Brasilien / Politik

Brasilien: Alarm für den demokratischen Kurs

Demokraten in Brasilien, Lateinamerika, Nordamerika und Demokraten weltweit sollten diese Warnung sehr ernst nehmen

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"Sturm auf Brasília" am 8. Januar 2023
"Sturm auf Brasília" am 8. Januar 2023

Es passierte am 8. Januar. Eine Woche nach der Amtseinführung von Präsident Lula da Silva kam es in Brasilia zu Vorfällen, von denen nur diejenigen überrascht wurden, die sich über die weit gestreuten Vorbereitungen in den sozialen Netzwerken nicht informieren wollten oder konnten.

Die gewaltsame Besetzung von Legislative, Exekutive und Justizwesen einschließlich der näheren Umgebung sowie die Zerstörung von öffentlichem Eigentum in diesen Gebäuden durch rechtsextreme Demonstranten sind Terrorakte, die von den Anführern geplant und minutiös organisiert worden waren.

Es handelt sich um ein Ereignis, das das Überleben der brasilianischen Demokratie ernsthaft bedroht hat und das angesichts der Art und Weise, wie es sich zugetragen hat, bald auch andere Demokratien auf dem Kontinent und in der Welt bedrohen könnte. Wir sollten es daher im Lichte ihrer Bedeutung analysieren. Die wichtigsten Merkmale und Lektionen sind folgende:

1. Die rechtsextreme Bewegung vernetzt sich global, ihre Aktionen auf nationaler Ebene profitieren von ausländischen antidemokratischen Erfahrungen und agieren oft im Bündnis mit ihnen. Die Verbindung zwischen der extreme brasilianischen Rechten und der nordamerikanischen Rechten ist gut bekannt. Deren bekannter Vertreter, Steve Bannon, ist persönlicher Freund der Familie Bolsonaro und seit 2013 Bezugsfigur der brasilianischen Rechtsextremen.

Neben direkten Allianzen dienen die Erfahrungen aus einem Land als Modell/ Vorlage für ein anderes Land. Der Sturm auf das brasilianische Regierungsviertel, die Praça dos Três Poderes in Brasília, ist eine "verbesserte" Kopie der Invasion des US-Capitols in Washington vom 6. Januar 2021. Die Rechte hat daraus gelernt und versucht, es besser zu machen. Der Sturm wurde detaillierter organisiert und versucht, viel mehr Menschen nach Brasilia zu bringen. Alles wurde getan, die demokratische Öffentlichkeit zu beruhigen, nichts Ungewöhnliches würde passieren. Ziel der Rädelsführer war es, Brasília mit mindestens einer Million Menschen zu überschwemmen, dort zu bleiben und Chaos zu stiften, bis schließlich eine Militärintervention den demokratischen Institutionen ein Ende setzen würde.

2. Sie wollen uns glauben machen, es habe sich um eine spontane Bewegung gehandelt. Aber das Gegenteil ist richtig, sie waren organisiert und haben tiefe Verwurzelung in der Gesellschaft. Der Marsch in Brasília wurde von unterschiedlichen Städten und Regionen des Landes aus organisiert und überall gab es Ansprechpartner, um für Anhänger erreichbar zu sein. Es gab unterschiedliche Formen zum Mitmachen. Wer nicht nach Brasilia reisen konnte, der konnte lokal bei sich Aufgaben erfüllen, etwa die Treibstoffversorgung oder die Belieferung von Supermärkten blockieren. Ziel war es, durch Mangel an essenziellen Gütern Chaos zu erzeugen.

Einige werden sich an die Streiks der Tankwagenfahrer erinnern, die im September 1973 den Sturz von Salvador Allende und das Ende der chilenischen Demokratie einleiteten. Ebenso hatte das Chaos in Brasilia sehr konkrete Ziele. Sie brachen ins Büro des Nationalen Sicherheitsstabes im Keller des Präsidentenpalastes, Palácio do Planalto, ein und entwendeten geheime Dokumente und High-Tech-Geräte, was auf geschultes Personal und Spionage hinweist. Im Obersten Gerichtshof und im Nationalkongress wurden fünf Granaten gefunden.

