Ein verzweifelter Schrei nach Veränderung: Argentinien, ein Land am Rande des Abgrunds

Javier Milei kanalisiert mit ultrarechten Botschaften die Müdigkeit und Frustration in der Bevölkerung angesichts des Desasters, dem sich das Land gegenübersieht

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"Ein anderes Argentinien ist möglich": Milei nach seinem Triumph bei den PASO-Wahlen
"Ein anderes Argentinien ist möglich": Milei nach seinem Triumph bei den PASO-Wahlen

Seit den Vorwahlen vom 13. August mit dem Erfolg des Ultrarechten Javier Milei, durchlebt Argentinien Wochen der Unsicherheit: Die Verdrossenheit der Wählerschaft mit den Politikern scheint das Land an den Rand des Abgrunds zu bringen. Am 22. Oktober wird man wissen, ob es einen Schritt nach vorn gibt oder nicht. Es gab keinen sozialen Aufstand. Einen verzweifelten Schrei nach Veränderung, das ja, aber nicht mehr.

Mileis erste Erklärungen nach seinem Sieg in den Vorwahlen, in denen er hervorhob, dass seine "größten Vorbilder" die USA und Israel sind, rüttelten viele wach. Er bekräftigte, dass es nicht der Plan sei, die Beziehungen mit Kommunisten zu fördern: "Weder mit Kuba, noch mit Venezuela, noch mit Nordkorea, noch mit Nicaragua, noch mit China", versicherte der Bewerber um das Präsidentenamt. "Wir paktieren weder mit Kommunisten, noch akzeptieren wir Verhandlungen oder Geschäfte mit Kommunisten."

Er bekräftigte, dass er – sobald er Präsident ist – die Beziehungen mit Brasilien und China abbrechen werde. "In China sind die Menschen nicht frei, sie können nicht machen, was sie wollen. Und wenn sie es tun, dann bringen sie sie um", behauptete er. China ist der wichtigste Handelspartner Argentiniens, noch vor den USA und Brasilien. Im Jahr 2022 erreichten die Importe aus China einen Rekordwert von 17,5 Milliarden US-Dollar, die Exporte 7,9 Milliarden Dollar.

Und zur Überraschung der Uruguayer, Brasilianer und Paraguayer sagte er, dass "der Mercosur beseitigt werden muss, denn er ist eine fehlerhafte Zollunion, die den guten Argentiniern schadet".

Milei und Black Rock

Milei kanalisiert mit ultrarechten Botschaften die Müdigkeit und Frustration angesichts des Desasters, dem sich das Land gegenübersieht. Die gleiche Tendenz zeigt sich in zahlreichen Ländern, aber Milei ist unberechenbarer. Er wurde von den Medien fabriziert und kam völlig überraschend in die Politik. Er stützt sich weder auf eine traditionelle Partei wie Donald Trump, noch auf eine ideologisch-soziale Basis wie [Chiles José] Kast oder eine evangelikal-militärische wie [Brasiliens Jair] Bolsonaro. Diese Singularität kann ihn entweder schwächen oder nach vorne katapultieren, sagt Claudio Katz1.

Er fährt einen ultra-reaktionären Diskurs, fesselte aber seine Gefolgsleute mit Gesten und verbalen Ausbrüchen. Selbst viele seiner Wähler befürworteten in Umfragen die öffentliche Bildung und lehnten etwa die von ihm vorgeschlagene Privatisierung der Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas ab. Er hat bei ihnen die Illusion erzeugt, mit der abenteuerlichen Dollarisierung hohe Einkommen erzielen zu können, ergänzt der Ökonom.

Milei verteidigt die globale Institutionalität des Finanzkapitals, vor allem, wenn es um eine Operation wie die Finanzierung der gegen Argentinien gerichteten Kapitalflucht geht. Wenn Adam Smith und Karl Marx die Politische Ökonomie in den Stand einer Wissenschaft erhoben haben, so verwandelt Milei sie in Mystizismus und Religion und will die Zentralbank "auflösen" und die Verwendung von Bankeinlagen für die Kreditvergabe verbieten.

