Unterstützung für Vorschlag der Zapatisten, an Präsidentschaftswahl in Mexiko teilzunehmen

Stellungnahme der Grupo de Investigación en Arte y Política (Giap)

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EZLN-Mitglieder beim Nationalen Indigenen Kongress in San Cristóbal de Las Casas, Chiapas
EZLN-Mitglieder beim Nationalen Indigenen Kongress in San Cristóbal de Las Casas, Chiapas

Vorwärts Genossen !

Warum wir den Vorschlag des Nationalen Indigenen Kongress (CNI) unterstützen, einen indigenen Regierungsrat zu bilden, der eine indigene Frau als Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen 2018 bestimmt

Zuallererst möchten wir klarstellen, dass dieser Text eine Meinung darstellt – geschrieben von Anhängern der Sexta 1 und ohne jegliche Intention, diese breite und heterogene Konstellation repräsentieren zu wollen. Wir möchten einige vorläufige Gedanken zu dem überraschenden, spannenden, ambitionierten und revolutionären Vorschlag des CNI (konzipiert von der EZLN), an der Präsidentschaftswahl 2018 teilzunehmen, vermitteln. Dieser Vorschlag wird ohne Zweifel zu Debatten führen, befeuert von beispiellosen Horizonten des Denkens, der Aktion und der Organisation, die sich öffnen. In den Worten der Vorschlagenden dreht es sich darum, "eine Befragung bei unseren Völkern über das Lancieren einer indigenen Kandidatin als Repräsentantin des CNI und seinen Zielen und Kämpfen anzustoßen. Dies geschieht mit dem Ziel, dass unsere Kraft und Organisation mit einem antikapitalistischen Programm von unten und links wächst, indem wir einen indigenen Regierungsrat benennen, der sich an der Präsidentschaftswahl mit einer vorgeschlagenen Kandidatin beteiligen wird."

In den nächsten zwei Monaten werden die Völker, die dem CNI angehören, von ihren Repräsentanten über den Vorschlag informiert und dazu aufgerufen werden, ihn genau zu analysieren und zu besprechen, um zu einer endgültigen Entscheidung zu kommen. Die Zustimmung würde zum nächsten Schritt führen, das heißt zur Benennung eines indigenen Rates, der aus zwei Vertretern (eine Frau und ein Mann) aus jedem Volk, jeder Gemeinde und Organisation besteht, und zur Benennung einer indigenen Frau als Präsidentschaftskandidatin. Die Wahlkampagne würde am symbolischen Datum des ersten Januar2 beginnen. Ohne uns jetzt zu sehr über die technischen Details des Vorschlags auszulassen (für weitere Informationen achten Sie auf die Kommuniqués des CNI), bieten wir Ihnen unsere Sicht der Dinge an, mit der Hoffnung, dass wir, wie es der Sup 3 sagte, die Idee der Subversion ernst nehmen und ausgehend von unserem eigenen Herzen alles auf den Kopf stellen.

1. Von der Skepsis zur Überzeugung übergehen, dass das der richtige Weg ist – vielleicht der einzig vorhandene

Es ist so, Genossen und Genossinnen, dass eines der Gründungsprinzipien der Sechsten Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald besagt, dass weder eine emanzipatorische Aktion noch ein Zeichen von Würde von oben kommen kann, wo die Mächtigen Verachtung, Vertreibung, Ausbeutung und Repression organisieren. Die Macht des Staates ist korrupt und korrumpierend. In der jetzigen Konjunktur hat sich der Staat auf einen Apparat zur Konsolidierung der Hegemonie und Hyper-Mächtigkeit des Neoliberalismus, also des Kapitalismus unserer Zeit, reduziert. Damit wird mit neuen Strategien das gleiche Ziel wie immer verfolgt: die uneingeschränkte Akkumulation mittels Vertreibung, Ausbeutung und Spekulation. Die Regierungen der Staaten haben sich in das verwandelt, was Marx vor mehr als einem Jahrhundert erkannt hatte: in eine Junta, die die gemeinen Geschäfte der bürgerlichen Klasse verwaltet. Sie sind Delegierte der Macht des Kapitals. Aus Sicht der Sexta hält uns diese Situation dazu an, Organisationsformen und ein politisches Denken fernab der Macht von Staates/Kapital zu schaffen, und daher ebenso fernab von Parteien und traditionellen politischen Organisationen, die irreparabel vom System kooptiert worden sind – das ist das, was wir in unseren Räumen des Kampfes als Autonomie definieren.

