Venezuela / Politik

Venezuela: Wahlsieg ist keine Atempause

Die politischen Lager müssen sich auf Gouverneurswahlen im Dezember vorbereiten. Bolivarische Bewegung analysiert die Wahlergebnisse

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Danny Glover und Hugo Chávez am 7. Oktober im Wahllokal im 23 de Enero. Links von Glover eine weitere Teilnehmerin der internationalen Wahlbeobachtergruppe: Lucía Topolansky aus Uruguay, ehemalige Tupamara, heute Senatorin und Ehefrau von Päsident José Mujica
Danny Glover und Hugo Chávez am 7. Oktober im Wahllokal im 23 de Enero. Links von Glover eine weitere Teilnehmerin der internationalen Wahlbeobachtergruppe: Lucía Topolansky aus Uruguay, ehemalige Tupamara, heute Senatorin und Ehefrau von Päsident José Mujica

Caracas. Der US-amerikanische Filmschauspieler Danny Glover, der im Wahllokal im Viertel 23 de Enero anwesend war, als Chávez dort seinen Stimmzettel in die Urne warf, drückte vor den Anwesenden seine Überraschung aus, dass in Venezuela Sonntags gewählt wird. In den USA geschähe dies an Dienstagen, sodass die abhängig Beschäftigten es sich überlegen müssten, ob sie dafür ihrer Arbeit fernbleiben könnten. Glover war einer der internationalen Wahlbegleiter. Seine prominente Stimme war nur eine von vielen weiteren, die in diesen Tagen die Überheblichkeit aufs Korn nahmen, mit der in Europa und in den USA Zensuren für die demokratischen Verfahren Venezuelas verteilt werden.

In der Millionenstadt Caracas fiel der Montag den nächtlichen Feiern in der Nacht und dem Frust der Opposition nach den Präsidentschaftswahlen zum Opfer. Viele Geschäfte, vor allem auch in den reichen Vierteln, blieben geschlossen. In den Restaurants fehlte der Nachschub, sodass nur noch eine eingeschränkte Speisekarte angeboten wurde. Der Verkehr in den Straßen und im öffentlichen Personentransport war praktisch halbiert. Dies machte die Benutzung der Metro von Caracas zum Vergnügen. Modern, billig und schnell ist die einzige Unbill, dass sie meist, vor allem während der Stoßzeiten, überfüllt ist.

Die Medien befassen sich mit der Nachlese und Analysen zur Wahl. Die politischen Lager müssen Einschätzungen zu ihren erzielten Wahlergebnissen und die Konsequenzen daraus ausarbeiten.

Aber zunächst hat die an den Wahlurnen unterlegene Opposition noch mit der Aufarbeitung ihres Spiels mit einer möglichen Nichtanerkennung der Wahl zu tun, das sie während des gesamten Wahlkampfes betrieb. Der Kandidat des oppositionellen Bündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD), Henrique Capriles Radonsky, hatte noch in der Wahlnacht und wenige Minuten nach Verkündung der Ergebnisse durch die Wahlbehörde CNE, sich von der Option der Nichtanerkennung verabschiedet. Der sehr deutliche Stimmenabstand zwischen Hugo Chávez und ihm dürfte ein wichtiger Grund für die Entscheidung gewesen sein, sich als demokratische, nicht auf Destabilisierung setzende Opposition zeigen zu wollen.

Aber die wochenlange Ambivalenz bis in die politische Spitze der Opposition kann nicht ohne Folgen geblieben sein. Man kann nicht wochenlang den Verdacht eines geplanten Wahlbetrugs in die Welt setzen und Pläne für eine "schnelle Reaktion" in den Straßen vorbereiten, ohne dass danach Teile der eigenen Basis auf diesem Zug bleiben. In der Wahlnacht fuhr nach Medienberichten ein PKW im Bundesstaat Zulia offensichtlich absichtsvoll in eine Menge, die die Wiederwahl von Hugo Chávez feierte. Der Fahrer tötete vier junge Leute und verletzte weitere vier. In ihren Twitter-Accounts beschimpfen Oppositionelle die Anhänger von Chávez auf rassistische Art und geben wilde Drohungen von sich. Seit vergangener Montagnacht haben in Altamira, einem der reichsten Stadtviertel von Caracas, jugendliche Anhänger der Opposition Straßenbarrikaden errichtet und protestieren gegen einen angeblichen "Mega-Wahlbetrug". In Flugblättern wird die MUD aufgefordert, "sich nicht anzubiedern". Möglicherweise sind auch die Gerüchte vom Dienstag über eine brennende Ölrafinerie im Bundesstaat Carabobo, die von der betreffenden Anlage sofort dementiert wurde, solch ein verbliebener Selbstläufer des Szenarios für "Wahlbetrug".