Ein Währungssystem ohne Garantien und ohne Überwachung durch die Zentralbank würde das Agieren internationaler Fonds verstärken, die das Bankensystem in den USA im Jahr 2000 fast zum Zusammenbruch gebracht und sich nach der großen Krise von 2008 breit gemacht haben. "Die Freiheit schreitet voran" lautet der Schlachtruf von Black Rock, Templeton und anderen Investmentfonds, die Argentinien unter der Regierung von Mauricio Macri ausgesaugt haben.

Black Rock – und Ähnliche – haben kräftig von den privaten Rentenfonds profitiert, die in Argentinien angesichts der Misere in der Altersvorsorge erneut als Ergänzung oder Alternative zu dieser präsentiert werden.

Die andere Säule in der Politik von Milei ist eine Arbeitsmarktreform, die darauf gerichtet ist, die Werktätigen in eine Legion von Beitragszahlern in das Monotributo-Steuerzahlungssystem2 zu verwandeln – selbstverständlich ohne Sozialleistungen zu erhalten.

Auch Black Rock ist einer von den Investmentfonds, die Gläubiger von Argentinien sind. Sein Vorstandsvorsitzender Larry Fink stand Ex-Präsident Mauricio Macri nahe, in dessen Regierungszeit er Milliarden Dollar investierte. In Argentinien sind diese Broker nicht verpflichtet, ihre Beteiligungen offenzulegen. Tatsächlich musste die Regierung die internationale Firma Morrow Sodali unter Vertrag nehmen, um herauszufinden, wer die wesentlichen Hauptgläubiger der argentinischen Schuldentitel sind.

Nach einer von Bloomberg veröffentlichten Liste hält Black Rock mehr als 1,6 Milliarden Dollar in Form von zwanzig verschiedenen Schuldverschreibungen. Andere Quellen sprechen von über zwei Milliarden. Und noch etwas ist interessant: Der Chef von Black Rock wurde auserkoren, die Operationen mit staatlichen Schuldtiteln und privaten Obligationen der Federal Reserve der USA (US-amerikanisches Zentralbanksystem) zu verwalten. Das ist ein Markt von 20 Billionen Dollar.

Mit ihrem Geschwätz geben Milei und seine "Anarchokapitalisten" vor, sie könnten die schwere kapitalistische Krise ignorieren; jene Krise, die die Zentralbanken niemals verhindern können, die aber erst dann zur Rettung des Kapitals ausrücken, wenn die Bombe schon geplatzt ist. Milei wies auch die "Stigmatisierung" der Steuerparadiese zurück, von wo aus dieselben internationalen Fonds und Steuerflüchtlinge operieren, die Argentinien während der Macri-Regierung ausgesaugt haben.

Seine Pläne

Im Interview mit der Finanzagentur Bloomberg kritisierte Milei China und die linksgerichteten lateinamerikanischen Staatsoberhäupter, die er für "Sozialisten" hält. Er sagte, dass er versuchen würde, den Gemeinsamen Markt des Südens (Mercado Común del Sur, Mercosur) zu verlassen und dass er schnell handeln würde, um die Rohstoffmärkte zu deregulieren.

Ebenso verpflichtete er sich, die Zentralbank zu schließen – "sie hat keine Daseinsberechtigung" , sagte er – und die Wirtschaft Argentiniens mit einem Umfang von 640 Milliarden Dollar zu dollarisieren. Er fügte hinzu, dass er – wenn er die Abstimmung im Oktober gewinnt – alles ihm Mögliche unternehmen werde, um einen Zahlungsausfall bei den Staatsschulden zu vermeiden und dass seine kühne Haushaltsanpassung die Reputation und die Kreditwürdigkeit Argentiniens verbessern und damit die Erklärung der Zahlungsunfähigkeit des Landes unnötig würde. Seine Pläne beinhalten die Kürzung der Ausgaben um mindestens 13 Prozent des Bruttoinlandsproduktes bis Mitte 2025, wobei die öffentlichen Arbeiten, die Zahl der Ministerien, die Subventionen ebenso drastisch reduziert werden sollen wie die Kapitalbeschränkungen, sodass Unternehmen Transaktionen direkt in US-Dollar abwickeln können.

