annahme, dass ein großer Teil der Stadtbevölkerung ungebildet ist und wenig revolutionäres Potenzial hat. Zudem gibt es eine allgemeine Stimmung, dass die Kultur im Barrio die Armut reproduziert, wie in dem venezolanischen Sprichwort "Du trägst die Elendsbaracke immer mit dir im Kopf herum". Was sagen Sie dazu?
Henríquez: Es gibt viele Vorurteile gegen die Barrio-Kids, und Otro Beta arbeitet daran, sie zu bekämpfen. Menschen mit diesen Vorstellungen verstehen nicht, dass Armut eine materielle Tatsache ist. Sie hat nichts mit Kultur zu tun.
Die Menschen in den Barrios haben sich nicht ausgesucht, hier zu leben. Wir wurden hier geboren. Tatsächlich haben die schlechten Adeco und Copeyano-Regierungen [in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts] die Menschen auf die Hügel der Außenbezirke der Städte vertrieben, während diese gleichen Menschen die Städte gebaut haben, die den Reichen gefallen.
Otro Beta kämpft gegen diese rückwärtsgewandten Ideen, die die Tatsache verschleiern, dass Armut eine Konsequenz des Systems ist.
Sie arbeiten daran, Vorurteile abzubauen, aber Sie arbeiten ebenfalls daran, die Kultur des Barrios sichtbar zu machen.
Henríquez: Ja, das Barrio erzeugt seine eigenen Identitäten, sozialen Codes, seine Musikformen und sogar Sport. Wir arbeiten daran, das soziale Stigma zu beseitigen, das mit den kulturellen Praktiken des Barrios verbunden ist, die sehr vielfältig und reichhaltig sind.
Um ein Beispiel zu geben: Motopiruetas – Motorradakrobatik – ist ein authentischer Sport aus dem Barrio, der von der Gesellschaft nicht anerkannt wird. Unsere Gesellschaft kennt Motocross als Sport, aber Motopiruetas sind nur verrücktes Zeug, das die Rowdys aus dem Barrio machen! Das denken die Leute, aber wir wollen ihre Sichtweise ändern.
Erzählen Sie uns was über die Motopiruetas-Meisterschaft, die Sie gerade organisieren?
Willie Ereipa: Die Logik der Ausgrenzung, die von Adecos und Copeyanos betrieben wurde, existiert immer noch. Chávez hat bei ihrer Überwindung große Fortschritte gemacht, aber die Vorurteile bestehen weiter und die Geographie der Stadt ist von Klassenunterschieden geprägt.
Chávez wollte Bedingungen schaffen für die Integration und Beteiligung der Menschen. Er hat Universität und Musikorchester in die Barrios gebracht. Das ist gut. Wir wollen die Barrio-Kultur aber auch entkriminalisieren, und deshalb organisieren wir die Motopirueta-Meisterschaft "Entre barrios".
Wir wollen, dass Motopiruetas als Sport betrachtet werden. Denn was ist der Unterschied zwischen Motopiruetas und Motocross? Dass unsere Motorräder nicht hochgetuned sind? Nein, die Wahrheit ist, dass die Gesellschaft Motopiruetas nicht als Sport ansieht, weil das Teil der Barrio-Kultur ist, und diejenigen, die das machen, werden als Kriminelle betrachtet.
Erzählen Sie uns mehr über "Entre barrios".
Ereipa: "Entre barrios" ist unser Sport- und Kulturstrategie, entstanden 2014 oder 2015. Im Grunde handelt es sich um Wettbewerbe oder Events, die Menschen aus verschiedenen Barrios zusammenbringen. Die Idee war, die Kriminalität zu verringern und Spannungen zwischen den Gangs abzubauen.
Wir haben seitdem schon eine viele Meisterschaftswettkämpfe organisiert, von Basketball oder Kickball über beliebte Spiele wie Chapitas [Stockball mit Flaschendeckeln] und Domino bis zu Breakdance und Streetdance.
In seinem Buch "Building the Commune" stellt George Ciccariello-Maher die These auf, dass es zwei Arten von Gemeinschaftsproduktion gibt: Ländliche Kommunen produzieren Lebensmittel und Basisgüter, während die Städte Kultur produzieren. Was halten Sie davon?
Henríquez: In der Stadt haben wir keine großen Flächen zum Lebensmittelanbau, aber während der Krise sind Gärten für urbane Landwirtschaft entstanden, auch wenn das meist kleine Initiativen waren.
Wir fördern jedenfalls die Produktion von materiellen Gütern und Dienstleistungen, vor allem in den letzten Jahren. Im Barrio gibt es Manufakturen, Bäckereien, Nähwerkstätten und so weiter. Wir produzieren hier also tatsächlich Kultur, aber auch andere Güter.
In mancher Hinsicht erinnert mich Otro Beta an Jugendzentren, die ich in der Bronx gesehen habe oder im Baskenland. Ein Unterschied ist jedoch die Rolle von Chávez und des Chavismus bei der Gestaltung des Projekts hier.
Jorge "Toti" Vilalta: Chávez hat direkt mit den Menschen im Barrio gesprochen, und wir haben verstanden, dass der Sozialismus des 21. Jahrhunderts genau der richtige Weg ist. Dieses Projekt basierte auf sozialer Eingliederung und dem Aufbau einer Gesellschaft der Gleichen, und das war es, was uns als erstes auffiel.
Ich denke, dass unsere Verbindung mit dem Bolivarischen Prozess sehr gut in dem folgenden Zitat von Chávez zum Ausdruck kommt: "Ich spreche zu den Jugendbewegungen, den Banden und Gangstern: Kommt mit mir, Jungens und Mädchen, damit ihr eine Heimat bekommt!"
Chávez hat das ganze Land aufgerufen, sich an diesem Projekt zu beteiligen!