Militär und Demokratie in Lateinamerika

In den meisten Ländern der Region schwebten die Streitkräfte ständig als Damokles-Schwert über den frisch entstehenden Demokratien

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Die frühere Führungsspitze der Streitkräfte Ecuadors
Die frühere Führungsspitze der Streitkräfte Ecuadors

Einer der wichtigsten Errungenschaften der Neuen Demokratien ist der Beginn der Unterordnung der Militärmacht unter die zivile Macht.

Lediglich in Mexiko, Costa Rica, Kuba und Nikaragua ist das dank der Besonderheiten der jeweiligen Revolution geschehen.

In den anderen Ländern schwebten die Streitkräfte ständig als Damokles-Schwert über dem jugendlichen Nacken der frisch entstehenden Demokratien. Ein Damokles-Schwert, das immer wieder herabfiel und in Lateinamerika jahrzehntelang Demokratien und Menschen köpfte. Es gab klare Ausnahmen wie mit dem Oberst Caamaño in der Dominikanischen Republik, General Juán Velasco Alvarado in Peru, Juan José Torres in Bolivien, Torrijos in Panama und sogar in Chile mit Prats oder Bachelet1, die diese unterwürfige Herrschaft zu ändern suchten oder sich gegen einen Putsch stellten wie im Falle der beiden letztgenannten Chilenen, um nur einige der patriotischen Militärs zu nennen, würdige Söhne eines Túpac Amaru, eines Sucre, eines Bolívar oder eines San Martín.

25 Jahre später und mit Tausenden von Toten, Häftlingen und Gefolterten, die als tragende Säulen der schrecklichen neoliberalen Nacht fungierten, begann Oberst Hugo Chávez Frías mit den Wahlprozessen, die die Machtstrukturen revolutionierten, darunter die Macht der Streitkräfte. Danach kam Lula2 mit den ausgeprägten Widersprüchen, ohne es zu schaffen, weder die Überheblichkeit eines Militärputsches zu überwinden noch alle Archive der Diktatur zu öffnen; Kirchner3, der die Folterer ins Gefängnis brachte; Bachelet4, die zwar zaghaft, aber doch die zivile Macht in Erwartung einer verfassunggebenden Versammlung aufbaut; Evo5 ohne Zweifel und nach und nach; kürzlich El Salvador; Ecuador mit Präsident Rafael Correa. Ich nenne Namen oder Vornamen, weil dafür nicht nur die Kraft der Institutionalität der zivilen Macht ausreicht (die oftmals, viel zu oft vergewaltigt wurde), sondern der persönliche Mut der Präsidenten und Präsidentinnen.

Hier in Quito sprach sich vor wenigen Stunden das Gemeinsame Oberkommando der Streitkräfte gegen eine Verwaltungsentscheidung aus, durch die das Sozialversicherungsinstitut der Streitkräfte (ISSFA) verpflichtet wurde, durch überhöhten Preis zuviel eingenommene 41 Millionen Dollar für den Verkauf von Liegenschaften in Samanes in Guayaquil zurückzuzahlen. Ein Verkauf, der auch von den verantwortlichen zivilen Behörden wegen des ausgehandelten Preises untersucht werden musste. Der Ernst der Situation liegt nicht darin, dass sie unterschiedlicher Meinung bezüglich der Entscheidung der Exekutive sind, das Geld zurückzuzahlen, sondern dass die Militärs die Angelegenheit als ein Attentat "gegen die Institutionalität der Streitkräfte und das Recht der Offiziere und Soldaten und deren Familien" darstellten. Das heißt, eine eindeutige und offene Botschaft des Ungehorsams gegenüber der aus Wahlen hervorgegangenen zivilen Macht und gegenüber der Verfassung der Republik. Stunden zuvor und angestachelt durch Reserveoffiziere, die in rechten Parteien organisiert sind, hatten 130 Unteroffiziere und Reservisten aus Protest gegen die Entscheidung die Straße vor dem Verteidigungsministerium besetzt. Der von den Oppositionsparteien genährte Protest wurde am darauf folgenden Tag vom Gemeinsamen Oberkommando der Streitkräfte abgesegnet.

In weniger als einer Stunde setzte Präsident Correa die hohen Offiziere mit ihrer irrigen Auffassung ab und ernannte einen neuen Führungsstab.

Diese Vorfälle lassen nicht wenige Erinnerungen aufkommen. Ständig wurde eine Lüge nach der anderen Lüge verbreitet, dass den hohen Führungsoffizieren die saftigen Pensionen entzogen werden sollten, derer sie sich erfreuen konnten. Unter den Familienangehörigen und Gattinnen wurde Stimmung gemacht, die Wirtschaftskrise, an der einzig und allein die Regierung schuld sei, wurde als Argumentationskeule geschwungen. Es gibt einige, die weiterhin an der Möglichkeit eines Putsches arbeiten und ihn lauthals herbeirufen. In Brasilien, in Venezuela, in Ecuador. Schließlich eine Vorab-Erhebung und dann eine offizielle Verlautbarung in voller Uniform mit Ordens- und Ehrenspangen. Das ruft Erinnerungen an einen Tejero in Spanien vor etlichen Jahren wach.

