Am 15. und 16. September wurde die Menschenrechts-Bilanz der Regierung von Chile in Genf/ Schweiz vom 18-köpfigen Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen (UNCESCR) unter Vorsitz von Preeti Saran (Indien) überprüft.
Seitens der Zivilgesellschaft nahmen die chilenische Ethikkommission gegen Folter, die Bewegung für Wasser und Territorien (MAT), die Beobachtungsstelle für Umweltkonflikte (OLCA), das Zentrum Ecoceanos und das Bündnis "Chile Mejor sin TLC" (Chile besser ohne Freihandelsverträge), allesamt Mitglieder des "Espacio Día a Día por Julia Chuñil" (Netzwerk gegen das gewaltsame Verschwindenlassen der indigenen Mapuche-Anführerin Julia Chuñil), sowohl an der Ausarbeitung von zivilgesellschaftlichen Schattenberichten als auch an der Vorbereitung der offiziellen Prüfung in zwei virtuellen Sitzungen mit dem UN-Ausschuss teil.
Die Antworten der chilenischen Ministerin für soziale Entwicklung, Javiera Toro, die von Vertretern und Beamten der drei Staatsgewalten abgeschirmt wurde, wichen ständig vom Kern der Fragen ab oder argumentierten mit Halbwahrheiten. Auf dieser Grundlage haben die Organisationen der Zivilgesellschaft die Reaktion der Regierung abgelehnt und mit einer roten Note bewertet.
Der unabhängige Parallelbericht der Zivilgesellschaft in spanischer und englischer Sprache ist auf der Website des UNCESCR-Ausschusses verfügbar.
Die Berichterstatterin des UNCESCR für Chile, Karla Vanessa Lemus aus El Salvador, befragte Ministerin Javiera Toro zunächst zu den aktuellen Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen von indigenen- und Umweltaktivisten. In ihrer Antwort bezog sich die Ministerin jedoch nur auf die Aufgabe des Nationalen Suchplans (für während der Diktatur 1973-1990 verschwundene Häftlinge) und ignorierte dabei völlig die Fälle, die sich seitdem in der Demokratie ereignet haben. Demgegenüber beginnt der unabhängige Bericht der fünf Organisationen des Netzwerks "Día a Día por Julia Chuñil", der dem Ausschuss seit August 2025 vorliegt, mit dem Fall des gewaltsamen Verschwindens der Mapuche-Führerin der Gemeinde Putreguel (8. November 2024) und prangert anschließend den Rückschritt an, der aktuell in Sachen sozialer und ökologischer Menschenrechte in Chile zu verzeichnen ist.
Die Ministerin wandte sich an Senatspräsident Juan Antonio Coloma, die Staatssekretärinnen für Menschenrechte, Daniela Quintanilla, und für Gesundheit, Andrea Albagli, an den Obersten Gerichtshofs-Vorsitzenden Minister Leopoldo LLanos und Alex Soto, Berater des Obersten Gerichtshofs, sowie an einen Berater des Arbeitsministeriums, um ihre Aussagen zu verschiedenen Themen zu untermauern. Der Senatspräsident und die konsultierten Beamten stellten eine umfangreiche Auflistung von Gesetzen und öffentlichen Maßnahmen in den verschiedenen fraglichen Bereichen zusammen und versprachen, Zahlen und ergänzende Daten für eine zukünftige Antwort vorzulegen.
Die Mängel der indigenen Konsultation
Die Fragen der Mitglieder des UNCESCR griffen Beschwerden von dem Netzwerk "Espacio Día a Día por Julia Chuñil" und Organisationen indigener Völker hinsichtlich der Mängel am derzeitigen System der Konsultation von Indigenen in Chile auf, da die Ergebnisse nicht bindend sind und die Rechte der indigenen Gemeinschaften auf ihre angestammten Gebiete ständig verletzt werden. Angesichts der Tatsache, dass nach der aktuellen chilenischen Gesetzgebung eine Zustimmung der lokalen Gemeinschaften für die Genehmigung von Projekten zur Rohstoffextraktion nicht erforderlich ist, erklärte Ministerin Toro, dass es nun an der Obersten Rechnungsprüfungsbehörde der Republik liege, über die Verbindlichkeit oder Nichtverbindlichkeit der Konsultationen zu entscheiden.