Daneben stellt sich für die Opposition auch die Frage, ob ihr MUD-Bündnis und die Einigung auf den gemeinsamen Kandidaten Capriles die Wahlniederlage überstehen werden. Dabei dürfte zu Gunsten von Capriles zählen, dass die Anzahl der Wählerstimmen, die er auf sich vereinigen konnte, für die Opposition einmalig hoch gewesen ist. Andererseits wird die Opposition die Glaubwürdigkeitsprobleme, die Capriles im vergangenen Wahlkampf eher angehäuft als abgebaut hat, als Problem für seine weitere Karriere einplanen müssen. Das betrifft die Aufrichtigkeit seiner programmatischen Aussagen wie auch sein spätes sich Durchringen zu einer Vertrauensbekundung für die venezolanische Wahlbehörde CNE. Schließlich hat Capriles, nach allen Beteuerungen einer sozialen Agenda, seinen Wahlkampf mit dem Versprechen beendete, die Ansätze Venezuelas zu einer internationalen solidarischen Ökonomie zu beenden und zum ruinösen Konkurrenzmodell zurückkehren zu wollen. Dies ist konträr zur politischen Konjunktur weit über Venezuela hinaus. Die regionalen Integrationsprozesse gelten auch ökonomisch als vielversprechend.

Auf der Seite des "Chavismus" stellen sich andere Fragen. Diese befanden sich bereits weit im Vorfeld der Wahlen in der Diskussion. Das Bewusstsein über den Widerspruch von Wahlkampfmobilisierung und der Mobilisierung für den eigentlichen Prozess der Partizipation und der gesellschaftlichen Entwicklung ist in der Basis der Bolivarischen Revolution seit langem präsent.

Die Basis weiß zu feiern und tat dies in der Nacht von Sonntag auf Montag auch wieder mit Lust und Begeisterung. Trotzdem wird allgemein das Wahlergebnis kritisch gesehen. Chávez konnte die absoluten Stimmen zwar, im Vergleich zu den Ergebnissen der Präsidentschaftswahlen 2006, noch einmal erhöhen, auf über 8 Millionen. Außerdem gelang es ihm, auch in 4 der 6 von der Opposition regierten Bundesstaaten die Mehrheit der Stimmen zu gewinnen. Bedeutsam ist vor allem der Sieg in Zulia, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat. Hier wird der größte Teil des venezolanischen Erdöls gefördert. Dieser im Nordwesten des Landes an der Grenze zu Kolumbien gelegene Bundesstaat ist traditionell fest in rechter Hand gewesen. Aber im relativen Vergleich hat der Einheitskandidat der Opposition mehr Wähler dazu gewonnen. In Venezuela kommen durch die erstmalige Registrierung vieler Wahlberechtigter immer noch weitere Wähler hinzu. Außerdem lag die Wahlbeteiligung dieses mal auf einem Rekordhoch von über 80 Prozent.

Hugo Chávez selbst, der immer wieder die Personalisierung der Bolivarischen Revolution zurückweist, macht hier eine andere Rechnung auf: im Zeitraum 2010-2012 habe das linke Lager drei Millionen Stimmen dazu gewinnen können, die Opposition dagegen nur eine Million. Er bezieht sich dabei auf die Ergebnisse der Wahlen zur Nationalversammlung im September 2010 und andere Abstimmungen seitdem.

In Gesprächen mit erfahrenen, teilweise schon langjährigen Aktivisten kann man über Zusammensetzung und Veränderungen in der Wählerschaft von Chávez ein paar Anhaltspunkte finden. Schon vor der Wahl berichteten Einwohner in gut organisierten Armenvierteln, dass Nachbarn, die bisher Chávez wählten, dies diesmal nicht machen wollten. Hier wird offen gesprochen. Diese Leute interessierten sich ausschließlich für ihre individuelle Karriere oder Verbesserungen der persönlichen Lebenssituation. Deshalb hatten sie Chávez gewählt und seien in die PSUV eingetreten. Aus Frustration würden sie jetzt auf Capriles setzen. Die Welt der informellen Ökonomie formt eine Denkweise, die einen raschen Wechsel von Loyalitäten zulässt. Ein 35-jähriger Aktivist und ehemaliges Gangmitglied, der in den vergangenen Monaten politische Bildungsarbeit innerhalb des staatlichen Wohnungsbauprogramms Misión Vivienda geleistet hat, erzählt von einer Frau, die erst jüngst nach langem Aufenthalt in einer Notunterkunft eine neue Wohnung beziehen konnte. Sie sagte ihm, sie werde aus Verärgerung darüber, dass sie die ihr von der Regierung überlassene Wohnung nicht sofort wieder weiterverkaufen darf, diesmal Capriles wählen.