Die in den vergangenen Jahren der neuen Demokratien errungene Institutionalität weist den Streitkräften neue und grundsätzliche Rollen zu, die sie zu spielen haben. Endlich wird die Verteidigung der Souveränität nicht nur zu einer - manchmal heldenhaften - Verteidigung der Grenzen, sondern zu einer Land und Nation umfassenden Konzeption, wo das gemeinsame Schicksal der Gesamtheit der Bürger und Bürgerinnen, der Kampf gegen Armut und die Verbesserungen im Gesundheits- und Bildungswesen für die Jungen und Mädchen des Vaterlandes auch Teil der militärischen Aufgabe ist. Der Schutz des Wassers, des Erdöls, der Artenvielfalt. An mehr Kenntnissen und an einer besseren Beherrschung des Raums, in der südlichen Region, in den Territorialgewässern zu wachsen ist Teil der Verteidigung der Souveränität. Die Fangarme der organisierten Kriminalität und der Einsatz ihrer Ressourcen zu identifizieren, mit denen unser Territorium durch Menschen- und Drogenhandel beschmutzt wird, ist Teil dieses Konzepts des Dienstes an der Nation, und so verstehen es die Militärs und Polizisten, die die nationale Souveränität verteidigen. So projiziert es auch das neue, von der UNASUR entwickelte Verteidigungskonzept. Sich mit Lügen um die Ressourcen des ISSFA Sorgen zu machen, bedeutet die Fortsetzung der Aufgabe, den ausländischen Herren der Welt zu dienen und nicht Ecuador.

Einmal mehr hat Rafael Correas Mut und Entschlossenheit den Rechtsstaat, die Verteidigung der Demokratie und der Institutionalität der Streitkräfte und der Nationalpolizei aufrechterhalten. Uns unbewaffneten Zivilisten kommt die Aufgabe zu, diesen institutionellen Vormarsch zu konsolidieren und dafür zu kämpfen, dass das auch mehrheitlich zur Auffassung der bewaffneten Organe wird. Dafür stehen die Anführer, die wussten, wann es nötig war, auf die Straße zu gehen, egal ob der Präsident anwesend war oder nicht. Und wenn es sich als nötig erweisen sollte, werden wir wieder auf die Straße gehen und unsere Brust darbieten, so wie es damals der junge Held Bolaños am berüchtigten 30. September tat. Und sie sollen wissen, dass wir dieses Mal gemeinsam mit patriotischen Militärs und Polizisten Millionen sein werden. Sie sollen wissen, dass wir tausende von anonymen Leute nicht von der Art sind, die sich verstecken, wenn der Fluss tönt, weil er Steine oder Kugeln mit sich bringt.

Fußnote: Diese "institutionellen" Experimente eines Sektors der Streitkräfte fallen mit der Ankunft des US-Botschafters zusammen. Die US-Regierung hat das Feingefühl besessen, einen Geheimdienstexperten zu schicken. Ich bin mir sicher, dass uns in Ecuador ein Fachmann in solidarischer Volkswirtschaft sehr viel mehr interessieren würde, oder in Blumen- oder Krabbenzucht oder sogar im Handel mit den USA. Aber nein, man schickt uns genau einen Geheimdienstexperten. Vielleicht wollen sie mit diesem Botschafter zu unserer Denkfabrik Yachay beitragen, vielleicht ist das der Grund, und nur meine deformierte Solidarität lässt mich etwas Schlechtes denken. Vielleicht ist das auch nur ein unglückliches Zusammentreffen. Das ist das Wahrscheinlichste.

Luis Varese kommt aus Peru, war dort aus politischen Gründen in Haft und kam auf internationalen Druck frei, musste jedoch das Land verlassen. 1987 begann er seine Arbeit für das UNHCR in Nicaragua, später in Brasilien und Ecuador. Heute arbeitet er als Journalist und Schriftsteller

  • 1. Der chilenische Luftwaffengeneral Alberto Bachelet war beim Putsch 1973 gegen Präsident Salvador Allende loyal geblieben. Er wurde von Angehörigen des Pinochet-Regimes gefangen genommen und gefoltert. Im Jahr darauf erlitt er einen tödlichen Herzinfarkt. Die amtierende Präsident Chiles, Michelle Bachelet, ist seine Tochter
  • 2. Luiz Inácio Lula da Silva war von 2003 bis 2011 Präsident Brasiliens und ist Gründungsmitglied der brasilianischen Arbeiterpartei PT
  • 3. Néstor Kirchner war von 2003 bis 2007 Präsident von Argentinien
  • 4. Michelle Bachelet, Chiles Präsidentin seit 2014. Sie war bereits von 2006 bis 2010 im Amt
  • 5. Evo Morales, Präsident von Bolivien seit 2006