Die Ministerin beantwortete die Frage der Berichterstatterin Lemus nicht, welche Wiedergutmachung oder Entschädigung für die Genehmigung des Rucalhue-Wasserkraftwerks- und Staudammbaus (Provinz BioBío) durch den Staat ohne Einhaltung der internationalen Verpflichtungen gegenüber dem Volk der Pewenche aus Alto BioBío erfolgen sollte.
Ebenso wich Javiera Toro den Fragen des Experten Santiago Fiorio aus Paraguay, Mitglied des Ausschusses, aus, ob es eine Konsultation der indigenen Bevölkerung im Fall des Projekts des norwegischen Energieunternehmens Statkraft in der Region Los Lagos sowie in anderen für das Volk der Mapuche spirituell bedeutsamen Projekten gegeben habe, ob in diesem Zusammenhang Personen festgenommen worden seien und wo sich diese derzeit befänden. Ministerin Toro verwies die Beantwortung an den Berater Alex Soto, der lediglich ein Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2022 erwähnte, demzufolge die Konsultation der indigenen Bevölkerung durchgeführt werden muss, auch wenn die Auswirkungen nur potenzieller Natur sind.
In ihrer Antwort auf die Frage zu den Auswirkungen auf die indigene Bevölkerung und die Biodiversität infolge der Projekte zur Lithiumgewinnung in der Atacama-Wüste beschränkte sich Ministerin Toro darauf, die Existenz des sogenannten Netzwerks geschützter Salare (Red de Salares Protegidos) zu erwähnen und darauf hinzuweisen, dass die indigenen Konsultationen dem Sondervertrag über den Betrieb von Salaren und Lithium (CEOSL) zwischen den staatlichen Unternehmen Codelco und ENAMI sowie dem Vertrag zwischen Soquimich und CORFO, einer dem Wirtschaftsministerium unterstellten Einrichtung, zugestimmt hätten.
Der Berater des Obersten Gerichtshofs, Alex Soto, unterstützte die Aussage der Ministerin über die erklärte Achtung des chilenischen Staates gegenüber dem Menschenrecht auf Zugang zu Wasser. Soto veranschaulichte die Einhaltung dieses Rechts mit der Versorgung der Gemeinden durch die Kommunen, die eine Wasserration in Tankwagen erhalten, und verwies auf das Urteil der Gerichte, das den Einwohnern der Ortschaft Nogales in der Region Valparaíso das Recht auf 200 Liter Wasser pro Person zusprach.
Energiewende, Wasser und Opferzonen
Weitere Probleme, die im zivilgesellschaftlichen Parallel-Bericht aufgeführt und vom UN-Ausschuss aufgegriffen wurden, waren: Die Situation benachteiligter Gruppen wie Frauen in ländlichen Gebieten, die in familiären Kleinbauernbetrieben arbeiten, und die Wasserknappheit; Kinder und indigene Gemeinschaften angesichts der aktuellen Energiewende und des Rohstoffabbaus; die Wasserkrise und die Verschmutzung durch giftige Substanzen in "Opferzonen" (Gebiete, die von einer Konzentration umweltverschmutzender Industrien wie Wärmekraftwerken, Energie- und Kraftstoffkomplexen betroffen sind, die die Umwelt schädigen und die Gesundheit der Einwohner durch häufige Vergiftungen mit Schwefeldioxid und Feinstaub beeinträchtigen) wie Quintero und Calama.