Er versprach auch, schnell mit den Politiken Schluss zu machen, die in diesem Jahrhundert die Landwirtschaftsinvestitionen gebremst hätten; er würde die Wechselkurse vereinheitlichen, die Exportsteuern und -quoten abschaffen und die direkte Einmischung des Staates in die Preisgestaltung bei Lebensmitteln beenden.

Milei führte seinen Plan der Abschaffung des argentinischen Peso und seiner Ersetzung durch den US-Dollar als Form der Senkung der Inflation aus und erneuerte seine Kritik an der Zentralbank, "dem schlimmsten Dreck, der in diesem Lande existiert". Er plant, die Schlüssel der Zentralbank an den Ökonomen Emilio Ocampo, seinen informellen Berater beim Programm der Dollarisierung, zu übergeben, damit er die Bank schließen kann.

Er sagte, dass er schon einen Plan für die Dollarisierung des Landes nach dem Modell El Salvadors entwickelt habe. Sobald zwei Drittel der monetären Basis konvertiert seien, wäre die Wirtschaft vollkommen dollarisiert, bekräftigte er. "Niemand will in Argentinien Pesos haben, wir reden hier nicht von Wasser inmitten der Wüste. Wir reden von etwas, das niemand will", sagte Milei.

Eine der Hauptbefürchtungen der Märkte ist, dass es Milei nicht gelingen könnte, die entsprechende Unterstützung für seine Pläne zu gewinnen. Er sagte, dass er Referenden ansetzen würde, wenn er keinen Konsens im Parlament für die Annahme seiner Maßnahmen erreicht.

Während der noch regierende Peronismus sich im Stillen berät und die traditionelle Rechte ihr Drehbuch umschreibt, haben die wichtigsten argentinischen Fernsehkanäle Milei in diesen Tagen empfangen, als wäre er bereits der gewählte Präsident. "Ich schließe nicht aus, vorzeitig das Amt zu übernehmen", prahlte er in einem Interview.

In einem anderen Interview erzählte er, dass er schon vom Internationalen Währungsfonds kontaktiert worden sei und eine Zusammenkunft plane. Und er schloss ein Zusammengehen mit Patricia Bullrich aus. "Sie ist nicht einmal meine zweite Wahl", sagte er. Ein Drittel derjenigen, die ihn gewählt haben, feiern jede seiner Dreistigkeiten: "Unsere Rechte stehen auf dem Spiel", "Es geht darum, alles zu verändern – jetzt oder nie", sprechen sie nach.

Die Vorwahlen

Milei und Juntos por el Cambio (JxC) vereinigten 60 Prozent der Stimmen auf sich, indem sie zum "Wandel" aufriefen. Fast 48 Prozent (Milei plus Patricia Bullrich) votierten für einen Wandel des "alles oder nichts".

Die PASO – nach der spanischen Abkürzung für Primarias, Abiertas, Simultáneas y Obligatorias, freie, offene, gleichzeitige und obligatorische Vorwahlen – hinterließen neben vielen Fragen auch eine Gewissheit: Im Land ging eine Epoche zu Ende, und die PASO waren die Gelegenheit, damit sich das tiefe Unwohlsein, das sich in der Gesellschaft angestaut hat, mit all seiner zersetzenden Kraft ausdrückt.

Es gab Verlierer: das Regierungsbündnis und die neoliberale Opposition. Unerwartet war der Sieg eines vermeintlichen Außenseiters in der Politik, aber nicht so sehr für die Medien des Establishments, bei denen er seit mindestens zwei Jahren eifriger Gast ist. Er ist dafür zuständig, mit seinen Beschimpfungen und seinem theatralischen Getue das gesamte politische Spektrum Argentiniens nach rechts zu ziehen. Darauf weist Atilio Borón hin3.

Das Verwunderliche ist, dass Einige denken, es sei eine Überraschung gewesen. Und für sie hatte Rubén Blades Recht, als er sang: "Das Leben bringt dir Überraschungen, Überraschungen bringt dir das Leben". Der immergültige Antonio Gramci sagte: "Die Krise besteht genau darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann; in diesem Zwischenreich tritt eine Vielzahl von morbiden Symptomen auf."