Diese Zersetzung der Regierungen und der konventionellen Formen der Politik ist eine der Hauptursachen unseres Leidens; sie führt dazu, dass wir die Attacke des Kapitalismus derart grausam und unaufhaltsam erleben und wahrnehmen – weswegen wir ihn uns wie eine Hydra mit tausend Köpfen vorstellen, wo du einen Kopf abhackst und ein neuer wieder auftaucht. Allerdings ist die Verkommenheit des politischen Systems auch seine Schwäche, wie uns die Kommandantur der EZLN in der gestrigen Versammlung am 13. Oktober aufzeigte. Die Existenz eines demokratischen Regimes ist nichts als Fiktion, Spektakel; ein Betrug, den die Regierungen mit zunehmender Schwierigkeit nähren, angesichts des Panoramas eines internen Krieges und einem sozialen Niedergang, den die mexikanische Nation seit vielen Jahren erlebt und der immer mehr Gesellschaftsschichten betrifft. Wenn das politische System zur Schwachstelle der Macht geworden ist, dann müssen wir genau dort angreifen, und um dies zu tun muss man in Kontakt mit ihm treten und seinen Raum, sei es auch nur zeitweise, besetzen. Es handelt sich um eine strategische Frage, die uns zum zweiten Punkt führt.

2. Wir müssen die Theorie mit der Strategie aufmischen

Wir sind eine Anti-Parteien Bewegung mit einer Vorstellung und einem Verständnis von Macht, das der Allianz Staat-Kapital diametral (wir würden ontologisch sagen) gegenüber steht. Nichtsdestotrotz basiert die Politik der Emanzipation aber auf dem Konflikt. Es gibt keine Befreiung ohne Konflikt. Nennen wir es "Dialektik", "Antagonismus", "Rebellion", "Widerstand" etc., die Konfrontation begleitet jegliches politische Projekt, das sich als emanzipatorisch definiert. Wir verteidigen uns, weil der Feind sich auf unserem Territorium befindet – der Kapitalismus kolonisiert nicht nur unsere Räume, sondern jeden Aspekt bis hin zu den intimsten und subjektivsten unseres Lebens – aber im Moment des Angriffs sind wir es, die in das feindliche Territorium eindringen. In diesem Prozess vermischen wir uns mit ihm, wir eignen uns seine Waffen, seine Logiken und Dynamiken an, um sie gegen ihn selbst zu drehen. Das ist es, was die Zapatistas am 1. Januar 1994 taten, als sie sich als Armee konstituieren und sich das Terrain des Krieges, einer Logik der Zerstörung aneignen mussten, um den Formen des Vergessens, der Erniedrigung und Ausrottung entgegenzutreten, die die ursprünglichen Völker von Chiapas erlitten. Heute, und in einem politischen und sozialen Kontext der in vielen Aspekten dem von 1994 ähnelt, wird der Angriff im Feld der Regierungspolitik erfolgen – mit dem Ziel, die Politik zu revolutionieren – "man muss da zuschlagen, wo es dem System am meisten wehtut", sagte Galeano. Selbstverständlich beinhaltet die Strategie nicht, die Ideologie des System für gültig zu erklären; genauso wenig bedeutet sie eine Ablehnung der Ideen, die in der Sexta aufgeworfen wurden. Ziel ist es, einen breiten politischen Prozess hervorzubringen, der mit dem System des Todes, das uns derzeit regiert, Schluss macht.

3. Nochmals: es geht nicht um die Ergreifung der Macht, sondern um ihre Transformation

Die Genossen vom CNI und der EZLN haben sehr darauf beharrt, dass dies kein Wahl- oder typischer Politikervorschlag ist. Man beansprucht für sich weder das Wahlsystem, noch denkt man daran, eine neue politische Partei zu gründen. Klar ist auch, dass die EZLN nicht beabsichtigt, das zu verlieren, was sie seit ihrer Gründung aufgebaut hat. Dies ist ein Vorschlag, die Völker des CNI neu zu organisieren, neu zusammenzubringen und zu stärken, um ihre Präsenz auf nationaler Ebene zu zeigen und um die Formen der Selbstregierung, die die Völker mit den Jahren perfektioniert haben, einem breiteren Kontext gegenüberzustellen. "Es ist Zeit, dass wir uns wagen, dass wir vorwärtskommen", bekräftigen die Delegierten. Das Empfinden, das die Vorschlagenden teilen, ist, dass diese neue politische Strategie einen Impuls, eine Evolution der nationalen politischen Situation hervorrufen kann, die einen Ausweg aus der aktuellen tragischen Situation im Land ermöglicht. Der Prozess der Bildung eines indigenen Regierungsrates könnte neue Formen der Interaktion zwischen den Völkern schaffen und eine erste Vorstellung einer neuen politischen Subjektivität geben.