Auf die Fragen der Expertin Charafat el Yedri Afailal aus Marokko und der Berichterstatterin Karla Lemus de Vásquez sowie der Experten Santiago Fiorio aus Paraguay und Michael Windfuhr aus Deutschland berief sich Ministerin Javiera Toro erneut auf vereinzelte Urteile des Obersten Gerichtshofs. Diese hatte ihr Berater erwähnt. Außerdem bezeichnete sie die Vorschriften des Systems zur Umweltverträglichkeitsprüfung (SEA) als "Garantie für den Schutz der Umwelt und der Gemeinden", wobei sie jedoch verschwieg, dass die Regierung im Parlament eine Änderung dieser Vorschriften vorantreibt. Dieser Gesetzgebungsprozess, von den Unternehmern als "Genehmigungsprojekt" bezeichnet, wird von zivilen Organisationen als "ökologische Kettensäge" bezeichnet, da er die Genehmigungsverfahren für riesige Investitionsprojekte erleichtert und nationalen und transnationalen Investoren mehr Garantien bietet, zum Nachteil der Gemeinden, ihrer Territorien und ihrer Gemeingüter.
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Auf die Frage der UN-Berichterstatterin nach der Reform des Wassergesetzes (2022) und dessen Zusammenhang mit der Privatisierung dieses natürlichen Gemeinguts befragt, behauptete die Ministerin, dass diese Reform klarstelle, dass Wasser ein Gut für den öffentlichen Gebrauch sei. Verschwieg dabei jedoch, dass es weiterhin den Status einer Ware hat und die geringen Fortschritte nur für die Vergabe neuer Wasserrechte gelten. Ministerin Toro erklärte auch, dass die Lösung für die Wasserkrise in Entsalzungsanlagen liege, ohne jedoch auf den derzeitigen Mangel an Vorschriften für diese Anlagen oder die schweren Umweltschäden einzugehen, die sie sowohl für die Küstenumwelt als auch für deren Artenvielfalt verursachen.
Was die Auswirkungen der Bergbauunternehmen auf die Wasserkrise angeht, beschränkte sich die Ministerin für soziale Entwicklung darauf, das Mantra zu wiederholen, dass der Staat die Ziele der nationalen Bergbaupolitik überwachen werde. Dies beinhalte die Beteiligung der Unternehmen dieser Branche an der Bewirtschaftung von Wassereinzugsgebieten und dem Schutz von Gletschern. Später prahlte die Ministerin, dass das Klimawandelgesetz die Antwort auf die vorgebrachten Bedenken sei.
In Bezug auf das Alto-Maipo-Wasserkraftprojekt in der Metropolregion versicherte sie, dass einige Anpassungen vorgenommen worden seien und dass Alto Maipo "voll funktionsfähig" sei, obwohl das Projekt nach dem fünften Einsturz eines Tunnels Ende 2024 stillgelegt wurde und erst im Dezember 2025 oder im Laufe des nächsten Jahres wieder aufgenommen werden soll.
Auf die Frage nach der Umsetzung von Konzepten wie "Sorgfaltspflicht" und den Leitprinzipien für Menschenrechte für Unternehmen musste Javiera Toro einräumen, dass es noch keinen entsprechenden Gesetzentwurf gibt, und wiederholte beharrlich, dass sie interministerielle Instanzen zur Schulung von Beamten vorantreiben, um Verpflichtungen wie z.B. die aus der Verabschiedung des Escazú-Übereinkommens (regionales Umwelt- und Menschenrechtsabkommen für Lateinamerika) zu fördern.