3. In den demokratischen Ländern hat die extreme Rechte zwei bevorzugte Strategien: (1) Massive Nutzung der sozialen Netzwerke, um die Wahlen zu gewinnen, und im Falle eines Wahlsieges die Macht weder demokratisch auszuüben noch sie demokratisch wieder abzugeben. Genau dies war der Fall bei Donald Trump und bei Jair Bolsonaro während ihrer Präsidentschaften. (2) Falls sie nicht mit Wahlsieg rechnen, beginnen sie frühzeitig, die Gültigkeit der Wahl infrage zu stellen, und machen deutlich, dass sie kein anderes Ergebnis akzeptieren als den Sieg. Das Minimalprogramm ist, die Niederlage knappzuhalten, um einen Wahlbetrug glaubhaft zu machen. So war es bei den letzten Wahlen in den USA und in Brasilien.

4. Ein solcher Frontalangriff auf die Demokratie braucht, um erfolgreich zu sein, die Unterstützung strategischer Verbündeter, sowohl im Inland als auch im Ausland. Im Falle der nationalen Unterstützung sind Verbündete die antidemokratischen Kräfte, sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich, angesiedelt im Regierungsapparat als auch in der öffentlichen Verwaltung, welche durch Handeln oder Unterlassen die Aktionen der Aufständischen erleichtern.

Im Falle Brasiliens waren besonders kritikwürdig die Duldung und Passivität, wenn nicht gar Komplizenschaft der Sicherheitskräfte des Bundesdistrikts Brasilia samt deren Führung. Erschwerend kommt hinzu, dass gerade diese Region als Sitz der politischen Macht erhebliche Bundesmittel erhält, die speziell für die Verteidigung der Institutionen bestimmt sind.

Es ist auch ein Skandal, dass die Streitkräfte geschwiegen haben, vor allem, nachdem bekannt war, dass die Organisatoren Chaos anzetteln wollten, um militärisches Eingreifen zu provozieren. Die Streitkräfte duldeten es, dass Demonstranten vor einer Kaserne im militärischen Sicherheitsbereich ihr Lager errichteten und dort zwei Monate lang blieben. Auf diese Weise entwickelten sich die Idee eines Putsche in den sozialen Netzwerken weiter. Allerdings ist hier ein Unterschied zu den USA augenfällig. Im Falle der Invasion des Kapitols legten die US-Militärchefs Wert darauf, ihre Treue zur Demokratie zu betonen. Gerade diesbezüglich verheißt die Ernennung des neuen Verteidigungsministers José Múcio Monteiro, der anscheinend ein gutes und ehrerbietiges Verhältnis zum Militär anstrebt, nichts Gutes. Nach allem, was geschah, ist er als Minister problematisch.

Brasilien zahlt einen hohen Preis dafür, die Verbrechen und die Gewalttäter der Militärdiktatur (1964-1985) nicht bestraft zu haben, Verbrechen, von denen einige bisher nicht verjährt sind. So wurde es dem ehemaligen Präsidenten Bolsonaro ermöglicht, die Diktatur zu loben, militärische Folterer zu ehren und Militärangehörige, von denen einige in die Diktatur tief involviert waren, in wichtige Positionen der zivil-demokratischen Regierung zu holen. Nur so lässt sich verstehen, dass heute von der Gefahr eines Militärputsches in Brasilien die Rede ist, nicht aber in Chile oder Argentinien. In diesen beiden Ländern kamen die Verantwortlichen für die Verbrechen der Militärdiktaturen bekanntlich vor Gericht und wurden bestraft.

5. Neben nationalen Unterstützern sind ausländische Verbündete von entscheidender Bedeutung. Es ist tragisch, dass in Lateinamerika seit jeher die USA Verbündete von Diktatoren waren, bis hin zu Anstiftern von Putschen gegen die Demokratie.

Diesmal allerdings standen die USA aufseiten der Demokratie, und im Falle Brasilien war das der entscheidende Unterschied. Ich bin überzeugt, dass wir einen Putsch gehabt hätten, wenn die USA die üblichen Zeichen der Ermutigung für Möchtegern-Diktatoren gesetzt hätten. Was angesichts von über hundert Jahren einschlägiger US-Politik aber keineswegs plötzliche Einsicht in die internationale Verteidigung von Demokratie ist ‒ die US-Position war ausschließlich innenpolitisch bestimmt. Die Unterstützung des rechtsextremen Bolsonarismus in Brasilien hätte die rechtsextreme Trump-Partei in den USA gestärkt, die nach wie vor glaubt, die Wahl von Joe Biden sei das Ergebnis von Wahlbetrug gewesen und Donald Trump sei eigentlich nächster US-Präsident.