4. Wir müssen zum Gegenangriff übergehen

Seit langer Zeit leisten die ursprünglichen Völker Mexikos Widerstand und versuchen, ihre eigenen Organisationsformen und Lebensweisen zu verteidigen. Im Laufe der Jahre hat der CNI als Plattform fungiert, auf der sich Völker, Gemeinden und Organisationen gegenseitig spiegeln und die gemeinsame Natur ihrer Leiden anerkennen konnten. Der Kongress hat einen wichtigen Raum des Sich-Mitteilens und des Anprangerns geschaffen, aber dies hat zu keinem strukturellen Wandel geführt. Laut der Analyse der Vortragenden hat die quasi Abwesenheit wirklicher Fortschritte zu Stagnation und Zermürbung innerhalb der Organisation geführt. "Es ist jetzt Zeit, nicht an die Schmerzen zu denken, uns nicht nur zu verteidigen, sondern zum Gegenangriff überzugehen", bekräftigte Subcomandante Galeano vor 360 Delegierten, 80 Gästen und mehr als 400 Anhängern der Sexta. Die "schlafende" Kraft, die den CNI zurückhält ist enorm und es ist wichtig sie proaktiv zu organisieren. "Die Kraft, die erwachen wird, ist so groß, wir wir es uns gar nicht vorstellen können", "was wir vorfinden werden, wird noch mehr hergeben", betonte der Sup. In dieser Hinsicht fordert der Vorschlag die Opferrolle und Passivität heraus: "Es ist die Macht von unten, die uns lebendig gehalten hat und ihretwegen bedeutet das Gedenken an Widerstand und Rebellion auch, unsere Entscheidung zu bestätigen, weiterhin lebendig die Hoffnung auf eine mögliche Zukunft aufzubauen, einzig und allein auf den Ruinen des Kapitalismus", heißt es in dem Kommuniqué des CNI.

5. Der Sturm wird heftiger werden, wir müssen uns vorbereiten

Ohne Zweifel wird ein Prozess dieser Art eine gewaltsame Reaktion der Kräfte hervorrufen, die derzeit das Leben der Mexikaner regieren. Wir sprechen nicht nur von der Regierung, sondern von einer Überlappung von staatlichen Einrichtungen, organisiertem Verbrechen und privaten Organisationen. Die Synergie dieser Kräfte ist äußerst fließend und tendiert dazu, sich in gemischten Machtgruppen zu kristallisieren, die auf lokaler Ebene mit einem hohen Grad an Unabhängigkeit und Straffreiheit agieren. Diese Allianzen der Macht haben unterschiedliche Größen und neigen dazu, sich rings um ökonomische Interessen zu gruppieren, die in bestimmten Gebieten zur Verfügung stehen. Zum Beispiel die Energiereform, die ungefähr ein Viertel der nationalen Fläche an die Bergbauindustrie vergeben hat, hat eine Unzahl solcher Interessensorte geschaffen. Viele dieser Ländereien werden derzeit von indigenen Gemeinschaften kontrolliert oder sind Gemeindeland und der Vertreibungsprozess hat zu einer Welle der Gewalt gegen sie geführt. Die Mobilisierung dieser Gemeinden hin zu ihrer kollektiven und emanzipatorischen Beteiligung am Wahlprozess 2018 wird das Repressionsniveau durch militärische und paramilitärische Gruppen sogar noch verstärken. Viele Delegierte des CNI haben Ihre Besorgnis diesbezüglich ausgesprochen, man befürchtet, dass es bereits ab dem Befragungsprozess zu Gewalttätigkeiten kommen könnte. Sie fordern deshalb die Ausarbeitung von Sicherheitsvorkehrungen. Neben der physischen Gewalt ist leicht vorhersehbar, dass es eine absolut feindliche Medienkampagne gegen dieses politische Projekt geben wird: die Organisatoren werden beschuldigt werden, unpassend zu sein, und ihnen werden alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt werden, damit die Kampagne scheitert, einschließlich vonseiten der Linken und der Intellektuellen.

Auch wenn die Kommandantur der EZLN bekräftigt hat: "Wir verlieren mit euch oder wir gewinnen mit euch", denken wir, dass diese Situation trotz der Hindernisse und Gefahren eine Win-win Situation ist. Ob man bei den Wahlen gewinnt oder nicht, es geht vor allem um den durch die indigenen Völker Mexikos in Gang gesetzten politischen Prozess, der Auswirkungen auf die gesamte Zivilgesellschaft haben und einen radikalen Wandel begünstigen oder dafür zumindest die Basis schaffen wird.

15. Oktober 2016

  • 1. Eine lose mexikoweite und internationale Struktur, die sich um die Sechste Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald mobilisiert und organisiert, die im Juni 2005 von der EZLN veröffentlicht wurde
  • 2. Am 1. Januar 1994 führte die EZLN ihren bewaffneten Aufstand im Bundesstaat von Chiapas durch
  • 3. Kollegiale Abkürzung für Subcomandante Insurgente; gemeinhin wird sich damit auf Subcomandante Marcos bzw. Galeano bezogen
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