Innerhalb der Arbeiterschaft, die in Venezuela zahlenmäßig aber immer noch nicht sehr groß ist, dürfte die Wählerschaft zugunsten von Chávez gewachsen sein. Die Verabschiedung neuer Arbeitsgesetze, gewisse Unterstützung für Betriebsbesetzungen von Belegschaften und stark gewachsene Bildungsmöglichkeiten für Arbeiter haben eine Dynamik in Gang gesetzt. Aus den ländlichen Gebieten mit ihren Kleinbauern bekommt Chávez stabile Stimmen. Unter mehr gebildeten Bevölkerungsschichten dürfte die Zustimmung deutlich gewachsen sein. Und das Werben von Chávez um die Stimmen von „patriotisch denkenden Privatunternehmern“ dürfte auch Erfolge zeigen, weil in einem Land des Aufbaus gute Geschäfte möglich sind. Schließlich kann man auch vermuten, dass auch manche Stimme der Hebung des internationalen Gewichts und Ansehens von Venezuela durch die Politik von Chávez zustande kommt. Die Prozesse der regionalen Integration in Südamerika gehen stark auf Impulse und die Politik von Chávez zurück.

Chávez wurde in einem Interview noch vor dem Sonntag der Abstimmung gefragt, was er als den größten Misserfolg seiner letzten Amtszeit ansehe. Darauf antwortete er: das Versagen, die Umsetzung der Programme seiner Regierung ausreichend zu kontrollieren. Daraus habe sich an vielen Stellen eine große Diskrepanz zwischen Planungen und dem ergeben, was schließlich bei der Bevölkerung an Veränderungen angekommen sei. Es dürfe auch nicht sein, so Chávez weiter, dass Verantwortliche schlechte Arbeit machten, und man sie zwei Jahre später aber an einem höheren Posten plötzlich wiederfindet. Chávez kündigte an, dass er in einer weiteren Amtszeit für diese Nachkontrolle eingeleiteter Regierungsprogramme ein eigenes Ministerium einzurichten plane.

Die „chavistische“ Basis zeigt nach dem Wahlsieg ihres Präsidenten, den man für europäische Verhältnisse in Hinsicht des Abstandes zum Konkurrenten und der allgemeinen Wahlbeteiligung „traumhaft“ nennen könnte, nicht die geringste Neigung, sich darauf auszuruhen. Die Widersprüche im Prozess der Bolivarischen Revolution sind schließlich nicht neu und die Fähigkeit zu kritischer Reflektion ist bei den Aktivisten ausgeprägt. Die Unwägbarkeiten der nächsten Jahre sind vielen bewusst. Schon im kommenden Dezember werden in ganz Venezuela Gouverneurswahlen stattfinden und die Einsetzung der Kandidaten durch die Spitze der PSUV und durch Chávez, anstelle einer Bestimmung durch die Basis, ist einer der schwelenden Widersprüche. Wieder ein Wahlkampf, der für die politischen Kräfteverhältnisse im Land wichtig ist.

Der Botschafter Venezuelas bei der OAS, Roy Chaderton Matos, übernahm es in einem Interview mit dem Programm D'Frente, das auch vom staatlichen TV-Kanal VTV ausgestrahlt wurde, den Blick einmal über die Mühen der Ebenen anzuheben. „Wir sind auf dem Weg zu unserer zweiten Unabhängigkeit“, sagte Chaderton. Die Kraft der Ideen und die Hingabe, „treiben uns im Kampf an, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, wenn man mitten in der Geschichte drin ist, ist man sich der Größe nicht bewusst“. Jedoch, so Chaderton weiter, wie Venezuela im 19. Jahrhundert der Funke für den Unabhängigkeitskampf gegen Spanien gewesen sei, „entzünden wir heute den Flächenbrand für den Kampf um soziale Gerechtigkeit und kämpfen gegen ein Imperium, das mächtiger ist als alle in der Geschichte“.