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Autonomistische Wahlberichterstattung

Bolivien: Wahlbeteiligung Nebensache?

Zum kleinen Einmaleins der journalistischen Wahlberichterstattung gehört es, dass neben dem Endergebnis auch die Höhe der Beteiligung genannt wird. Andernfalls lässt sich nicht einschätzen, wie das Resultat zu werten ist. Das ist gerade in Deutschland wichtig, wo die Medien fast ausschließlich mit Prozentzahlen arbeiten. Aber als am Montag und Dienstag die News über das Pseudo-Referendum in Santa Cruz (Bolivien) über die Ticker und Nachrichtenportale gingen, suchten die interessierten Leser vergeblich nach diesen Vergleichsdaten. Der Sonderberichterstatter der spanischen Tageszeitung El País sprach von einer "überwältigenden Teilnahme" und überließ es seinen Lesern, sich die dazu passenden Daten zu denken. Auf der Webseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) war zunächst zu lesen : "Wählernachfragen deuteten darauf hin, dass bis zu 85 Prozent für den Autonomievorschlag stimmten." Über die Beteiligung hieß es unter Berufung auf Boliviens Präsidenten Evo Morales: "Wer die 39 Prozent Nichtwähler, die Nein-Stimmen und die ungültigen Stimmen zusammenzähle, komme auf 50 Prozent der Wahlberechtigten, die nicht für die Autonomie gestimmt hätten." Aber Morales ist – vom journalistischen Standpunkt aus betrachtet - keine objektive Quelle, da das Referendum gegen ihn gerichtet war. Als eine neutrale Institution hätte man den "Landeswahlleiter" oder das bolivianische Wahlgericht anerkennen können. Aber letzteres – und nicht der Präsident, wie die europäische Presse behauptet - hat die Abstimmung als illegal eingestuft. Es ist offen gestanden ein Armutszeugnis für die Organisatoren einer Volksbefragung und ihre medialen Unterstützer, wenn sie das "Endergebnis" aus "Wählernachfragen" schöpfen müssen. Die hiesige Wahlberichterstattung über das Ereignis erfolgte, als ob darüber nur die Journalisten berichten durften, die in ihrem ganzen Leben an einer Wahl weder teilgenommen noch jemals darüber berichtet hätten. Vor diesem Hintergrund ist es unerheblich, wie viel Unterstützung die "Separatisten" um den Gouverneur von Santa Cruz bei ihrer Show eingefahren haben. Die genannten Zahlen sagen überhaupt nichts aus. Dasselbe Spielchen inszenierte die anti-chavistische Opposition im Frühjahr 2003, als sie Unterschriften sammelte, um ein Abwahlreferendum gegen Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez einzuleiten. Welch Wunder, in kürzester Zeit hatten sie doch tatsächlich die nötigen Unterschriften zusammen. Die oberste Wahlbehörde, der Nationale Wahlrat (CNE), ließ das Vorgehen gerichtlich überprüfen. Das Oberste Gericht stellte fest, dass die Unterschriftensammlung ungesetzlich war, da nur der CNE das Recht hat, Abstimmungen dieser Tragweite durchzuführen, so dass sie verbindlichen Charakter haben. Das Abwahlreferendum fand übrigens im August 2004 doch noch statt und endete mit einem triumphalen Sieg des Amtsinhabers. Man stelle sich vor, was hierzulande los wäre, wenn eine Organisation eine Wahl dieser Tragweite ohne Kontrolle durch den Landes- oder Bundeswahlleiter durchführen wollte. Aber die hiesigen Maßstäbe scheinen nicht für Bolivien zu gelten, wenn anscheinend in den Redaktionsstuben die Parole herausgegeben wurde, Morales notfalls von Zentraleuropa aus wegzuschreiben. Das "Horrorszenario", das anscheinend viele Journalisten umtreibt, beschreibt Carl D. Goerdeler in der österreichischen Zeitung "Die Presse" so: "Er [Morales, IN] will aus Bolivien einen sozialistischen Indio-Staat machen, in welchem die vielen indianischen Gemeinschaften, die im Grunde das Volk ausmachen, das Sagen haben, und nicht die Provinzen. In Santa Cruz bilden aber die Indigenen nur eine Minderheit." Sein Verweis, das Verfechter des Referendums, "mehr Autonomie nach dem Vorbild Spaniens" durchfechten wollten, ist falsch: die Dezentralisierung des faschistischen Staates mittels der Bildung "autonomer Gemeinschaften" war von Anfang an Bestandteil der Beratungen, die zur neuen Verfassung von 1978 führten. Aber eben diese neue Magna Carta blockiert die reiche Oligarchie, die ihr ökonomisches Heil in einem Separationsprozess sucht. An dieser Stelle sei es deutschen Medienschaffenden geraten, sich eingehend mit der Bedeutung der Begriffe "Selbstbestimmungsrecht (der Völker)", "Autonomie", "Unabhängigkeit" usw. auseinanderzusetzen, bevor sie sie willkürlich benutzen und noch mehr Chaos, denn Verständnis schaffen. Ihre Leser werden es ihnen danken.