Massenproteste in Argentinien gegen Strafnachlass für Täter der Militärdiktatur

Menschenrechtsgruppen, Anwälte, Gewerkschaften, soziale Organisationen und politische Parteien einig gegen vorzeitige Freilassung

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Podium bei der Großkundgebung auf dem Plaza de Mayo in Buenos Aires am 10. Mai
Podium bei der Großkundgebung auf dem Plaza de Mayo in Buenos Aires am 10. Mai

Buenos Aires. In der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires haben am 10. Mai rund eine halbe Million Menschen gegen eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes protestiert, die verurteilten Tätern der Militärdiktatur (1976 ‒ 1983) in Zukunft eine Reduzierung ihrer Haftstrafen ermöglichen sollte. Auch in zahlreichen weiteren Städten inner- wie außerhalb Argentiniens wurden Protestveranstaltungen abgehalten. Menschenrechtsgruppen hatten dazu aufgerufen und wurden von Gewerkschaften, sozialen Organisationen und Vertretern sämtlicher politischer Lager unterstützt.

Das Gericht hatte in seinem mit einer Mehrheit von drei zu zwei Stimmen gefällten Urteil die Anwendbarkeit des Gesetzes 24.390 auch in Fällen von Menschenrechtsdelikten ermöglicht. Das auch als "Ley 2x1" bekannte Gesetz war lediglich von 1994 bis 2001 in Kraft, um Strafprozesse zu beschleunigen und die damals überfüllten Gefängnisse zu entlasten. Es sah vor, eine länger als zwei Jahre dauernde Untersuchungshaft in doppelter Höhe von dem verhängten Strafmaß abzuziehen. Das jetzige Urteil öffnete diese Möglichkeit des Strafnachlasses nun erstmals auch für rechtskräftig verurteilte Täter der Militärdiktatur. Es steht damit im Konflikt zur Tatsache, dass diese während des Wirkungszeitraums des Gesetzes 24.390 durch diverse Amnestiegesetzte vor rechtlicher Verfolgung geschützt waren. Infolge des Urteils hätten nun 278 wegen Menschenrechtsdelikte verurteilte Täter die Möglichkeit, Strafnachlass zu beantragen, so die Staatsanwaltschaft für Verbrechen gegen die Menschheit.

Sofort nach Bekanntwerden der Entscheidung formierte sich breiter gesellschaftlicher Widerstand. Das Colectivo Nacional Mario Bosch, ein Zusammenschluss argentinischer Menschenrechtsanwälte, sprach von einem rechtswidrigen Urteil, das gravierende Konsequenzen für die laufenden Strafprozesse und sämtliche Urteile der vergangenen zehn Jahre hätte. Es bedeute eine "Schwächung der staatlichen Verpflichtung zur Vermeidung, Untersuchung, Bestrafung und Wiedergutmachung von Verbrechen gegen die Menschheit." Zugleich wurden gegen jene drei Höchstrichter, die es ermöglichten, von mehreren Seiten Strafanzeigen eingebracht. Staatsanwalt Guillermo Marijuán leitete mittlerweile Untersuchungen ein. Mehrere Richter weigerten sich zudem, dem Urteil der Höchstrichter zu folgen und lehnten entsprechende Anträge auf Strafnachlass bereits ab.

Auch international sorgte das Urteil für Aufsehen. Das Hochkommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen betonte, dass sich die argentinische Justiz nicht über die ratifizierten internationalen Standards für die Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschheit hinwegsetzen könne. In ähnlichem Sinn äußerte sich der bekannte spanische Richter Báltazar Garzón. Zudem wies er auf zahlreiche technische Fehler im Urteil der Höchstrichter hin.

Angesichts der massiven Proteste haben sich mittlerweile sämtliche politischen Lager gegen das Urteil ausgesprochen. Die beiden Kammern des Kongresses verabschiedeten mit lediglich einer Gegenstimme im Repräsentantenhaus ein Gesetz, das die die Anwendung des Gesetzes 24.390 in Fällen von Menschenrechtsverletzungen untersagt.

Kritiker der Regierung weisen jedoch darauf hin, dass zwei der drei obersten Richter, die für das Urteil stimmten, von Präsident Mauricio Macri vorgeschlagen wurden. Er hatte ursprünglich versucht, diese per Dekret einzusetzen, musste jedoch später dem öffentlichen Druck nachgeben und den Kongress einbeziehen. Die dritte Pro-Stimme kam von Richterin Elena Highton de Nolasco, die aufgrund ihres Alters verfassungsgemäß ihre Pension hätte antreten müssen. Kurz vor dem umstrittenen Urteil hatte sie den Antrag auf ihren Weiterverbleib gestellt, dem die Regierung nicht widersprach.

Der Menschenrechtsanwalt Pablo Llonto sagte dazu, dass dieses Urteil aufgrund von früheren Aussagen der regierungsnahen Richter absehbar gewesen sei. Für ihn sei es Teil der Politik Macris, "um die Strafprozesse zu behindern und den Repressoren Freiheit zu gewähren." Die Regierung versuche es mit unterschiedlichen Mitteln, "eines davon ist der Oberste Gerichtshof“, so Llonto.

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