Nach der Entlassung ohne jede Entschädigung besetzten 113 Arbeiterinnen die Fabrik Industrias Florenzi in Soyapango, etwa sieben Kilometer nördlich der Hauptstadt San Salvador, in der 35 Jahre lang Hygieneartikel und Designerkleidung hergestellt worden waren. Sie fordern die Bezahlung ihrer Löhne, die die Eigentümer nach der Schließung der Maquila am 8. Juli nicht bezahlen wollten, und verwandelten die Textilfabrik schließlich in ein feministisches Lernzentrum für Frauen.
Obwohl sich die komplette Einrichtung und Produktionsmittel der Maquila unter der Kontrolle der Frauen befindet, reagiert der Eigentümer nicht. Die Frauen fordern die Auszahlung von vier Monatslöhnen und eine Entschädigung für die geleisteten Arbeitsjahre und drohen, vor Gericht zu gehen und zu versuchen, die Fabrik rechtmäßig zu behalten.
Die Besitzer hatten ihnen lediglich eine der seit zehn Jahren benutzten Nähmaschinen als Ausgleich für ihre Tätigkeit angeboten. Etwa die Hälfte der Arbeiterinnen akzeptierte das Angebot, die anderen begannen zu rechnen. Und nach ihren Berechnungen schulden die Eigentümer der Firma mehr als 500.000 Dollar Lohn für die vier letzten Arbeitsmonate der Frauen. Dann besetzten sie die Maquila. Die Lagerhallen sind seit dem Tag der Übernahme der Fabrik geschlossen und intakt. Die Frauen leben in den Eingangsbereichen und den Gängen.
Am 18. März hatte Präsident Nayib Bukele die viermonatige Schließung der 152 Maquilas (Textilfabriken, die ihre Produkte ohne Zahlung von Zöllen importieren und im Herkunftsland des Rohmaterials, in der Regel den USA, vermarkten) und Callcenter in El Salvador als eine der Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 angeordnet. Dies zwang die Fabriken dazu, den Betrieb einzustellen, die Produktion zu verzögern und die Löhne zu bezahlen, solange der Ausnahmezustand andauerte. Viele Maquilas haben ihre Zahlungen nicht geleistet. Darunter war auch Industrias Florenzi. Am 8. Juli verkündete ein Manager den mehr als 200 Arbeiterinnen, dass Florenzi bankrott sei.
Florenzis Besitzer und gesetzlicher Vertreter war Roberto Pineda, der am 12. Juni 2020 verstarb, mitten in der Pandemie. Vor Jahren war er auch Direktor des Club Campestre Cuscatlán, El Salvadors exklusivstem Gesellschaftsclub, in dem sich die Elite zum Golfspielen trifft. Sein Sohn Sergio Pineda hat sich bisher noch nicht zu einem Treffen mit den Arbeiterinnen bereit erklärt.
Nery Ramirez, 40, arbeitete sieben Jahre lang in der Maquila Florenzi. Sie nähte die Ausschnitte von Pierre Cardin-Blusen. Weil der Lohn nicht ausreichte, verkaufte sie in der Mittagspause Süßigkeiten. Jetzt ist sie die Anführerin der 113 Frauen. Sie nutzt ihr Haus zum Baden, Wäschewaschen oder Umziehen. Nachts schläft sie mit den anderen Frauen auf Matten in den Gängen von Florenzi.
Das Leben in der Maquila ist nicht komfortabel. Sie haben keine Möbel und leben auf Bänken oder Plastikstühlen. Fünf Frauen stehen Wache. Essen wird in kleinen Küchen und an Lagerfeuern auf dem Gehweg zubereitet.
Florenzis Übernahme begann mit dem Kampf um Arbeitsrechte von 113 Frauen und wurde zu einem Kampf, den die Arbeiterinnen als feministisch definieren. Sie hören Vorträge, die von feministischen Kollektiven wie der Organisation Ormusa geleitet werden, die sich angeschlossen haben, um ihrer Sache einen Gender-Fokus zu geben. "Da wir gelernt haben, die Muster der Gewalt zu durchbrechen, verstehen viele Frauen jetzt, dass sie keine Objekte oder Sklaven im Haus sind, und jetzt wollen die Ehemänner nicht mehr, dass sie zurückkommen", sagt Nery Ramírez.
In El Salvador hat sich die zeitgenössische feministische Mobilisierung mehr auf den Kampf für reproduktive Rechte konzentriert. Doch als Kayla Cáceres von der kollektiven Vereinigung Amorales von Florenzis Situation hörte, fühlte sie sich angesprochen. Cáceres brachte die Geschichte vor das Amorales-Kollektiv und der Fall begann, unter feministischen Gruppen Kreise zu ziehen. Organisationen wie Ormusa und das Netzwerk der Menschenrechtsverteidigerinnen fingen an, regelmäßig in die Maquila zu gehen, bis sie zu ihren größten Verbündeten wurden. Auf diese Weise lernten die 113 Frauen, sich bei den Protesten zu organisieren, ihr Anliegen bekannt zu machen und zu verstehen, wie wichtig die politische Begleitung ist.
Am 17. August protestierten rund 40 ehemalige Angestellte gegen Arbeitsminister Rolando Castro. Sie argumentierten, der Minister habe den Eigentümer der Maquila geschützt und nicht ihre Interessen. Sie stoppten den Verkehr im Regierungszentrum, nur wenige Kilometer vom historischen Zentrum El Salvadors entfernt. Der Minister zeigte sich während der Proteste nicht. Castro behauptete, dass das Arbeitsministerium nicht über "genügend rechtliche Mittel" verfüge, um ihnen zu helfen, und dass der Prozess bereits vor Gericht sei. Hätte der Minister die Forderungen der 113 früher erfüllt, hätte ihr Protest nicht das gerichtliche Stadium erreicht.
Am 28. August gab es ein Treffen mit Parlamentsabgeordneten im Arbeitsausschuss. Die Meinung war einhellig: Sie empfahlen dem Arbeitsminister, die Rechte der Arbeiterinnen zu verteidigen.
Aufgrund des Drucks der Kollektive und in den sozialen Netzwerken versprach die Ministerin für Wohnungswesen, Michelle Sol, am 22. September, sich mit den 113 Arbeiterinnen zu treffen, ihnen Essen zu bringen und ihnen zuzuhören. Sie ist nicht gekommen. Sie schickte 90 Tüten mit Lebensmitteln, zusammen mit einem Team mit einer Videoausrüstung, das Aufzeichnungen machte, um in den sozialen Netzwerken zu zeigen, dass ihr Ministerium eine Spende überbrachte.
In den vergangenen vier Monaten reichten die 113 Frauen Beschwerden bei der Staatsanwaltschaft und dem Arbeitsministerium ein, besuchten Regierungsstellen und protestierten. Für die Arbeiterinnen von Florenzi ist die Beschlagnahmung ein Kampf für ihre Rechte und für Gerechtigkeit. Nicht alle halten die Belastung durch. Von den ursprünglich 113 sind jetzt noch 106 übrig.