Ich sehe voraus, dass die Existenz einer starken extremen Rechten in Brasilien für die Pläne der Rechten in den USA und die Wahlen 2024 wichtig wird. Ziel ist es, eine Situation von Unregierbarkeit zu schaffen, welche Präsident Lula da Silva das Regieren in den kommenden Jahren so schwer macht wie möglich. Damit dies nicht geschieht, müssen die Putschisten und Plünderer hart bestraft werden. Und nicht nur sie, auch diejenigen, die sie bestellt und finanziert haben.

6. Für die Dauerhaftigkeit einer rechtsextremen Bewegung braucht man eine soziale Basis, man braucht Geldgeber, Organisatoren sowie eine Ideologie, die stark genug ist, eine parallele Wirklichkeit zu schaffen. Im Falle Brasilien ist die soziale Basis breit gefächert, da die brasilianische Demokratie ausgrenzt und weil große Teile der Gesellschaft sich von den demokratischen Politikern im Stich gelassen fühlen.

Brasilien ist eine Gesellschaft großer sozioökonomischer Ungleichheit, was durch rassistische und sexuelle Diskriminierung noch verschärft wird. Das demokratische System potenziert all das bis zu dem Punkt, wo der brasilianische Kongress eine Karikatur statt zuverlässiges Abbild des brasilianischen Volkes ist, ohne tiefgreifende politische Reform wird es langfristig nicht funktionieren. Ein weites Feld also für die extreme Rechte zum Rekrutieren und zum Mobilisieren. Die allermeisten, die dort mitmachen, sind natürlich keine Faschisten. Sie wollen einfach in Würde leben und glauben nicht mehr daran, dass das in einer Demokratie noch möglich ist.

Im Falle Brasilien scheinen die Organisatoren und Geldgeber vom unteren Industriekapital, dem Agrar-, Rüstungs- und Dienstleistungsbereich zu kommen, sie waren von der Bolsonaro-(Miss-)Wirtschaft begünstigt oder hatten sich mit deren Ideologie stark identifiziert. Was die Ideologie anbelangt, so scheinen es drei Hauptpfeiler zu sein:

An erster Stelle die Wiederbenutzung der alten faschistischen Ideologie, das heißt das reaktionäre Verständnis der Begriffe Gott, Heimat und Familie, zu denen sie nun die Freiheit hinzufügen. Vor allem geht es um den bedingungslosen Schutz des Privateigentums und zwar mit dem Ziel (1) in öffentliches oder gemeinschaftliches Eigentum (indigene Gebiete) einzudringen und es zu besetzen, (2) das Eigentum wirksam zu verteidigen, was mit der Bewaffnung der Eigentümer verbunden ist, (3) die Legitimität zu bekommen, jedwede Umweltpolitik abzulehnen und (4) reproduktive Rechte und Sexualität abzulehnen, insbesondere das Recht auf Abtreibung und die Rechte des LGBTIQ+-Teils der Bevölkerung.

Zweitens verlangt diese Ideologie, sich Feinde zu schaffen und sie zu vernichten. Die Feinde haben unterschiedliche Gesichter, aber das allgemeinste (und am meisten abstrakte) Bild ist der Kommunismus. Vierzig Jahre nachdem zumindest in der westlichen Welt Regierungen und Parteien verschwunden sind, die kommunistische Gesellschaften einrichten wollen, ist dies in Brasilien paradoxerweise das abstrakteste und gleichsam das wirkmächtigste Gespenst.

Um dies zu verstehen, muss man die dritte Säule der rechtsextremen Ideologie in den Blick nehmen: unaufhörliches und unterschwelliges Einflößen einer parallelen Realität ins soziale Gefüge, die immun ist gegen die "reale Realität". Betrieben wird das von den sozialen Netzwerken und den reaktionären Religionen (pfingstkirchliche/evangelikale Kirchen und Anti-Papst-Franziskus-Katholiken), die mit Leichtigkeit Verbindungen zwischen Kommunismus und Abtreibung herstellen und wehrlose Bevölkerungen in abgrundtiefe Angst versetzen. Was noch dadurch erleichtert wird, dass Hoffnungen auf ein würdiges Leben längst verloren gingen.

Der Putschversuch in Brasilien ist ein Alarmsignal. Die Demokraten in Brasilien, die lateinamerikanischen, nordamerikanischen und letztlich alle Demokraten weltweit müssen diese Warnung sehr ernst nehmen. Wenn sie das nicht tun, werden die Faschisten morgen nicht nur an die Tür klopfen, sie werden sie kurzerhand einschlagen, um hineinzukommen.

Boaventura de Sousa Santos aus Brasilien ist emeritierter Direktor des Zentrums für Sozialstudien an der Universität Coimbra und Leiter der Ständigen Beobachtungsstelle für Justiz