Die "Wahl-Apathie" ist allgemein hoch, und dies ist ein Phänomen, das sich sicher auch wieder bei den allgemeinen Wahlen am 22. Oktober breit machen wird. Für die popularen und progressiven Kräfte waren diese Vorwahlen zweifellos ein sehr harter Schlag, bei dem die Ultrarechte ihr Wählerpotential bei den Jugendlichen, bei den verarmten und enttäuschten Schichten ausgeschöpft hat: Sie hat es geschafft, die Wut auf die bestehende Ordnung zu repräsentieren.

Wahr ist, dass fast ein Drittel der 35 Millionen wahlberechtigten Bürger nicht zur Wahl gegangen sind und weitere 30 Prozent sich für einen "libertären" Kandidaten entschieden haben, der eine harte Haushaltsanpassung und die Privatisierung des Bildungs- und des Gesundheitswesens, die Dollarisierung der Wirtschaft, die Liberalisierung des Organhandels, die Beendigung der Sozialprogramme, die Reduzierung der Löhne und die Schließung der Zentralbank versprach. Außerdem widersetzt er sich der Sexualerziehung und der Abtreibung, er negiert den Klimawandel und setzt darauf, das Problem der Unsicherheit mit dem freien Tragen von Waffen zu lösen.

Diese Situation ist neu. In den vergangenen 20 Jahren lebte die Bevölkerung gespalten durch den Riss zwischen der Peronistin Cristina Fernández de Kirchner und dem Neoliberalen Mauricio Macri – und mit dem Aufkommen einer Ultrarechten, die die Verdrossenheit der Wähler mit der Politik bündelte und die Politik jetzt an den Abgrund gebracht hat. Das Zweiparteiensystem der letzten 40 Jahre ist geschwächt und eine neue ultraliberale Kraft ist entstanden.

Der Peronismus gründet sich neu oder er wird verschwinden, aufgelöst in der "intensiven fortschrittlichen Minderheit" oder mit dem Überwechseln von Anführern zu Juntos por el Cambio, wo sie sich wohlfühlen können. Die Aufgabe wird sein, die programmatischen Grundlagen des Peronismus zu überprüfen, einen neuen Entwicklungsplan auszuarbeiten, die Führungspersonen loszuwerden, die der Ballast dieser Wahlen waren und wieder die Liebe des Volkes zu gewinnen, so wie es Juan Domingo Perón 1945 getan hat. Aber heute es gibt weder Perón noch das werktätige Volk.

Das mit dem peronistischen Regierungsbündnis war dramatisch: es sackte ab von 12,2 Millionen Stimmen 2019 (47,79 Prozent) auf 7.058.830 Stimmen (32,43) im Jahr 2021, um jetzt den Tiefpunkt zu erreichen mit weniger als sechseinhalb Millionen Anhängern (27,27 Prozent); ein Absturz um fast die Hälfte der Wählerstimmen in nur vier Jahren. Und – umso schlimmer – als regierende Kraft.

Ohne Zweifel durchlebt der Peronismus die schlimmste Krise seiner Geschichte: San Luis, San Juan, Chubut und Santa Cruz gingen verloren, und möglicherweise auch Santa Fé, Entre Ríos, Chaco und Buenos Aires. Mit diesen Zahlen scheint die Spaltung der Opposition und nicht die eigene Politik und der Rückhalt in der Wählerschaft die einzig reale Garantie für einen Wahlsieg des Regierungsbündnisses zu sein.

Aber das plötzliche Eindringen der Milei-Partei La Libertad Avanza machte auch die traditionelle oppositionelle Koalition Juntos por el Cambio zum Fall für die Intensivmedizin. Obwohl sie den zweiten Platz erreichte, ist ihr Platz bei einer eventuellen Stichwahl im November weiterhin bedroht. Innerhalb von JxC gab es Sieger und Verlierer. Zu den Gewinnern zählte Ex-Präsident Macri, der es schaffte, dass sein Cousin in der Hauptstadt siegte und dass die ihm am nächsten stehende Kandidatin Patricia Bullrich die internen Wahlen um die Präsidentschaftskandidatur gewonnen hat.

