Chile / Politik / Soziales

Ein neues Gesundheitssystem in Chile

Regierung will allgemein zugängliches Gesundheitssystem schaffen, in dem private und öffentliche Akteure gemeinsam arbeiten. Ministerium setzt bislang auf Strukturwandel ohne Gesetzesreformen

_prc5754_1.jpg

Die Gesundheitsministerin links neben Präsident Gabriel Boric bei der Vorstellung der Gesundheitsreform vor den Vereinten Nationen (September 2023)
Die Gesundheitsministerin links neben Präsident Gabriel Boric bei der Vorstellung der Gesundheitsreform vor den Vereinten Nationen (September 2023)

Santiago. Seit knapp einem halben Jahr läuft in Chile die Umsetzung einer tiefgreifenden Gesundheitsreform, die ein universell zugängliches Gesundheitssystem schaffen soll. Die Regierung erwartet, im November 2023 die ersten Reformen per Gesetz zu verankern. Doch vieles bleibt derzeit weiterhin unklar.

Im April 2023 stellte Gesundheitsministerin Ximena Aguilera in der Gemeinde Renca in Santiago den ersten Schritt der Reform vor. In sieben Gemeinden soll der Zugang zu den öffentlichen Gesundheitszentren für alle Bürger:innen der Gemeinde geöffnet werden. Bisher galt dies nur für Personen, die in der öffentlichen Krankenkasse Fonasa eingeschrieben waren. Krankenhäuser und spezialisierte Einrichtungen werden weiterhin nur für Mitglieder von Fonasa zugänglich sein.

Der Wandel, finanziert mit einem Kredit der Weltbank, sei das "Herz der Gesundheitsreform", die aktuell von der Regierung von Präsident Gabriel Boric geplant wird. Sie ist neben der Steuer- und Rentenreform eine von drei grundlegenden Strukturänderungen, die von der aktuellen Regierung angestrebt werden, so Ministerin Aguilera gegenüber amerika21.

"Wir wollen ein Gesundheitssystem schaffen, in dem private und öffentliche Akteure gemeinsam arbeiten", sagte sie. "Wenn es nach unseren Wünschen geht, soll es dafür eine öffentliche Krankenkasse geben, in die alle einzahlen und zusätzlich private Zusatzversicherungen engagieren können."

Diese Strukturreform sei nötig, da in Chile bislang zwei fast völlig voneinander getrennte Gesundheitssysteme existieren. Ein öffentliches, dass derzeit um die 80 Prozent der Bevölkerung behandelt, und ein privates, dass nach marktliberalen Regeln funktioniert. Zusätzlich haben die Streitkräfte eigene Krankenkassen und Spitäler. Trotz dieser ungleichen Verteilung der Last, arbeiten etwa die Hälfte aller Ärzt:innen im privaten Sektor, bei Spezialist:innen steigt der Anteil weiter.

"Ein universell zugängliches Gesundheitssystem bedeutet mehr Demokratie und soziale Integration", erklärte Bernardo Martorell gegenüber amerika21. Es sei die konkrete Umsetzung von Maßnahmen gegen die soziale Ungleichheit im Land. Martorell ist verantwortlich für die Umsetzung der Reform von Seiten des Gesundheitsministeriums.

Bislang setzte das Ministerium in diesem Bereich auf Strukturwandel ohne Gesetzesreformen. "Wir weisen die Verbesserungen nach und verankern das neue System später durch Gesetze", so Martorell. Dazu gehörte bislang die Abschaffung des Selbstbehalts bei Behandlungen im öffentlichen Gesundheitssystem und das Pilotprojekt zur allgemeinen Öffnung der Gesundheitszentren.

Nun bahnt sich allerdings ein erstes Gesetzesprojekt an. Innerhalb eines Notgesetzes zur vorübergehenden Rettung des kriselnden privaten Gesundheitssektors soll der öffentlichen Krankenkasse Fonasa erstmals das Recht gegeben werden, zusammen mit privaten Anbietern Zusatzversicherungen anzubieten. Es wäre ein erster Schritt in Richtung der angestrebten Reform.

Grund für das Notgesetz ist ein Kollaps der privaten Krankenkassen. Das während der Diktatur entwickelte System setzte bislang fast selbstständig die Beiträge fest und erhöhte diese je nach Alter und Geschlecht. Frauen im gebährfähigen Alter zahlen etwa deutlich mehr als gleichaltrige Männer. Das oberste Gericht urteilte zuletzt im Jahr 2022, dass diese Praxis illegal ist und machte den Weg frei für Rückzahlungen in Millionenhöhe. Zusätzlich verursachte die Pandemie so hohe Kosten, dass die Kassen in den Jahren 2020 und 2021 erstmals rote Zahlen schrieben.

Seitdem befinden sich die Krankenkassen im Zahlungsstau. "Schon heute müssen viele Privatversicherte ihre Kosten vorerst selbst tragen und eine Rückzahlung bei den Kassen beantragen", erläutert Cristián Rebolledo, Gesundheitsexperte von der Universidad de Chile. Eine Systemreform sei deshalb nötig. Rebolledo meint allerdings, "viele Parlamentar:innen wünschen sich eine langfristige Rettung des privaten Gesundheitssystems".

Die Ministerin zeigt sich dagegen optimistisch. Neben der Krise der privaten Anbieter habe die Pandemie gezeigt, "dass ein universelles Gesundheitssystem möglich ist", so Aguilera. Damals wurden per Notstandsverordnung alle Gesundheitseinrichtungen dem Ministerium unterstellt. Man legte Fixpreise für medizinische Leistungen fest und wies Patient:innen weniger belasteten Krankenhäusern zu.

Wie die Reform weitergeht ist allerdings bislang unklar. Die Regierung ist im Parlament in der Minderheit, erst im März lehnte das Parlament überraschend die Diskussion über eine anstehende Steuerreform ab (amerika21 berichtete). Ein neues Gesetz zum gleichen Thema kann erst ein Jahr später präsentiert werden. Ohne Steuerreform scheint allerdings weder die Renten- noch die Gesundheitsreform finanzierbar.