Die Anfrage der UN-Berichterstatterin Karla Lemus bezog sich darauf, wie der chilenische Staat im Kontext des anhaltenden Ausnahmezustands, der das Gebiet der Mapuche betrifft, die Achtung der Rechte dieses indigenen Volkes gewährleistet und welche Beschwerdemechanismen es in dieser Hinsicht gibt. Daraufhin berief sich Ministerin Toro auf eine angebliche Kriminalität der Mapuche, um die Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands zu rechtfertigen. Sie versicherte, dass die Menschenrechte respektiert würden, und behauptete sogar, dass das sogenannte "Friedensabkommen", das derzeit von den indigenen Völkern konsultiert wird, den besten Schutz dieser Rechte darstelle, zusammen mit dem Programm "Buen Vivir" (Gutes Leben), das in dieser militarisierten ländlichen Zone vorangetrieben wird. Die Ministerin vermied es, die massive Ablehnung dieses "Friedensabkommens" zu erwähnen, das von den Gemeinden des Mapuche-Volkes als Rückschritt in der Anerkennung der historischen Schuld des chilenischen Staates für die Usurpation von Land angesehen wird.
Die UN-Berichterstatter:innen gingen nicht näher auf andere seitens der Zivilgesellschaft problematisierte Themen ein, wie die Untätigkeit der Generaldirektion für Wasser angesichts von Beschwerden über Missbräuche von Unternehmen gegenüber Kleinbewässerer:innen, die schwerwiegenden Folgen des Forstindustriemodells oder die verheerenden Auswirkungen auf die marine Biodiversität, die sich aus der raschen territorialen Expansion der Lachszuchtindustrie in den Gebieten der Mapuche und in der chilenischen Patagonien ergeben. Hinzu kommen die ausgeprägte Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und das Vorhandensein internationaler Sicherheitsstandards in einer Industrie, die einen traurigen Weltrekord aufweist: 82 Todesfälle von Arbeitnehmer:innen– hauptsächlich Taucher:innen – bei Arbeitsunfällen zwischen 2013 und 2025.
Der chilenische Staat räumte vor dem UN-Ausschuss ein, dass er nicht beabsichtigt, die Ratifizierung des UN-Fakultativprotokolls über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte voranzutreiben, und begründete dies damit, dass er dies im Rahmen seiner Mitgliedschaft in der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) als Mitglied der OAS bereits für das Protokoll von San Salvador getan habe.
Obwohl Ministerin Javiera Toro behauptete, dass dieses Protokoll für Chile verbindlich sei, versäumte sie es zu erwähnen, dass die CIDH selbst dringende Vorsichtsmaßnahmen wegen des gewaltsamen Verschwindens der indigenen Mapuche-Umweltaktivistin Julia Chuñil Anfang November 2024 (Anm. d. Red.: Hintergrund ist ein Konflikt um indigenes Land – und ein Unternehmer mit deutschen Wurzeln, Juan Carlos Morstadt Anwandter) erlassen musste, um eine Beschleunigung der Suche sowie den gebührenden Respekt und die Unterrichtung der Familie der Mapuche-Führerin zu fordern.
Die unterzeichnenden Organisationen des unabhängigen Berichts an den UNCESCR-Ausschuss werden sich weiterhin für Wahrheit und Gerechtigkeit für Julia Chuñil einsetzen, indem sie den Fall genau verfolgen und diese Beschwerden über die Gefahren, denen Umwelt- und Indigenenverteidiger:innen ausgesetzt sind, auf allen bestehenden internationalen und nationalen Ebenen vorbringen, angesichts des gravierenden Rückschritts bei den Menschenrechten, den die Völker Chiles derzeit erleben.
Die Pressemitteilung der UNO in Genf zu dieser Veranstaltung, die nur auf Englisch und Französisch verfügbar ist, kann online abgerufen werden.
Autor:innen der Analyse:
Ethikkommission gegen Folter Bewegung für Wasser und Territorien (MAT)
Lateinamerikanisches Observatorium für Umweltkonflikte (OLCA)
Zentrum Ecoceanos und Chile Mejor sin TLC (Chile besser ohne Freihandelsabkommen)
Alle Mitglieder des Netzwerks Espacio Día a Día por Julia Chuñil (Tag für Tag für Julia Chuñil)