Der Sieg von Bullrich gegen ihren Kontrahenten Horacio Rodríguez Larreta machte sie zu einer der einflussreichsten Figuren auf der künftigen politischen Bühne – aber ohne sich den Weg zur Präsidentschaft geebnet zu haben: sie könnte als eine Verbündete von Milei bei der Zerstörung dessen enden, was noch von der peronistischen Regierung übrig geblieben ist. Rodríguez Larreta, den die Mehrzahl der Analysten als fast sicheren nächsten Präsidenten ansahen, erhielt nur elf Prozent der Stimmen.

Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador meinte zu den Geschehnissen: "Die Krise hilft der Rechten, das ist in etwa das, was in Argentinien passiert. Hitler konsolidierte sich nach der durchgemachten Inflation. Ich vergleiche Milei nicht mit Hitler, das ist ein historischer Bezug", sagte er. Die Antwort darauf kam von der argentinischen Schauspielerin, Ex-Model, Moderatorin, und Unternehmerin Susana Giménez: "López Obrador ist ein Scheiß-Linker." Obwohl sie den Tweet löschte, griffen Nutzer der Plattform ihre "Analyse" auf und teilten sie in sozialen Netzwerken.

Eine der Befürchtungen des politischen Systems in Argentinien war die Zersplitterung und deshalb wurde versucht, mehr Stabilität zu schaffen durch die Konzentration des politischen Angebotes auf einige wenige Optionen. Man erfand die PASO, welche die Wählerschaft in Käfige einpferchen, aus denen sie im Vorfeld der nationalen Wahlen nicht mehr entfliehen können.

Den argentinischen Politikern bleibt die Option, den Schrei des Volkes nach Veränderung in ihrem Versuch, die Schäden zu kontrollieren oder zu begrenzen, zum Schweigen zu bringen oder – ein für allemal – zu versuchen, die Botschaft zu verstehen, die sie in Angst und Schrecken versetzt. Es herrscht Panik: Viele sehen, dass ihre persönlichen Interessen ins Taumeln geraten. Stimmt es also, dass – wie es heißt – das Volk sich niemals irrt?

Wir können von Apathie, von Desinteresse sprechen, aber die Abneigung der Bevölkerung geht weit über Unzufriedenheit hinaus; sie geht weit hinaus über das die Regierung abstrafende Wählervotum oder das Votum aus Wut gegen Alle und gegen das System. Wenn die Politiker wieder einmal von der Verteidigung der Demokratie reden, glauben sie, dass diese sich auf die staatsbürgerliche Aktion der Stimmabgabe beschränkt, damit sie weiter an der Macht bleiben können.

Wie kann man es sich erklären, dass in nur zwei Jahren die libertäre, ultrarechte Kraft zur meist Gewählten wird? Das Establishment kann das nicht erklären, denn es handelt sich um einen Diskurs, der eine andere Zukunft verspricht und in der Lage ist, Illusionen zu erzeugen in einem Land, wo mehr als 40 Prozent der Bevölkerung Hunger leidet.

Einige reden von der Leistung der Regierung von Alberto Fernández und Sergio Massa, es geschafft zu haben, den Peronismus zu töten, der noch vor vier Jahren die Hälfte der Stimmen gewann und heute nur noch auf 20 Prozent kommt. Seit 1945, als der Peronismus entstand, war er niemals nur Dritter bei einer Wahl. Auf jeden Fall ist seine Niederlage unbestritten. Die Rechte jubelt: Danke Alberto, danke Massa für die geleisteten Dienste !

Angesichts der Krise der Repräsentation und des negativen Images der Kandidaten, die in den letzten zwölf Jahren an der Regierung waren, konnten die drei Haupt-Mandatsträger und politischen Persönlichkeiten nicht zu den Wahlen antreten. Cristina Fernández de Kirchner, Mauricio Macri und Alberto Fernández stiegen aus dem Wettbewerb aus. Erstere bedrängt von Lawfare und betroffen von einem Attentatsversuch; Macri schlug seinen internen Rivalen und rettete die Regierung der Hauptstadt. Die Gegenwart von Alberto Fernández ist nicht vielversprechend, und über seine Zukunft spekuliert man besser nicht.

Wenn auch für JxC ihr nationales Wähleraufkommen zurückging, so bekam man doch mit einer bedeutenden Stimmenzahl die Provinzen, die vorher von der Unión Civica Radical verwaltet wurden (Corientes, Jujuy und Mendoza) und die von der PRO Macris regierte Ciudad Autónoma de Buenos Aires. Außerdem kamen noch einige Provinzen mehr hinzu, ein Umstand, der die Bedeutung dieser Kraft in den kommenden Jahren noch verstärken wird.

Nicht mehr lang bis zur Wahl

Argentinien ist eine von der Wirtschaftskrise und der Pandemie geschlagene, zersplitterte Gesellschaft, die sowohl ihren Zorn zum Ausdruck bringt als auch den Wunsch nach einem wirklichen, tiefgreifenden Neustart, einem notwendigen Schock, wie José Natanson4 betont.

Währenddessen ist die einzige Gewissheit die, dass die Argentinier einen Tag nach dem PASO-Wahlsonntag alle ein bisschen ärmer geworden sind: Die Zentralbank wertete den Peso am Montag um 18,3 Prozent ab, der Parallel-Dollar stieg auf 800 Pesos im Vergleich zum Offiziellen mit 350 Pesos und der Index der Verbraucherpreise kletterte um weitere sechs Prozent auf eine jährliche Inflationsrate von 113 Prozent. Die Präsidentschaftswahlen sind am 22. Oktober.

Das soziale Drama der strukturellen Armut, das zu Marginalisierung, zu Gewalt und zum Nährboden für die Entwicklung des Drogenhandels geworden ist, verlangt nach neuen und energischen Aktionen. Zweifellos ist die Tendenz, die einen Rückgang in der Wahlbeteiligung und das Ansteigen der Zahl ungültiger Stimmen zeigt, eine vorhersehbare Folge der allgemeinen Unzufriedenheit wegen der wirtschaftlichen Probleme und des Unbehagens aufgrund anderer im letzten Jahrzehnt nicht erfüllter Forderungen. Das sind einige der Gründe für diese Wahlmüdigkeit. Die Abgabe eines leeren Stimmzettels war die viert-meist gewählte Option.

Alejandro Kaufman5 sagt, dass sich eine Option als magische Lösung anbietet, um Unzufriedenheit und die Ablehnung von Unmoral und Ungerechtigkeit auszudrücken und als Anti-Panik-Knopf dient: Das ist das Votum für Milei, ein Anti-Panik-Knopf, ein Köder, der eine tödliche Falle öffnet, für den Wähler aber als rettender Ausweg erscheint.

Für die popularen und progressiven Kräfte ist diese Wahl ein sehr harter Schlag gewesen. Es bestätigten sich die schlimmsten Befürchtungen: die Ultrarechte kann ihr Potential an jungen Wählern, auch unter den verarmten Sektoren und selbst in den peripheren Gebieten ausschöpfen, weil sie es schafft, die Rebellion gegen die in jeder Hinsicht ungerechte existierende Ordnung zu repräsentieren.

Dieses Mal gehen sie aufs Ganze und werden versuchen, den Mercosur, kollektive Abkommen und Entschädigungszahlungen abzuschaffen, sie bieten den Militärs Begnadigungen an und sie sind für die Abschaffung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch.

Es gibt etwas, das (mich) noch mehr beunruhigt: Ist es überhaupt möglich, die Pläne von Milei und der Ultrarechten ohne starke Repression, ohne die Anwendung von Gewalt, ohne die Militärs durchzusetzen?

Vielleicht steht das nicht in ihren Drehbüchern, aber sie werden mit gesellschaftlichem Widerstand rechnen müssen.

  • 1. Claudio Katz ist ein marxistischer Ökonom, Dozent und Autor aus Argentinien
  • 2. Der Monotributo ist ein vereinfachtes Steuersystem. Es vereint den Steueranteil (Mehrwertsteuer und Einkommensteuer) und den Sozialversicherungsanteil (Rentenbeiträge und Sozialversicherung) in einer einzigen monatlichen Zahlung.
  • 3. Atilio Borón aus Argentinien ist ein marxistischer Soziologe.
  • 4. José Natanson ist ein argentinischer Journalist, Politikwissenschaftler und Schriftsteller mit Schwerpunkt auf lateinamerikanischer Politik
  • 5. Alejandro Kaufmann ist ein argentinischer Universitätsprofessor, Kulturkritiker und Essayist.